Invasive Behandlung auf Patientenwunsch
Anhand eines konkreten Beispiels wird über eine im DGZMK-Arbeitskreis Ethik in der Zahnheilkunde geführte Debatte über ethische Aspekte von invasiven, „auf ausdrücklichen Wunsch des Patienten“ vorgenommenen Behandlungsmaßnahmen berichtet.
In der Fortbildungsliteratur finden sich oft Falldarstellungen, die hinsichtlich der Diagnostik, Patientenaufklärung und Indikationsstellung Fragen aufwerfen. Dies liegt unter anderem darin begründet, dass es in den meisten Artikeln um die Darstellung bestimmter Behandlungstechniken und weniger um Behandlungsentscheidungen geht. Häufig ist die Beschreibung der Ausgangssituation eher knapp gehalten. Bereits vor einigen Jahren wurde auf der Grundlage einer Analyse von Fachzeitschriften die Empfehlung ausgesprochen, Minimalstandards zur Ausgangsdokumentation einzuführen [4]. Beispielhaft für die aufgezeigte Problematik werden im Folgenden zwei Abbildungen aus einer Fachzeitschrift präsentiert [6]. In dem zitierten Artikel [6] werden unter dem Stichwort ,Ausgangssituation’ folgende Informationen geliefert:
• Eine Patientin störten ein leichtes Diastema und eine ungleichmäßige, raue Oberfläche der natürlichen Zähne (siehe Abbildung 1). Die Patientin wünschte wegen einer in Kürze anzutretenden Urlaubsreise eine baldige Verbesserung des Aussehens. Weitere Angaben zur Ausgangssituation fehlen.
• Zur Erzielung einer „harmonischen, jugendlichen Frontzahnversorgung“ wurden unter anderem die Zähne 14 bis 24 für Überkronungen präpariert (Abbildung 2). Das weitere technische Vorgehen wird im Verlauf des Artikels im Detail beschrieben. Am Schluss des Artikels weist der Autor darauf hin, dass die Patientin mit dem Aussehen der neuen Versorgung sehr zufrieden ist.
Es wird davon ausgegangen, dass der behandelnde Zahnarzt nach bestem Wissen und Können die Ausgangsdiagnostik vorgenommen hat und eine umfangreiche Aufklärung über Behandlungsalternativen (etwa Zahnreinigungen, Polituren zur Glättung von Oberflächen, restaurative Versorgungen mit direkt eingebrachten Kompositen) unter Berücksichtigung von Prognose, Nutzen-Risiko-Abwägung und Verhältnismäßigkeit des Mitteleinsatzes erfolgte. Des Weiteren wird unterstellt, dass die Patientin durch die Aufklärung nach ausreichender Bedenkzeit in die Lage versetzt wurde, selbstbestimmt und autonom zu entscheiden und die nachfolgende prothetische Behandlung mittels Überkronungen zahlreicher Zähne auf ihren ausdrücklichen Wunsch hin erfolgte.
Es stellt sich die Frage, wie diese Behandlungsentscheidung unter dem Aspekt ethischer Normen bewertet werden kann.
Umfrage durchgeführt
An die 38 Mitglieder des DGZMK-Arbeitskreises Ethik in der Zahnheilkunde wurde der in Tabelle 1 aufgeführte Fragebogen mit der Bitte um Beantwortung und Kommentare unter Berücksichtigung der eingangs getroffenen Angaben versandt. Die Rücklaufquote betrug 14 von 38. Einige der Mitglieder füllten den Fragebogen aus, ohne weitere Kommentare abzuliefern. Andere verzichteten auf Eintragungen im Fragebogen, gaben dafür aber einen Kommentar ab. In Tabelle 1 sind die Auswertungen des Fragebogens aufgelistet. Übereinstimmend wurde die vorgestellte Behandlung eher als eine restaurative Überversorgung mit nicht gegebener Indikation angesehen, die die Befragten selbst nicht vorgenommen hätten. Ein (größerer) Anteil der Befragten sah ethische Bedenken, ein (kleinerer) Anteil hielt den Eingriff hingegen für ethisch vertretbar.
