groß Patientin mit überhöhten ästhetischen Erwartungen
Zum Fall: SF, eine Patientin in mittleren Jahren mit einem sehr stark ausgeprägten Abrasionsgebiss, stellt sich bei Dr. DB mit dem Wunsch einer Bisshebung und einer prothetischen Neuversorgung vor. Letztere soll ihr wieder zu „schönen hellen Zahnkronen“ und zu ihren „alten Gesichtsproportionen“ verhelfen. Die Patientin gibt einen erheblichen Leidensdruck an: Durch die Zahnabrasionen sei ihr unteres Gesichtsdrittel zunehmend „kürzer“, ihre Nase dagegen „immer riesiger“ geworden; ihr äußeres Erscheinungsbild gleiche mittlerweile „dem einer Hexe“ und sie traue sich kaum noch unter die Leute. Verstärkt wird der Eindruck der Patientin durch eine angeborene linksseitige Parese der Gesichtsmuskulatur, welche insbesondere beim Lächeln zu einem asymmetrischen Verlauf der Lippe führt.
SF war bereits drei Jahre zuvor mit demselbenAnliegen bei Dr. DB vorstellig geworden: Damals hatte sie eine starke Überempfindlichkeit der Zähne gegenüber thermischen und chemischen Reizen gezeigt sowie starkes nächtliches Knirschen und ein „ausgeprägtes Kiefergelenksknacken“ beklagt. Der klinische Befund hatte intraoral eine Karies an Zahn 16, einzelne Füllungen sowie insuffiziente metallkeramische Brückenversorgungen im linken und rechten Unterkiefer erbracht. Der parodontale Ausgangszustand war ohne pathologischen Befund, und die Röntgenuntersuchung hatte eine Insuffizienz der Brücken im linken und rechten Unterkiefer ergeben. Im nachfolgenden Beratungsgespräch hatte die Patientin überdies eine erhebliche Stressbelastung eingeräumt: SF hatte ihren Alltag als Mutter dreier Kinder als „sehr anstrengend“ beschrieben; zudem sei ihre Ehe in die Brüche gegangen, was ihr psychisch sehr zu schaffen mache. Dr. DB versorgte zum damaligen Zeitpunkt lediglich die Molarenkaries und nahm zunächst von einer prothetischen Neuver - sorgung Abstand. In einem offenen und vertrauensvollen Gespräch wies er die Patientin vielmehr auf den möglichen Zusammenhang zwischen den ausgeprägten Gelenkbeschwerden und den bestehenden privaten Belastungen hin und riet zu einer psychotherapeutischen Beratung beziehungsweise Behandlung. Wegen der ausgeprägten Bisssenkung und der Gelenkprobleme empfahl er außerdem eine Funktionsanalyse. Sie wurde nachfolgend durch einen spezialisierten Kieferorthopäden durchgeführt. Aufgrund der festgestellten totalen anterioren Diskusverlagerung schloss sich über einen Zeitraum von etwa zwei Jahren eine relaxierende und stabilisierende Schienentherapie an. Aus ästhetischen Gründen wurden diese Schienen im Ober- und Unterkiefer in zahnähnlicher Form hergestellt.
Als sich SF nun erneut mit der Frage einer prothetischen Neuversorgung bei Dr. DB vorstellt, verweist sie auf den Erfolg ebendieser Funktionstherapie: Knirschen und Kiefergelenksknacken seien verschwunden, und an die eingestellte Bisshöhe habe sie sich gewöhnt. Nach der zweieinhalbjährigen „Schienentherapie“ habe sie nun aber sowohl von der Behandlung durch den Kieferorthopäden als auch von herausnehmbaren „Schienen-Lösungen“ genug und wolle „endlich eine definitive Lösung“. Auf Nachfrage des Zahnarztes räumt sie ein, in der Zwischenzeit keine psychotherapeutische Betreuung in Anspruch genommen zu haben. Sie lebe nunmehr in Scheidung. Für eine Psychotherapie sehe sie eigentlich keinen Bedarf. Ihr fehlten lediglich schöne neue Zähne.
Dr. DB ist unsicher: Einerseits verspürt er einen gewissen Handlungsdruck, andererseits fragt er sich, ob die Patientin tatsächlich an psychischer Stabilität gewonnen hat, denn sie reagiert in einigen Gesprächssituationen sehr emotional und scheint zudem überzogeneErwartungen zu haben. So betont sie mehrfach, sich auf „ihr altes Gesicht“ zu freuen. Auch irritiert ihn, dass SF für die in Frage stehende prothetische Neuversorgung nachdrücklich die Zahnfarbe A1 einfordert, während ihr natürliches Gebiss der Zahnfarbe C4 am nächsten kommt
Ein weiterer Aspekt gibt ihm zu denken: Um die erforderliche Bisshebung von etwa sechs Milimeter zu realisieren und die Zähne wie gewünscht zu überkronen, wäre es notwendig, insbesondere im Frontzahnbereich einige Zähne zu devitalisieren und mittels Glasfaserstiften stabile Aufbauten herzustellen, um so die Scherkräfte auf eine größere Fläche zu übertragen. Als Dr. DB sie über das Risiko der Devitalisierungen und mögliche Komplikationen und Spätfolgen aufklärt, signalisiert SF umgehend ihr Einverständnis mit den Worten „Das ist für mich okay“.
Dr. DB vereinbart mit der Patientin einen weiteren Termin und verspricht ausweichend, sich bis dahin „schlaue Gedanken zu machen“. Tatsächlich sucht er nach Antworten auf mehrere Fragen:
• Besteht für ihn eine moralische Pflicht, die Patientin prothetisch zu versorgen, nachdem er sie – jedenfalls aus der Perspektive der Patientin – zuvor drei Jahre „hingehalten“ hat?
• Hat er als Zahnarzt das Recht oder vielleicht sogar die Pflicht gegenüber der Patientin auf eine psychotherapeutische Beratung zu bestehen?
• Kann er im vorliegenden Fall die Devitalisierung mehrerer aktuell vitaler Zähne im Rahmen der Behandlung vertreten?
Dirk Leisenberg und Dominik Groß
Dr. med. dent. Dirk LeisenbergRingstr. 52 B36396 Steinau
Dr. med. dent. Gereon Schäfer/Univ.-Prof. Dr. med. Dr. med. dent.Dr. phil. Dominik GroßInstitut für Geschichte, Theorie und Ethik der MedizinUniversitätsklinikum der RWTH AachenWendlingweg 2D-52074 Aachen
Prof. Dr. med. dent. Ralf VollmuthOberfeldarzt – Leiter ZahnarztgruppeFachsanitätszentrum HammelburgRommelstr. 31D-97762 Hammelburg
Dr. med. dent. Hans-Otto BermannJoachimstraße 5440547 DüsseldorfMedizinpresse@t-online.de