Die Kariesinfiltration
Der in den vergangenen Jahrzehnten verzeichnete Rückgang der Kariesprävalenz hat dazu geführt, dass heute bei Kindern und Jugendlichen weitaus weniger offene kariöse Läsionen gefunden werden als noch bei der Generation ihrer Eltern [Micheelis und Schiffner, 2006]. Diese Beobachtung lässt auf den ersten Blick den Eindruck entstehen, dass heute der Behandlungsbedarf in diesen Altersgruppen deutlich geringer ist. Allerdings trügt dieser Eindruck, denn die weit verbreite Anwendung von Fluoriden, vor allem in Zahnpasta, hat bei der Mehrzahl der Patienten keineswegs zu einer Verhinderung, sondern vielmehr zu einer Verlangsamung des Voranschreitens der Erkrankung geführt.
Der hauptsächliche Grund hierfür scheint darin zu liegen, dass sich an der primären Ursache für Karies – einer zuckerreichen Ernährung – in den vergangenen Jahrzehnten kaum etwas verändert hat. So kam es zwar zu einer Abnahme der Häufigkeit offener kariöser Läsionen, die mit Restaurationen therapiert werden müssen. Gleichzeitig findet man heute bei Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen verhältnismäßig mehr nicht-kavitierte Läsionsstadien [Mejare et al., 1998]. Diese epidemiologischen Veränderungen bringen für den Zahnarzt nicht nur die Herausforderung mit sich, durch die Anwendung geeigneter diagnostischer Hilfsmittel, Karies rechtzeitig zu erkennen, sondern bieten gleichzeitig die Chance, den relativ langsam verlaufenden Kariesprozess durch geeignete Methoden aufzuhalten.
In frühen Stadien ist Karies durch einen Mineralverlust unter der Schmelzoberfläche im sogenannten Läsionskörper charakterisiert, während die Oberfläche der Karies scheinbar (pseudo-)intakt bleibt. Diese nicht-kavitierten Läsionen erscheinen klinisch als weißliche Verfärbungen des Schmelzes (White Spot). Erst wenn in späteren Stadien der Karies der Mineralverlust und damit die Porosität im Läsionskörper einen kritischen Wert überschreiten, kommt es zum Einbruch der Läsionsoberfläche. Dieser Punkt ist deswegen therapeutisch relevant, da erst jetzt Bakterien in nennenswertem Ausmaß die kariöse Läsion besiedeln und dort kariogene Biofilme ausbilden können [Fejerskov et al., 2008].
Frühe, nicht-kavitierte Stadien des Kariesprozesses können durch eine Beförderung der natürlichen Reparaturmechanismen der Mundhöhle mittels non-invasiver (sekundärpräventiver) Maßnahmen wie der lokalen Fluoridierung oder durch Optimierung der Mundhygiene arretiert werden. Diese kurative und damit erstrebenswerteste Therapieoption wird jedoch häufig durch eine mangelnde Adhärenz (Compliance) des Patienten limitiert, so dass viele Läsionen dennoch voranschreiten. Kommt es zudem zu einem Einbruch der Läsionsoberfläche (Kavitation) sind alleinige non-invasive Maßnahmen nicht mehr wirksam, da der Patient meistens nicht mehr in der Lage ist, den Biofilm als treibende Kraft des Kariesprozesses, regelmäßig aus der nun kavitierten Läsion zu entfernen. In diesen Stadien sind dann (minimal-)invasive restaurative Maßnahmen notwendig (Abbildung 1). Gerade bei approximaler Karies besteht jedoch das Problem, dass bei der Kavitätenpräparation unverhältnismäßig viel gesunde Zahnhartsubstanz geopfert werden muss, um einen Zugang zu den erkrankten Bereichen zu erhalten (Entfernung der Randleiste). Die Kariesinfiltration ist ein vergleichsweise neuer, mikro-invasiver Therapieansatz, der auf die Behandlung nichtkavitierter Läsionsstadien abzielt, die mit non-invasiven Maßnahmen nicht arretiert werden können. Somit schlägt die Kariesinfiltration gewissermaßen eine Brücke zwischen non-invasiven und invasiven Maßnahmen (Abbildung 1).