Diskussion
Die Erörterung ethischer Fragestellungen war in der Vergangenheit in der zahnärztlichen Profession Deutschlands nicht sehr weit verbreitet [1,2,3]. Zur Zeit wird diesem Themenkreis mehr Bedeutung zugemessen, was unter anderem in der Gründung eines entsprechenden DGZMK-Arbeitskreises sichtbar wurde. Besonderes Augenmerk wird unter anderem auf die Patientenautonomie gerichtet [5].
Die Ergebnisse dieser Erhebung zeigen, dass es zu ethischen Fragestellungen unterschiedliche Positionen gibt, die eine Erörterung nahelegen. Im Folgenden werden einige Punkte herausgehoben, die in den Antworten und Kommentaren eine wichtige Rolle gespielt haben.
Verzerrte Darstellung des Berufsstandes
Ein Arbeitskreismitglied befürchtete, dass durch die hier präsentierte Einzelfalldarstellung der Berufsstand kollektiv in Misskredit gerate und lehnte deshalb eine Erörterung der von ihm als suggestiv empfundenen Fragen generell ab. Zu dieser Einschätzung ist anzumerken, dass man zahnärztlicherseits regelmäßig mit Fragen der Unter- und Überversorgung konfrontiert wird. Beides kann mit ethischen Erwägungen und auch mit Konflikten verbunden sein. Eine Aufdeckung solcher Konflikte dürfte eher zur Problemlösung beitragen als deren Verdrängung. Es bietet sich als Diskussionsanstoß unter anderem an, in der Literatur publizierte Falldokumentationen heranzuziehen. Durch die Auswahl bereits älterer Artikel kann die Brisanz der Thematik etwas abgefedert werden. Die Offenlegung bestehender ethischer Dilemmata auf der Grundlage von Fallbeispielen, Transparenz hinsichtlich des Meinungsbildungsprozesses und ein partizipativer Diskussionsstil sind Kennzeichen eines selbstkritischen, eigenverantwortlichen Berufsstandes und somit letztlich ein Ausweis von Professionalität.
Patientenautonomie
Einige Mitglieder sahen die vorgenommene Behandlung zwar nicht a priori als unethisch an, würden sie aber selbst nicht durchführen. Sie wiesen darauf hin, dass – bei allem Respekt vor der Patientenautonomie und den Patientenwünschen – auch die Fachkompetenz, die Verantwortung und die Fürsorge des Arztes zu würdigen seien. Man könne im Einzelfall einen Patienten auch beispielsweise an einen anderen Behandler verweisen.
Dieser Aspekt erscheint als sehr wichtig und kommt bei der Diskussion über die Patientenautonomie oft zu kurz. Allerdings dürfte es einem im ökonomischen Wettbewerb stehenden Zahnarzt, der auch die betriebswirtschaftlichen Erfordernisse der Praxisführung im Auge haben muss, nicht immer leicht fallen, einen potenziell zahlungskräftigen und -willigen Patienten wegzuschicken. Der Kommentar „wenn ich’s nicht mache, macht’s ein anderer“ zeigt diese Problematik anschaulich auf.
Würdigung des Leidensdrucks
Ein Kommentar lautete: „Wenn der Mensch leidet, ist der Arzt aufgerufen, zu helfen“.
Ein weiterer Kommentar warf in diesem Zusammenhang folgende Fragen auf: „Warum will eine Patientin – vermutlich eben gerade nicht mehr in jugendlichem Alter – jetzt (auf einmal) eine „harmonische und jugendliche“ Frontzahnversorgung? Und warum gerade vor einer in Kürze anstehenden Urlaubsreise?
