Fachtagung zur Patientenversorgung

Behandlung von Behinderten stark verbesserungsfähig

Die medizinische Behandlung von behinderten Patienten bedarf einer dringenden Verbesserung und zusätzlicher gesetzlicher Rahmenbedingungen. Dies belegte einmal mehr am 22.02.2011 die Tagung des Behindertenbeauftragten der Bundesregierung, Hubert Hüppe, in Berlin. Das von BZÄK und KZBV ausgearbeitete Konzept „Mundgesundheit trotz Handicap“ stieß dabei auf der Tagung auf große Resonanz.

Neben Experten-Statements, die von entsprechenden Referenten abgegeben wurden, tauschten sich die rund 150 Teilnehmer, darunter Betroffene, Angehörige, Selbsthilfegruppen, Ärzte, Verbandsvertreter und Politiker bei der zweitägigen Zusammenkunft auch in Workshops aus. Aus dem zahnärztlichen Bereich beteiligten sich der Vizepräsident der Bundeszahnärztekammer (BZÄK), Dr. Dietmar Oesterreich, und der Vize-Vorsitzende der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung (KZBV), Dr. Wolfgang Eßer, sowie Dr. Imke Kaschke von Special Olympics Deutschland e. V. und Ina Nitschke von der Deutschen Gesellschaft für Altersmedizin an den Arbeitsrunden.

Der Beauftragte der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen nannte selbst eine ganze Reihe von Problemen, mit denen Patienten mit Lernbehinderungen konfrontiert seien. „Sowohl hinsichtlich der Ausbildung des medizinischen Personals als auch hinsichtlich der Barrierefreiheit in Arztpraxen und Kliniken gibt es Nachholbedarf in Deutschland. Hinzu kommen teils grundsätzliche Probleme bei der medizinischen Versorgung von Menschen mit Behinderungen“, so Hubert Hüppe.

Behinderte berichteten aus Versorgungsalltag

Während der Tagung berichteten Betroffene aus verschiedenen Blickwinkeln über Alltagsprobleme in der medizinischen Versorgung. So etwa von medizinischem Personal, das weder fachlich in der Lage sei, Komplexerkrankungen behinderter Menschen richtig zu diagnostizieren und zu behandeln, noch generell im Umgang mit behinderten Menschen geschult sei. Beispielsweise werde zu wenig berücksichtigt, dass etwa ein Beratungsgespräch mit einem Menschen mit Lernschwierigkeiten länger dauern könne und eine leichtere Sprache erfordere.

Vergleichbares gelte auch bei hörbehinderten Menschen, bei denen die Übersetzungszeit berücksichtigt werden müsse, oder bei Menschen mit einer spastischen Lähmung. „Ausreichende Fachkenntnisse zur Behandlung behinderter Menschen müssen schon im Studium, spätestens in Fort- und Weiterbildungen vermittelt werden“, erklärte Hüppe.

Auch wurde deutlich, dass es einige grundsätzliche Probleme gibt, die die medizinische Versorgung behinderter Menschen zusätzlich erschwert. So stehen etwa immer mehr Menschen mit Behinderungen, die eine teils intensive medizinische Versorgung benötigen, insbesondere im ländlichen Raum immer weniger Ärzte zur Verfügung. Damit ist der Medizinermangel auf dem Land zwar ein allgemeines Manko medizinischer Versorgung, doch trifft dies Patienten mit Behinderungen aufgrund ihrer Immobilität besonders schwer. Die Teilnehmer waren sich einig, dass der Anreiz für junge Ärzte gestärkt werden müsse, sich im ländlichen Raum niederzulassen.

Ansprüche im Sozialgesetzbuch erweitern

Auch bei der zahnärztlichen Versorgung liege noch viel im Argen, sowohl bei der Vorbeugung als auch bei der Akutbehandlung oder der Versorgung mit Prothesen, so der Behindertenbeauftragte. Der Anspruch auf eine ausreichende zahnärztliche Versorgung behinderter Menschen müsse im fünften Sozialgesetzbuch stärker ausgestaltet werden. Damit berief sich Hüppe auf das auf der Tagung vom stellvertretenden KZBV-Vorsitzenden Dr. Wolfgang Eßer vorgestellte Konzept von BZÄK und KZBV zur Mundgesundheit. Wegen seiner fundierten Aufbereitung und Professionalität wurde gerade der Vorstoß der beiden Körperschaften von vielen Tagungsteilnehmern ganz besonders hervorgehoben.

Zahnärztliche Behandlung beiderseits anstrengend

Eßer führte aus, dass Menschen mit Behinderungen im Vergleich zu anderen Bevölkerungsgruppen eine erhöhte Erkrankungsrate für Karies und Zahnbettentzündungen hätten und deswegen mehr Zähne als Menschen ohne Behinderung verlören. Verschiedene Studien bestätigten, dass die Zähne von Menschen mit Behinderung in vielen Fällen gar nicht oder nur unzureichend zahnmedizinisch versorgt seien. Die körperlichen und/oder geistigen Behinderungen hätten in sehr vielen Fällen eine wesentlich schlechtere Mundpflege zur Folge, vielfach sei auch die Behandlungsfähigkeit durch die Behinderung stark eingeschränkt.