Prinzip
Das Ziel der Kariesinfiltration ist es, die Porositäten der Schmelzkaries (insbesondere des Läsionskörpers) mit lichthärtenden Kunststoffen (sogenannten Infiltranten) zu verschließen, um damit die Diffusionswege für kariogene Säuren zu blockieren und so eine Verlangsamung oder gar eine Arretierung des Kariesprozesses zu bewirken. Damit der Kunststoff in die kariöse Läsion eindringen kann, muss diese zuvor konditioniert werden. Hierzu wird zunächst die pseudointakte Oberflächenschicht durch zweiminütige Ätzung mit einem fünfzehnprozentigen Salzsäuregel entfernt. Anschließend muss die Läsion ausgiebig getrocknet werden, da jegliche verbliebene Flüssigkeit innerhalb des Läsionskörpers die Penetration des Kunststoffs behindern würde. Erst danach wird der Infiltrant aufgetragen und penetriert – getrieben von Kapillarkräften – in die Läsion. Um besonders im Approximalraum die Anwendung zu vereinfachen, wird vor der Lichthärtung überflüssiger Kunststoff entfernt. Im Gegensatz zur Kariesversiegelung wird bei der Kariesinfiltration daher die protektive Diffusionsbarriere nicht auf der Läsionsoberfläche, sondern innerhalb der kariösen Läsion geschaffen (Abbildung 2).
Approximale Anwendung
Für approximale Läsionen umfasst der Indikationsbereich der Kariesinfiltration nicht-kavitierte, aktive Läsionen, die röntgenologisch in die innere Schmelzhälfte (E2) bis maximal in das äußere Dentindrittel (D1) ausgedehnt sind. Derzeit ist für die Kariesinfiltration auf dem Dentalmarkt nur ein Produkt (Icon®; DMG, Hamburg) kommerziell erhältlich. Dieses enthält ein Salzsäureätzgel, Ethanol zur Trocknung der Läsion, einen Infiltranten sowie spezielle Keilchen und Applikatoren zum Auftragen im Approximalraum. Die Schritte bei der klinischen Anwendung der Kariesinfiltration sind in Abbildung 3 beschrieben.
Ähnlich wie bei der Anwendung non-invasiver Maßnahmen wird die Wirksamkeit der Kariesinfiltration durch ein regelmäßiges radiologisches Monitoring der Läsionen überprüft. Hierbei sind – abhängig vom individuellen Kariesrisiko des Patienten – ähnliche Recallintervalle zu wählen wie auch bei der alleinigen Anwendung non-invasiver Maßnahmen. Um für den Patienten und nachbehandelnde Zahnärzte die infiltrierte Läsion zu dokumentieren und somit Überbehandlungen (versehentliches Bohren und Füllen von bereits infiltrierten und arretierten, aber dennoch radiologisch sichtbaren Läsionen) zu vermeiden, kann dem Patienten ein kleines Heftchen (in der Packung enthalten) mit entsprechenden Informationen mitgegeben werden.
Die Wirksamkeit der approximalen Kariesinfiltration konnte in verschiedenen klinischen Studien bestätigt werden. So zeigten in einer Studie an jungen Erwachsenen mit mittlerem Kariesrisiko nur vier Prozent der infiltrierten Läsionen innerhalb des drei - jährigen Beobachtungszeitraums eine röntgenologische Progression, während in der Kontrollgruppe, die mit der non- invasiven Standardtherapie (Mundhygieneinstruktion, lokale Fluoridierung, Ernährungsberatung) behandelt worden war, 46 Prozent der Läsionen voranschritten [Paris et al., 2010; Meyer-Lückel et al., 2011]. In einer Studie an Milchzähnen in einer Population mit sehr hohem Kariesrisiko lag die radiologische Progressionsrate innerhalb eines Jahres bei infiltrierten Zähnen bei 23 Prozent, während in der Kontrollgruppe 62 Prozent der Läsionen voranschritten. Sowohl die infiltrierten als auch die Kontrollläsionen wurden hierbei zu Beginn und nach sechs Monaten mit Fluoridlack behandelt (Duraphat®; Gaba) [Ekstrand et al., 2010].
Vestibuläre Anwendung
Ein positiver Nebeneffekt der Kariesinfiltration besteht darin, dass vollständig infiltrierte Läsionen ihr weißliches Aussehen verändern und gesundem Schmelz ähnlicher sehen als zuvor. Daher kann das Verfahren nicht nur zur Arretierung von Karies, sondern auch zur optischen Maskierung vestibulärer Läsionen angewendet werden [Paris und Meyer-Lueckel, 2009].
