Praxis Kinderzahn
Kinder sind keine kleinen Erwachsenen, sondern haben ihre eigenen ganz speziellen Bedürfnisse. Das gilt auch und gerade beim Zahnarzt. Als ein eigenständiger Zweig der Zahnheilkunde hat sich daher die Kinderzahnheilkunde für Kinder von drei bis sieben Jahren sowie für ängstliche ältere Kinder herausgebildet. In aller Regel ist die Kinderzahnheilkunde in den normalen Praxisbetrieb integriert. Eher selten finden sich dagegen reine Kinderzahnarztpraxen, in denen neben der Verhaltensführung, der zahnmedizinischen Versorgung und der zahnmedizinischen Ausstattung auch die Raumgestaltung durchgehend auf die Bedürfnisse von Kindern ausgerichtet ist. Dabei liegt der Vorteil eines solchen Konzepts auf der Hand. Denn wer keine Rücksicht auf den Geschmack von Erwachsenen zu nehmen braucht, dem bieten sich völlig andere Möglichkeiten der Innenraumgestaltung – vom Empfang über den Wartebereich bis zu den Behandlungsräumen. Und der kann sich darauf konzentrieren, ein freundliches und kindgerechtes Ambiente zu schaffen, in dem Angst vor dem Zahnarzt möglichst gar nicht erst entsteht.
Der Fantasie sind bei der Gestaltung der Kinderzahnarztpraxis im Prinzip keine Grenzen gesetzt. Nur kindgerecht muss es sein. Denn in einer freundlichen und angstfreien Atmosphäre fällt es vielen Kindern und mit ihnen ihren Eltern deutlich leichter, die notwendigen Vorsorgetermine wahrzunehmen. Wie wichtig diese Untersuchungen gerade bei Kindern sind, beweist ein Blick auf die Statistik: Denn laut Bundesverband der Kinderzahnärzte werden die meisten Kinder erst ab einem Alter von etwa acht Jahren behandelt. Und das, obwohl sie bei Karies bereits im Alter von vier Jahren im Durchschnitt drei bis vier Löcher haben. Durch regelmäßige Vorsorgeuntersuchungen und Behandlungen könnten viele dieser Fälle vermieden werden. Und wer sagt denn, dass Kinder Angst vorm Zahnarzt haben müssten?
Mit dem Bus auf Safari
Ein gelungenes Gestaltungskonzept, in dem die Kinder ihre Angst schnell vergessen können, zeigt die Praxis von Levin Jilg in Hannover. In den Räumen des „Löwenzahnarztes“ werden die Kinder auf eine phantasievoll und mit klaren Formen und Farben gestal tete Safarireise in die afrikanische Savanne entführt. „Direkt in der Nähe unserer Praxis liegt der Zoo in Hannover“, erklärt Praxis inhaber Levin Jilg das Konzept. „Die Kinder, die zu uns kommen, kennen sich dort meist bestens aus. Deshalb haben wir beschlossen, etwas von der Atmosphäre des Zoos auf unsere Praxis zu übertragen.“ Empfangen werden die kleinen Patienten dementsprechend durch ein großes Empfangsmöbel, das stilecht als gelber Safari-Bus Marke VW mit Reifen, Scheinwerfern, schmaler Kühlerniere, Stoßstange, Kennzeichen und Windschutzscheibe gestaltet wurde. „Mithilfe des Busses fällt es den Kindern leicht, in ihrer Phantasie auf Reise zu gehen und zu vergessen, dass sie eigentlich beim Zahnarzt sind“, so Jilg. Der Stufenabsatz entlang der Seitenfront bietet ihnen außerdem die Möglichkeit, der „Busfahrerin“ bei ihrer Arbeit zuzusehen.
Direkt neben dem Empfang können die Kinder mit Münzen der Zahnarzthelferin kleine Überraschungskugeln aus einem Automaten ziehen, beim Umdrehen werden sie erwartungsvoll von einem Löwen angeblickt. In gegenüberliegender Richtung schließt sich der offen einsehbare und lediglich durch eine Glastür vom Empfangsbereich getrennte Wartebereich der Praxis an. Abwechselnd dunkelbraun und olivgrün gestaltete Sitzquader, ein Fenster mit Lianen sowie ein Aquarium in der Wand zum Empfangsbereich führen hier die Illusion der Safarireise fort.