Zahnärzte könnten solche Patienten oftmals nur unter ganz besonders aufwändigen Bedingungen behandeln. Durch mögliche Ängste der behinderten Patienten oder durch kurzfristige Behandlungsschwierigkeiten, wie etwa Anfälle bei Epilepsie-Kranken oder andere hinzukommende Faktoren, erhöhe sich der Stress und entwickele sich eine zahnärztliche Behandlung zu einer regelrechten Anstrengung für beide Seiten – sowohl für den Patienten als auch für den Zahnarzt.

Die hohe Erkrankungsrate und der schlechte Versorgungszustand der Zähne, so Eßer, lägen aber nicht nur bei den Patienten selbst, sondern auch im System der gesetzlichen Krankenversicherung begründet. Die gehe von der Prämisse aus, dass alle Erwachsenen ihre Zähne selbst pflegen und selbstständig zum Zahnarzt gehen könnten. Damit richte sich das Gesundheitssystem vorrangig an Fitte und Mobile, die in irgendeiner Weise krank geworden sind. Den Menschen mit Behinderung werde man unter solchen Bedingungen nicht gerecht, weil die Voraussetzungen nicht zuträfen. Eßer: „Menschen mit Behinderung benötigen eine zahnärztliche Versorgung, die auf ihre besonderen Bedürfnisse abgestellt ist.“

Gesetzgeber ist gefragt

Doch, um solche Lücken in der Versorgung zu beheben, sei zuerst der Gesetzgeber gefragt. Dieser müsse über das SGB V festhalten, dass Menschen mit Behinderung einen besonderen und umfangreicheren Leistungsanspruch haben als Menschen ohne Behinderung. Auf der Basis des aktuellen Leistungskatalogs sei dies nicht möglich, so Eßer. Derzeit seien es vor allem ehrenamtlich tätige Zahnärzte, die sich neben ihrer sonstigen Praxistätigkeit bei der Behandlung von Patienten mit Behinderung engagierten. Eßer betonte, dass BZÄK und KZBV bereits 2010 einen Runden Tisch mit der Wissenschaft ins Leben gerufen und ein Konzept erarbeitet haben. „Wir Zahnärzte haben unsere Hausaufgaben gemacht“, so Eßer, „jetzt ist es am Gesetzgeber, aktiv zu werden. Die zahnmedizinische Versorgung von behinderten Patienten kann nicht an den leeren Kassen der Krankenkassen haltmachen.“

Zähne als unentbehrliche Helfer im Alltag

Dass die mundgesundheitliche Versorgung noch sehr verbesserungswürdig sei, dies unterstrich auch Margit Hudelmaier vom Bundesverband Contergangeschädigter. Hudelmaier berichtete unter anderem, dass Contergangeschädigte oft schon bei der Handhabung einer Zahnbürste scheitern würden. Viele legten die Bürste, statt sie in die Hände nehmen zu können, auf dem Waschbecken ab und umkreisten die Bürste mit dem Mundinneren.

Auch seien die Zähne von Betroffenen härtesten Alltagsstrapazen unterworfen, so etwa, wenn Flaschen geöffnet werden, Türschlüssel umgedreht oder schwere Taschen und Lasten transportiert werden müssten. Hudelmaier: „Die Zähne sind von Geburt an Exremsituationen ausgesetzt und tun viel mehr als das, wofür sie biologisch gedacht sind.“ Viele Betroffene müssten mit 40 Jahren schon zum zweiten Mal komplett mit ZE versorgt werden.

Behinderte fühlen sich oft als Bittsteller

Barbara Stötzner-Manderscheid, die für die Interessenvertretung „Selbstbestimmt leben“ sprach, machte den Anwesenden ebenfalls deutlich, dass sich behinderte Patienten, die eine medizinische Behandlung brauchen, oftmals als Patienten zweiter Klasse und als Bittsteller vorkämen, die unter Umständen von Arzt zu Arzt und von einem Kostenträger zu einem anderen geschickt werden. Stötzner-Manderscheid brachte die Ambivalenz des Problems gesundheitlicher Versorgung auf den Punkt: „Das Gesundheitssystem passt nicht für Menschen mit Behinderung. Und es passt auch nicht für die behandelnden Ärzte. Es muss grundlegend variiert werden unter dem Aspekt, inwieweit die Behandlung und die Versorgung Patienten mit Behinderungen gerecht wird.“

Zurückhaltend, was zusätzliche gesetzliche Regelungen anbelangt, zeigte sich dagegen die parlamentarische Staatssekretärin im Bundesministerium für Gesundheit, Annette Widmann-Mauz, bei der Veranstaltung. Der Behindertenrat habe einen umfassenden Maßnahmenkatalog vorgelegt, mit dem angestrebt sei, die Versorgung zu verbessern, „die Vorschläge werden wir sorgsam prüfen“, so Widmann-Mauz.

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