Welche Bedeutung haben gerade jetzt für die Patientin „Harmonie und Jugendlichkeit“, und welche Bedeutung hat die Urlaubsreise – geht es hier um Beziehungswünsche und/oder -konflikte? Unter welchem Druck steht die Patientin, welcher Druck wird möglicherweise hier auf den behandelnden Zahnarzt weitergereicht ausgeübt? Wie steht es also in diesem Fall um die Entscheidungsautonomie beider Seiten?“
Hier wären die Interpretation des Terminus „subjektiver Leidensdruck“ sowie die Einordnung des – in diesem Fall offenbar dringend vorgebrachten – Patientenwunsches von Bedeutung. Wenn beispielsweise ein Patient mit einer nur geringfügigen, in Sprechabstand kaum wahrnehmbaren Veränderung (hier: leichtes Diastema) einen extrem großen subjektiven Leidensdruck verspürt und dem Zahnarzt mitteilt, dass ihm dadurch jegliche Lebensqualität geraubt werde, sollte gerade in einem solchen Fall kritisch hinterfragt werden, ob man mit einem irreversiblen, stark invasiven Eingriff dem Patientenwohl langfristig dient. Es könnte sein, dass der Zahnbefund nur vorgeschoben ist und der Patient mit einer zunächst nur leicht erscheinenden Dysmorphophobie von anderen, außerhalb der Zahnmedizin liegenden Problemen belastet wird, die durch zahnärztliche Eingriffe kaum gelöst werden können. Insofern erscheint es gerechtfertigt, neben der Autonomie des Patienten auch die Inte grität des Zahnarztes im Auge zu behalten, selbst wenn dieser Aspekt durch den zunehmend negativ belegten Begriff des „Paternalismus“ zuweilen in Frage gestellt wird.
Behandlung nach aktuellem Wissensstand
Es wurde angemerkt, dass die Beurteilung der Behandlung vor der Komposit-Ära vermutlich anders ausgefallen sei.
Hier ist festzustellen, dass Überkronungen in der Literatur als sehr stabile und langlebige Versorgungen ausgewiesen sind, wohingegen die Datenlage speziell bei Formkorrekturen, die mittels Kompositen ausgeführt wurden, geringer ist. Andererseits erscheint die lange Überlebensdauer von Kronen noch nicht als alleiniges Entscheidungskriterium, da bekanntlich die irreversiblen Hartsubstanzverluste und die potentiellen endodontischen und parodontalen Implikationen berücksichtigt werden müssen.
Mangelnde Darstellung von Ausgangssituationen bei Falldarstellungen
Es wurde vermerkt, dass bei häufig unzureichenden diagnostischen Angaben (wie dies auch für das präsentierte Beispiel zutrifft) eine fundierte Entscheidung über ein angemessenes weiteres Vorgehen kaum möglich sei. Insofern erscheine es lohnend, auch die Qualitätssicherung in jenen Redaktionen, die über die Publikation von Fallpräsentationen entscheiden, zu erhöhen. Es wurde vermerkt, dass bei häufig unzureichenden diagnostischen Angaben (wie dies auch für das präsentierte Beispiel zutrifft) eine fundierte Entscheidung über ein angemessenes weiteres Vorgehen kaum möglich sei. Insofern erscheine es lohnend, auch die Qualitätssicherung in jenen Redaktionen, die über die Publikation von Fallpräsentationen entscheiden, zu erhöhen.
Dies wäre zweifellos eine wichtige Aufgabe. Allerdings ergäbe sich aus der Forderung, als Voraussetzung einer Publikation Mindestqualitätsstandards hinsichtlich Ausgangsdiagnostik und Patientenberatung einzufordern, die Konsequenz, dass unzählige Artikel – insbesondere in Marketingzeitschriften – nicht mehr erscheinen könnten. Dies wäre für viele Publikationsorgane, die zum einen bestimmte Kundenerwartungen zu erfüllen haben und zum anderen sich vornehmlich durch Anzeigen finanzieren, vermutlich eine schwierige Entscheidung.
Art des Publikationsorgans
Es wurde eingewandt, dass die Fallpräsentation in einem zahntechnischen Journal erfolgte und dort Informationen zur Ausgangssituation des Patienten und zu Behandlungsentscheidungen kaum eine Rolle spielten.