Konsequent kindgerecht und farbenfroh präsentieren sich anschließend auch die Behandlungsräume der Praxis. Einer der Räume wurde dabei mit hellgrünen Wänden und Möbeln sowie mit einer Herde von Zebras und Giraffen gestaltet. In einem anderen treffen die kleinen Patienten dagegen auf dunkelgelb gestaltete Wände, auf denen ein Kängeruh mit seinem neugierig aus seinem Bauch hervorblickenden Jungen die bevorstehende Behandlung vergessen lässt. Oder sie begegnen einem Elefanten mit seinem Jungen. Bislang stehen in der Praxis vier Behandlungsräume zur Verfügung. „Demnächst wollen wir aber noch sechs weitere Zimmer einrichten“, so Levin Jilg. „Als Erweiterung unseres bisherigen Konzepts wollen wir dabei ein Elfen-, ein Ritter- und ein Prinzessinnenzimmer gestalten.“
Zu Besuch bei Nemo
Ähnlich große Abenteuer wie der Löwenzahnarzt in Hannover hält auch die Praxis Isartor in München bereit. Die Praxis gehört zu der auf Mund- und Kieferchirurgie spezialisierten Fachklinik Isartor, bei der neben einer Abteilung für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie sowie Kieferorthopädie auch eine Kinderzahnarztpraxis integriert ist. Dabei wurde ganz bewusst eine eigene Kinderwelt eingerichtet. „Kinder sind von Natur aus sehr offen und neugierig“, so Praxisinhaber Holger Kasten. „Deshalb wollen wir sie mit einer kindgerechten Gestaltung spielerisch in eine traumhafte Unterwasserwelt mit Nemo und seinen Freunden mitnehmen, so dass sie ihre eventuell vorhandenen Ängste sofort vergessen können.“
Beim Betreten der Praxis wird die Aufmerksamkeit der Kinder sofort durch Fischernetze und Muscheln gefesselt. Direkt darüber hängt unter der Decke ein echtes Schiffssegel, das von einem Boot vom Chiemsee stammt. Der hellbraune Bodenbelag soll außerdem den Meeresboden oder einen schönen Strand widerspiegeln. Und während die Eltern bereits am Empfang stehen und dort ihre Angaben machen, können die Kinder das große, auf Kinderaugenhöhe in die Empfangstheke eingelassene Aquarium bestaunen. Rechts und links daneben finden sich zwei niedrigere Bereiche, die mit atmosphärisch beleuchteten Nemo-Motiven gestaltet wurden. „Hier haben die kleinen Patienten die Möglichkeit, den Zahnarzthelferinnen bei der Arbeit zuzusehen“, so Kasten. Direkt gegenüber vom Empfang schließt sich ein bewusst offener Wartebereich mit einem bodentiefen Panoramafenster in Richtung Isartorplatz an. „Auch hier war es uns wichtig, dass Kinder und Eltern nicht hinter verschlossenen Türen sitzen, sondern alles überblicken können“, so der Zahnarzt. Wer möchte, kann sich auch in den Strandkorb setzen und durch das Bullauge hindurch nach draußen blicken. Weitere liebevolle Details sind eine raumhohe Palme, an der sich eine Schlange empor ringelt und an der sich ein Papagei festgekrallt hat.
Darüber hinaus stehen den Kindern jede Menge Spielzeug, Kinderbücher und Mal-Utensilien zur Verfügung, um die Wartezeit spielerisch zu überbrücken. „Ganz besonders freuen wir uns über selbst gemalte Bilder zum Thema Nemo, die wir dann gerne an der Wand aufhängen“, berichtet die behandelnde Kinderzahnärztin Wasiliki Stamou. Im Laufe der Zeit ist so eine kleine Kindergalerie mit Nemo-Zeichnungen von Kindern unterschiedlicher Altersstufen entstanden. Direkt gegenüber steht außerdem eine kleine Piratenschatztruhe, aus der sich die Kinder nach der Behandlung ein kleines Geschenk aussuchen können. „Der Wartebereich unserer Kinderzahnarztpraxis ist so beliebt, dass viele Kinder nach der Behandlung gerne noch eine Weile bleiben möchten, um zu spielen.“ Ein weiteres beliebtes Highlight in der Praxis ist außerdem die direkt neben der „normalen“ Tür gelegene eigene Kindertür zum WC, die in ihren Ausmaßen der Körpergröße der kleinen Patienten angepasst wurde und die bei Kindern und Eltern gleichermaßen gut ankommt.