Die Indikation für die vestibuläre Infiltration umfasst aktive, nicht-kavitierte kariöse Läsionen, die vom Patienten als ästhetisch störend empfunden werden. Solche Läsionen treten oftmals während der Behandlung mit festsitzenden kieferorthopädischen Apparaturen auf, wenn die durch die Brackets erschwerte Reinigung der Glattflächen nicht durch intensivierte Mundhygiene des Patienten kompensiert wird. Nach Entfernung der kieferorthopädischen Brackets können diese Läsionen oftmals erfolgreich allein mit non-invasiven Maßnahmen arretiert werden. Da die Remineralisationsprozesse jedoch nur auf oberflächliche Läsionsbereiche limitiert sind, verlieren dabei nur sehr flache Läsionen ihre weißliche Erscheinung. Tiefere Läsionen verbleiben hingegen häufig als weißliche oder bräunliche „Schmelznarben“ (inaktive White oder Brown Spots) bestehen. Für diese besteht zwar aus kariologischer Sicht kein Therapiebedarf, da diese Läsionen nicht weiter voranschreiten, jedoch wünschen viele Patienten eine ästhetische Rehabilitation.
Durch Kariesinfiltration können bei solchen Läsionen innerhalb kurzer Zeit und bei nur minimaler Invasivität zufriedenstellende ästhetische Ergebnisse erzielt werden. Hierbei wird der Effekt genutzt, dass der ausgehärtete Infiltrationskunststoff einen ähnlichen Lichtbrechungsindex wie gesunder Zahnschmelz hat, und damit die Lichtstreuung innerhalb der Karies deutlich reduziert. In einer klinischen Studie konnte gezeigt werden, dass bei vestibulären kariösen Läsionen durch Infiltration eine vollständige Maskierung in 61 Prozent der Fälle und eine partielle Maskierung in weiteren 33 Prozent der Fälle bewirkt werden konnte [Kim et al., 2011].
Die Behandlungsschritte bei der vestibulären Infiltration ähneln prinzipiell der approximalen Anwendung (Abbildung 4). Da vestibuläre Läsionen jedoch relativ schnell remineralisieren, weisen sie oftmals relativ dicke pseudointakte Oberflächenschichten auf. Je älter und damit tendenziell inaktiver ein vestibulärer White Spot ist, umso dicker ist seine pseudointakte Oberflächenschicht. Daher kann es gerade bei älteren, eher in-aktiven Läsionen notwendig sein, mehrmals zu ätzen, um die pseudointakte Oberflächenschicht zu entfernen. Ob die Oberflächenschicht durch die Ätzung vollständig entfernt wurde, lässt sich überprüfen, indem man die zuvor getrockneten Läsionen mit Ethanol oder Wasser erneut befeuchtet. Dringt hierbei die Flüssigkeit schnell (wenige Sekunden) in die Läsionen ein und führt dabei zu einer zumindest teilweisen Maskierung der Läsion, so ist dieser Effekt bei Applikation des Kunststoffs auch zu erwarten. Bleiben die Läsionen hierbei jedoch weißlich opak, sollte gegebenenfalls erneut geätzt werden. Bei jedem Ätzvorgang werden etwa 30 Mikrometer Schmelz abgetragen, so dass relativ gut abgeschätzt werden kann, wie viel Zahnhartsubstanz bei der Ätzung geopfert wird.
Entwicklungsbedingte Defekte wie Molaren- Inzisiven-Hypomineralisationen (MIH), Fluorosen oder traumatisch bedingte Hypomineralisationen, die oftmals ähnlich wie initiale Karies als weißliche Veränderungen der Zahnhartsubstanzen imponieren, sollten von diesen differenzialdiagnostisch abgegrenzt werden. Bei entwicklungsbedingten Defekten ist die Kariesinfiltration weit weniger wirksam und es liegen bisher nur wenige wissenschaftliche Untersuchungen vor [Kim et al., 2011].
Fazit
Die Kariesinfiltration ist eine mikroinvasive Behandlungsmethode, die eine Brücke zwischen den bisher verfügbaren non-invasiven und restaurativen Therapieoptionen für approximale Läsionen schlägt. Somit kann mit dieser Technik die erste restaurative Intervention, die immer auch mit der Zerstörung gesunder Zahnhartsubstanz einhergeht, zumindest verzögert und damit invasivere Maßnahmen zumindest in höhere Lebensalter verschoben werden. Bei vestibulären Läsionen kann durch Kariesinfiltration innerhalb kurzer Behandlungszeit ein zufriedenstellendes ästhetisches Ergebnis erreicht werden.
PD Dr. Sebastian Paris
Klinik für Zahnerhaltungskunde und
Parodontologie
Universitätsklinikum Schleswig-Holstein
Christian-Albrechts-Universität Kiel
Arnold-Heller-Str. 3, Haus 26
24105 Kiel