Dem wäre entgegenzuhalten, dass sich – wie auch im hier besprochenen Fall – etliche Zeitschriften dieser Art sowohl an Zahntechniker als auch an Zahnärzte wenden. Außerdem wurde in der vorliegenden Präsentation ausdrücklich auf die Vorgeschichte und die Erwartungshaltung der Patientin hingewiesen (auf Grund des Wunsches nach einer Verbesserung des Aussehens und einer bevorstehenden Urlaubsreise wurde vom Zahntechniker eine in kurzer Zeit realisierbare Überkronungsform verlangt. Es wurde ihm nur wenig Zeit zur Realisierung eingeräumt). Schließlich wäre zu erörtern, ob es nicht günstig wäre, auch dem Leser zahntechnischer Zeitschriften einige relevante Basisinformationen über den Ausgangszustand (zum Beispiel parodontaler oder funktioneller Art) der präsentierten Falldokumentationen zu liefern. Unbestritten bleibt, dass die Verantwortung über die Behandlungsentscheidungen beim Zahnarzt und nicht beim Zahntechniker liegt.
Schlussfolgerungen
Die Vorstellung und Diskussion der präsentierten Falldokumentation erlaubt folgende Schlussfolgerungen:
• Ein Konsens bei der ethischen Bewertung von Behandlungsentscheidungen ist nicht immer möglich. Gleichwohl hilft der Austausch von Argumenten der persönlichen Meinungsbildung; zudem dient er dem Erkenntnisgewinn.
• Speziell in der Abwägung zwischen der Erfüllung des Patientenwunsches (Patientenautonomie) und den Vorstellungen des Zahnarztes kann es zu Konflikten kommen. Die Erörterung konkreter Fallbeispiele kann diese Konflikte zwar nicht immer lösen, aber sie kann sie transparent machen. Damit lässt sich eine Diskussionskultur über ethische Fragen initiieren, die dazu beiträgt, das Selbstverständnis des Berufsstandes besser als bisher zu beschreiben.
• Bei Behandlungsfällen, die ein ethisches Dilemma bieten, sollten wirtschaftliche Aspekte der Entscheidungsfindung keine zentrale Rolle spielen.
• Das Argument, die Erörterungen ethischer Problemfälle (zum Beispiel über Unterund Überversorgung) sei wegen vermeintlicher „Nestbeschmutzung“ zu vermeiden, greift zu kurz. Die explizite Offenlegung bestehender ethischer Dilemmata auf der Grundlage von Fallbeispielen, ein transparenter Meinungsbildungsprozess und ein partizipativer Diskussionsstil sind Kennzeichen eines selbstkritischen, eigenverantwortlichen Berufsstandes und somit letztlich ein Ausweis von Professionalität und „Good Clinical Practice“.
• Durch die Einführung von diagnostischen Mindeststandards bei der Präsentation von Falldokumentationen in der Fachliteratur könnten Diskussionen über Behandlungsentscheidungen auf wesentlich besserer Grundlage geführt werden, als dies bislang häufig der Fall war. Dies gilt sowohl für zahnärztliche als auch für zahntechnische Fachzeitschriften.
Obwohl die Erörterung eines in der Literatur publizierten Fallberichts Verallgemeinerungen ausschließt, zeigen die hier vorgestellten Antworten und Kommentare dennoch, dass sich dieses Vorgehen gut als konkreter Ausgangspunkt von Debatten über ethische Fragestellungen eignet. Um einen gewissen Abstand zu erhalten, bieten sich Publikationen, die bereits einige Zeit zurückliegen, dazu besonders an.
Die vielfältigen Diskussionsbemerkungen konnten in zahlreichen Facetten deutlich machen, dass allein der Hinweis auf den Patientenwunsch („Der Patient wollte es so“) nicht ausreicht, um eine invasive Behandlung stichhaltig zu begründen.
Prof. Dr. Dr. H. J. StaehlePoliklinik für ZahnerhaltungskundeUniversitätsklinikum HeidelbergIm Neuenheimer Feld 400D-69120 Heidelberghans-joerg.staehle@med.uni-heidelberg.de