Ganz auf die Bedürfnisse von Kindern zugeschnitten wurden auch die beiden Behandlungszimmer. Um eine freundliche Atmosphäre zu schaffen, wählte Kasten Dentalmöbel in den Farben blau und gelb beziehungsweise violett und grün. Die Wände wurden zusätzlich mit Goldfischmotiven gestaltet. Und statt eines unter Umständen Furcht einflößenden zahnärztlichen Behandlungsstuhls wurden spezielle farbenfrohe Kinderliegen eingebaut. „Das komplette Behandlungsequipment ist dabei unter der Liege versteckt und wird erst bei Behandlungsbeginn, und damit für die Kinder unsichtbar, herausgeschwenkt“, erklärt die Kinderzahnärztin das Prinzip. Über jeder Behandlungsliege befindet sich außerdem ein Flachbildschirm, auf dem selbst gewünschte Kinder-DVDs laufen. „In fast allen Fällen tauchen die Kinder so sehr in den Film ab, dass sie von der Behandlung kaum etwas mitbekommen und nach Abschluss am liebsten noch liegen bleiben würden, um den Film in aller Ruhe zu Ende zu schauen.“
Reise durch Tausendundeine Nacht
Ebenfalls auf die ablenkende Wirkung von kindgerechten Motiven und Tierdarstellungen setzt Mariam Asfour. Die Ratinger Kinderzahnärztin war Mitte der Neunzigerjahre nach ihrem Studium der Kinderzahnheilkunde in Ägypten und England nach Deutschland gekommen. „Dabei hatte ich zu meiner Verwunderung festgestellt, dass es hier bis dahin keine spezialisierten Kinderzahnarztpraxen gab“, so Asfour. „Den Anfang machte die Praxis von Cheryl Lee Butz in München. Seitdem hat sich die Situation aber ziemlich verändert, denn inzwischen boomt der Bereich regelrecht.“
Der Empfang der Praxis wurde bewusst schlicht gestaltet. „Wichtig war mir hier eine Theke mit unterschiedlichen Ebenen, damit die Kinder am Gespräch zwischen den Eltern und den Zahnarzthelferinnen teilhaben können“, so Asfour. Im Wartezimmer der Praxis lockt dann ein aus Holz gezimmertes und farbig lackiertes Schloss mit zwei Ebenen und einer langen Rutsche zum Spielen und Verstecken ein. Für etwas ältere Kinder stehen alternativ Computer und eine Playstation zur Verfügung.
Noch bunter als im Wartebereich geht es dann in den insgesamt vier Behandlungsräumen zu. In dem überwiegend in Blau gehaltenen Behandlungsraum 1 begegnen die Patienten Figuren und Motiven aus Tausendundeiner Nacht, darunter dem Geist aus „Aladin und die Wunderlampe“ oder einem Fliegenden Teppich. Während der Behandlung trifft der Blick außerdem auf einen großen Affen in einem riesigen Obstkorb als Mutspender. Bei der Gestaltung von Raum 2 entschied sich die Kinderzahnärztin für eine Kombination aus dunkelgrünen Schrankmöbeln, einer hellgrünen Behandlungsliege sowie leuchtend orangefarbenen Wänden mit großflächigen Darstellungen von Tieren aus Disneys „König der Löwen“. Statt auf einen Affen blicken die Patienten hier dementsprechend auf die dreidimensionale Figur eines in einem Fels badenden Löwen, der seinen Mut und seine Gelassenheit direkt auf die Patienten übertragen soll, wie Asfour verrät.
Der dritte Behandlungsraum wurde eher zurückhaltend gestaltet, im vierten entschied sich die Zahnärztin für eine bordeauxrote Dentaleinheit und die silhouettenhafte Darstellung einer Massai-Frau an den Wänden. „Bei den unterschiedlichen Motiven, die wir für die Praxis gewählt haben, war es uns ganz wichtig, auf bekannte Figuren zurückzugreifen, die die Kinder bereits kennen“, berichtet Asfour.
