Ärzteschelte inbegriffen
„Ich kann das Gejammer der Rentner über angeblich schlechtere Behandlung nicht mehr hören“ – so zitierte Bild am 16. Dezember 2010 einen Internisten aus Stuttgart, der sich bitter über seine Senioren- Patientenklientel beklagte. „Mir gehen die Alten oft auf den Keks. Morgens sitzen sie schon früh im Wartezimmer und führen sich auf, als wären sie beim Kaffeeklatsch. Viele von ihnen kommen aus Langeweile.“ Harsche Worte eines genervten Arztes, den die Bild-Zeitung im Rahmen des kürzlich vorgestellten Altenberichts der Bundesregierung zu Wort kommen ließ.
Der sechste Bericht zur Lage der älteren Generation in Deutschland (samt Stellungnahme der Bundesregierung) mit dem Titel „Altersbilder in der Gesellschaft“ hat eine rege öffentliche Debatte angestoßen. Er deckt eine ganze Reihe von Fehlentwicklungen, auch in der gesundheitlichen Versorgung älterer Menschen auf. Was laut Medienschlagzeilen zunächst nach einem Ärztepranger klingt, entpuppt sich bei näherer Hinsicht als differenzierte Analyse über Schwachstellen in den Lebenswelten und der gesundheitlichen Versorgung älterer Menschen, die auf komplexe Ursachen zurückzuführen sind.
Angemahnt wird ein größerer Stellenwert für die altersspezifische Prävention und Gesundheitsförderung. Nach wie vor seien diese nicht in die medizinische Versorgung integriert und mit dieser verzahnt. Multimorbidität und Polypharmazie seien eine große Herausforderung für die Versorgung im Alter. Vom Arzt erfordere dies eine differenzierte Kenntnis komplexer Prozesse, die bisherige bestehende Aus-, Fort- und Weiterbildung werde diesem Bedarf nicht gerecht. Moniert wird der fast sorglose Umgang mit mehreren Medikamenten (vom Arzt wie auch vom Patienten) und eine unzureichende Koordination und Abstimmung der Versorgung. Auch die Pharmaindustrie habe bisher nicht gewährleistet, dass ältere Menschen in Studien zu Arzneimitteln hinreichend repräsentiert seien. Nicht ausreichend bekannt seien ferner Kenntnisse über geschlechter- und altersspezifische Bedarfe in Diagnostik, Therapie und Behandlung.
Der Bericht deckt Diskrepanzen zwischen Bedarf und tatsächlicher Versorgung in der Psychotherapie auf und will, dass sich auch Psychotherapeuten mit der Vielfalt der Altersprozesse beschäftigen. Zu den großen Herausforderungen gehöre die Versorgung von Menschen mit Demenz, hier sei die Profession in besonderem Maße involviert. Kritisch beleuchtet der Bericht auch die Behandlung von Patienten mit Todesursachen wie etwa Krebs oder Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems. In Vergleichsstudien zwischen älteren und jüngeren Patienten seien „altersdiskriminierende Muster“ nachgewiesen worden.
Rege Reaktionen
Bundesgesundheitsminister Philipp Rösler warnte eindringlich vor einer Diskriminierung älterer Menschen in Arztpraxen und Kliniken. „Es darf auf keinen Fall sein, dass Behandlungen unterlassen werden aus nicht sachgerechten Gründen, also nicht aus medizinischen, sondern aus fiskalischen Gründen“, betonte er gegenüber der Leipziger Volkszeitung (17. Dezember 2010). Die Präsidentin des Sozialverbandes VdK, Ulrike Mascher, verwies auf die zunehmende Diskriminierung von Senioren; älteren Patienten würden psychotherapeutische Behandlungen vorenthalten. Die Pflege-Expertin der Grünen, Elisabeth Scharfenberg, kritisierte die „heimliche Rationierung“ in der Versorgung Älterer als „erschreckend“. Dr. Theodor Windhorst, Vorstandsmitglied der Bundesärztekammer, betonte, dass Ärzte sehr gut ausgebildet seien, jedoch müssten die Versorgungsstrukturen grundsätzlich reformiert werden, hin zu einer kleinräumigen und sektorenübergreifenden Versorgung. Da darf man auf die kommenden Wochen und Monate gespannt sein: Rösler hat für das erste Halbjahr 2011 ein Versorgungsgesetz angekündigt. Dies solle die Sicherstellung im ländlichen Raum und in den Ballungszentren verbessern und betreffe auch den Bereich älterer Menschen.