Speichelfistel nach Tumorradikal-OP
Ein 83-jähriger Patient wurde mit der Bitte um Abklärung einer nässenden, extraoralen Sekretabsonderung im Bereich des Halses rechts in unsere Klinik überwiesen. Der Patient hatte sich zuvor beim behandelnden Hauszahnarzt vorgestellt und beschrieb das Phänomen, dass morgens sein rechter Schlafanzugkragen nass sei.
Dies sei erstmalig vor vier Wochen aufgetreten und nun zeige sich eine Zunahme der Sekretmenge. In der Krankengeschichte des Patienten findet sich ein mittelgradig differenziertes, mäßig verhornendes Plattenepithelkarzinom der Unterlippe links (Abbildung 2) mit der TNM-Klassifikation pT 3 pN 0 pM 0, das im April 1986 durch Tumorradikal-Operation mit suprahyoidaler Neck dissection mandibulär beidseits inklusive Entfernung der Glandula submandibularis aufgrund tumorsuspekter Lymphknoten in der Submental- und Submandibularloge kurativ behandelt wurde. Eine postoperative Radiatio erfolgte damals nicht. Die nachfolgende Tumornachsorge war unauffällig und wurde später auf Wunsch des Patienten durch den behandelnden Hauszahnarzt übernommen. Der sehr rüstige Patient hat eine kardiale Arrhythmie und eine chronische Refluxösophagitis, raucht aktuell acht Zigaretten pro Tag, weist aber insgesamt mehr als 50 Pack Years auf.
Die klinische Untersuchung zeigte extraoral ein 1,2 cm x 1,0 cm großes, gering gerötetes Hautareal submandibulär rechts (Abbildung 1) mit zentraler Einziehung, welche in einen Gang mündet. Intraoral fand sich ein saniertes, durch parodontalen Abbau gekennzeichnetes Gebiss mit einem bedingt erhaltungswürdigen Zahn 33 (Abbildung 3). Hier waren keine pathologischen Veränderungen der Mundschleimhaut erkennbar. Die präoperativ durchgeführte sonographische Untersuchung der Kopf-Hals-Region zeigte weder einen Anhalt auf ein Tumorrezidiv im Bereich des ehemaligen Operationsgebietes noch malignitätsverdächtige Lypmhknotenschwellungen. Kaudal des Unterkiefers rechts ist im Ultraschall keine Glandula submandibularis abgrenzbar. Es erfolgte die operative Entfernung des Fistelmauls inklusive des tiefer liegenden Drüsengewebes in Lokalanästhesie unter Darstellung und Schonung des Ramus marginalis mandibulae des Nervus facialis. Das entnommene Präparat (Abbildung 4) wurde zur histologischen Aufbereitung in die Pathologie eingesandt. Die histopathologische Aufarbeitung des Präparates zeigte Reste von Drüsengewebe mit dichten periduktalen, rundzelligen Entzündungsinfiltraten. Teilweise fanden sich im Bereich des Ausführungsganges plattenepitheliale Metaplasien sowie Zeichen der Sialadenitis und Lipomatosis (Abbildung 5).
Diskussion
Männliche Patienten älter als 50 Jahre, die einen hellen Hauttyp aufweisen und Raucher sind, gelten als Hauptrisikogruppe für Plattenepithelkarzinome der Lippe [Czerninski et al., 2010]. Dabei treten die Tumore in der Mehrzahl der Fälle (bis zu 90 Prozent) extraoral am Unterlippenrot auf [Zitsch et al., 1995], auch wenn in letzter Zeit ein Anstieg der Fallzahlen der Oberlippentumore beobachtet wurde. Als weiterer Risikofaktor gilt die fortgesetzte Sonnenexposition [Kenborg et al., 2010]. Historisch hat sich die Therapie der Unterlippentumore in den letzten Jahrzehnten sehr entwickelt. Aktuell ist die Kombination von Tumorradikal-OP mit selektiver Neck dissection ab der Tumorgröße pT2 das Mittel der Wahl bei der kurativen Therapie von Unterlippenkarzinomen [Frerich et al., 2007]. Bei Unterlippentumoren wird das Vorhandensein von Mikrometastasen [Khalil et al., 2008] neben der Tumorgröße [Morselli et al., 2007] als wichtiger prognostischer Faktor diskutiert. In acht bis 20 Prozent der Fälle sind bei Patienten mit tumorfreien regionalen Lymphknoten bereits Mikrometastasen vorhanden [Chikamatsu et al., 2004; Ross et al., 2004; Vartanian et al., 2004]. Zur Zeit wird in der Literatur aufgrund der relativ hohen Rate möglicher Mikrometastasen die selektive, suprahyoidale Neck dissection bei Unterlippentumoren ohne Metastasierung in die regionalen Lymphknoten diskutiert [Yilmaz et al., 2009]. Dem gegenüber steht die Idee der Sentinel-Lymphknoten-Biopsie, deren Erfolgsrate mit dem momentanen Stand der Technik noch diskutiert wird [Seethala, 2009; Frerich et al., 2007; Paleri et al., 2005]. Die Tumornachsorge beginnt nach der Primärtherapie. Hierbei steht die körperliche, psychische und soziale Rehabilitation im Vordergrund. An dieser Stelle kommt dem betreuenden Zahnarzt eine wichtige Rolle zu, der sowohl die prothetische Versorgung insbesondere im Hinblick auf phonetische und funktionelle Aspekte als auch die Xerostomie einschließlich der möglichen Folgen für die Mundgesundheit mitbestimmt. Aufgrund dieser hohen Kontaktfrequenz zwischen Tumorpatienten und Zahnarzt ist es dem Zahnarzt frühzeitig möglich, Lokalrezidive zu erkennen, die zu 80 Prozent in den ersten drei Jahren auftreten [Wollenberg et., 2003]. Daneben gibt es die Möglichkeit der Spätmetastasierung, die in einer retrospektiven Arbeit über Lippenkarzinome im Rostocker Patientengut beschrieben wurde [Andra, 1992]. Hinzu kommen auch seltene Spätkomplikationen wie die hier beschriebene Speichelfistel. Nur durch die fortwährende interdisziplinäre Betreuung der Tumorpatienten ist die geforderte Rehabilitation auf lange Sicht möglich.
Dr. Michael DauDr. Dr. Jan-Hendrik LenzProf. Dr. Dr. Bernhard FrerichKlinik und Poliklinik für Mund-, Kiefer- und Plastische GesichtschirurgieUniversitätsklinikum RostockSchillingallee 35D-18055 RostockMichael.Dau@med.uni-rostock.de