Neben Kindern behandelt Mariam Asfour in ihrer Praxis auch Angstpatienten. „Denn auch bei erwachsenen Angstpatienten habe ich die Erfahrung gemacht, dass eine fantasievolle Raumgestaltung dazu beiträgt, die vorhandenen Ängste deutlich zu verringern“, so die Zahnärztin. Wichtiger als die Gestaltung ist aber natürlich ein entsprechendes Behandlungskonzept. Sie selbst geht dabei nach dem Prinzip „tell-show-do“ vor und legt dabei großen Wert auf eine bildreiche Sprache mit vielen Metaphern:
„Denn, wenn die Kinder etwas in die Hand nehmen können, dann lassen sie es in der Regel auch in ihrem Mund zu.“
Futuristisches Ambiente
Auf ein eher futuristisches Ambiente setzt dagegen die Berliner Gemeinschaftspraxis KU64. Jüngst wurde hier unter dem Namen „KU64-Youngstars“ ein abgetrennter eigener Bereich für die Kinderzahnheilkunde mit Zugang zur bestehenden Praxis neu eröffnet. Die nach Plänen des Berliner Architekturbüros Graft entwickelte Praxis wurde im Kontrast zu sonstigen Einrichtungskonzepten als organische Raumskulptur mit unterschiedlichen, fließend ineinander übergehenden Funktionsbereichen gestaltet. Bestimmende Merkmale dabei sind eine weiche geschwungene Linienführung in Verbindung mit kraftvollen Gelbtönen, üppigen, zu dichten Wänden gestalteten Grünzonen, großen Fensterflächen und graffitiartigen Zeichnungen auf Wänden und Böden. Auf den ersten Blick erinnern die Räume daher eher an eine futuristische Lounge als an eine Zahnarztpraxis.
„Meine Patienten sollen die Praxis mit einem entspannten Wohlgefühl verlassen. Die Architektur soll ihnen dabei helfen, bestehende Ängste abzubauen“, so Zahnarzt Stephan Ziegler. Entsprechend gibt es keine Warteplätze, sondern nur Spielplätze. Zu den Höhepunkten gehören dabei eine Kletterwand, eine Rutsche und das große Bällebad. „Sehr kleine Kinder ab zwei bis drei Jahren mit Behandlungsaber auch Gewöhnungsbedarf kommen anschließend zuerst in die ’Doktorschule’“, verrät Ziegler. „Hier werden sie spielerisch mit der Behandlungssituation vertraut gemacht und bekommen am Ende wie in der Schule ein Zeugnis, das Ihnen bescheinigt, dass sie nun fit sind, sich zahnärztlich behandeln zu lassen.“
Blaue Unterwasserwelt
Ein ähnlich futuristisches Konzept zeigt auch die Kinderzahnarztpraxis von Ali Mokabberi in Berlin, die ebenfalls in Zusammenarbeit mit dem Architekturbüro Graft realisiert worden ist. Um ein riesiges „Ablenkungsmanöver“ zu inszenieren und den kleinen Patienten die Grundangst vor dem Zahnarztbesuch zu nehmen, wurde die Praxis als riesige dreidimensionale Unterwasserwelt gestaltet. Zentraler Blickfang ist dabei die wellenförmige Raumskulptur im Eingangsbereich, die mit einem abstrahierten Wellenmuster in zwölf verschiedenen Blautönen farbig gestaltet wurde.
Über eine kleine Treppe nach unten gelangen die kleinen Patienten und ihre Eltern in den organisch geschwungenen, in den Farben weiß und blau gestalteten Empfangsbereich der Praxis. Hier wie in den übrigen Räumen treffen die kleinen Patienten auf ein maritimes Ambiente mit blauen Wänden und Abbildungen von Fisch-Schwärmen. „Wenn die Kinder das erste Mal in eine Zahnarztpraxis kommen, dann treten sie in eine für sie fremde Welt ein“, so Ali Mokabberi. „Das löst Spannung und Neugier aus. Bei uns ist es fast immer so, dass das Erlebnis der Wasserwelt mit seinen Wellen und Fischen die Zahntechnik überlagert und die Kinder schnell vergessen lässt, dass sie eigentlich beim Zahnarzt sind. Und das ist dann die beste Voraussetzung für die bevorstehende Behandlung.“
Robert UhdeGrenadierweg 3926129 Oldenburg