Die Fremdkörperaspiration
Monika Daubländer, Peer Kämmerer, Martin Emmel, Gepa Schwidurski-Maib
Die Implantation steht kurz vor ihrem Abschluss, nur noch das letzte der vier Implantate soll mithilfe der Handratsche in die sorgfältig präparierte Knochenkavität eingebracht werden. Der implantologisch versierte Zahnarzt setzt das Implantat an, um es unter Einhaltung des chirurgischen Protokolls an seinen Bestimmungsort zu verbringen, als der Patient urplötzlich aus dem Behandlungsstuhl aufschreckt und sich wild fuchtelnd Platz zu verschaffen sucht. Dem Behandler gelingt es noch, während der Aufwärtsbewegungsphase des Patienten,durch einen kühnen Handgriff einige der losen Teile aus dem Mund des Patienten zu bergen. Doch beim genaueren Betrachten der Einzelteile fällt sofort auf, dass etwas fehlt. Auch das erwartete Hustengeräusch des Patienten bleibt aus. Mit hochrotem Kopf, panischem Blick und weit geöffnetem Mund sitzt der Patient jetzt aufrecht im Behandlungsstuhl. Er scheint etwas mitteilen zu wollen, bringt jedoch keinen Ton heraus, während er sich mit beiden Händen an den Hals fasst.
Der Zahnarzt schaltet sofort und fragt den Patienten: „Haben Sie einen Erstickungsanfall?“, der Patient nickt hektisch. Sofort zieht der zahnärztliche Kollege den Patienten aus dem Behandlungsstuhl. Mit einer Hand hält er den Brustkorb des Opfers und beugt ihn nach vorn. Anschließend verabreicht der Zahnarzt mit dem Ballen der anderen Hand fünf kräftige Schläge zwischen die Schulterblätter.
Diese Maßnahme tut ihre Wirkung: Der Patient hustet heftig, schluckt und macht zur Erleichterung aller Anwesenden einen tiefen Atemzug. Doch wo ist das fehlende Instrument geblieben? Der Patient glaubt etwas verschluckt zu haben, gibt aber zudem noch „ein seltsames Gefühl im Hals“ an. Aufgrund derunklaren Lage wird der Patient durch den alarmierten Rettungsdienst in das nahegelegene Krankenhaus gebracht. Dort wird nach röntgenologischer Lagebestimmung das vermisste Instrument endoskopisch aus dem Magen des Patienten entfernt.
Diagnose
Schwere Atemwegsverlegung
Mit Aspiration bezeichnet man das Eindringen von Material in die Atemwege bis unter die Glottisebene. Umgangssprachlich wird es als „etwas in den falschen Hals bekommen“ oder „sich verschlucken“ bezeichnet. Am häufigsten kommt die Fremdkörperaspiration in der Kinderheilkunde vor. Hauptsächlich betroffen sind ältere Säug-linge und Kleinkinder aufgrund ihrer generellen Tendenz, Gegenstände in den Mund zu nehmen. Die am häufigsten von Kindern aspirierten Fremdkörper sind Erdnüsse, aber auch Bonbons oder kleine Spielzeugteile. Aber gerade auch im Rahmen einer zahnärztlichen Behandlung und der damit verbundenen Manipulation im Bereich der oberen Atemwege besteht ein erhöhtes Risiko einer Fremdkörperaspiration (Prothesenteile, Abformmaterialien, Instrumente und mehr).
Differenzialdiagnose
• Synkope
• Herzinfarkt
• Krampfanfall
• allergische Reaktion
• andere Zustände, die eine plötzliche Atemnot, eine Zyanose oder den Verlust des Bewusstseins hervorrufen können
Patho-/Physiologie
Die Verlegung der Atemwege durch einen Fremdkörper ist eine seltene, aber potenziell behandelbare Todesursache. Da die meisten Atemwegsverlegungen zum Beispiel beim Essen entstehen, werden sie üblicherweise beobachtet. So besteht oft die Möglichkeit zur frühzeitigen Intervention, während der Betroffene bei Bewusstsein ist.
Fremdkörper im sogenannten Einröhrensystem (Stimmbänder bis zur Bifurkation der Trachea) führen zu partiellen oder totalen Atemwegsverlegungen, die mit einer deut-lichen Symptomatik einhergehen. Fremdkörper im Mehrröhrensystem können hingegen oftmals asymptomatisch bleiben.
Allgemeine Diagnostik
Weil der Schlüssel zum erfolgreichen Out-come im Erkennen einer Atemwegsverlegung liegt, ist es wichtig, diesen Notfall nicht mit einer Ohnmacht, einem Herzinfarkt, einem Krampfanfall oder anderen Zuständen, die eine plötzliche Atemnot, eine Zyanose oder den Verlust des Bewusstseins hervorrufen können, zu verwechseln. Fremdkörper können eine milde oder eine schwere Atemwegsverlegung verursachen. Die Zeichen und Symptome, anhand derer zwischen einer milden und einer schweren Verlegung differenziert werden kann, sind in der Tabelle zusammengefasst. Es ist wichtig, die ansprechbare Person zu fragen: „Haben Sie einen Erstickungsanfall?“
Allgemeine Therapie
Es gibt keine Studien, die ein routinemäßiges Auswischen mit dem Finger befürworten, um die Atemwege zu säubern, wenn keine sichtbare Atemwegsverlegung besteht. Vier Fallberichte haben Schädigungen des Patienten oder des Helfers während dieses Manövers dokumentiert. Das blinde Auswischen des Mundes mit dem Finger soll daher vermieden werden. Feste Fremdkörper werden manuell nur entfernt, wenn sie sichtbar sind. Ist der Fremdkörper zu sehen, ist eine Entfernung unter Umständen mittels der zahnärztlichen Absauganlage ebenso möglich wie mit einer manuellen Absaugpumpe. Feste Fremdkörper lassen sich jedoch oftmals nur mit speziellen Hilfsmitteln wie der Zange nach Magill und dem Laryngoskop entfernen. Derartige Versuche der Fremdkörperentfernung sind nur in gesicherter Oberkörpertieflage zulässig.
Milde Atemwegsverlegung
Zeigt ein Patient Zeichen einer milden Atemwegsverlegung, wird er durch den Helfer ermutigt, mit dem Husten fortzufahren. Darüber hinausgehende Maßnahmen sind in dieser Situation nicht angezeigt.
Husten erzeugt hohe und anhaltende Atemwegsdrücke und kann zum Ausstoß des Fremdkörpers ausreichen. Eine aggressive Behandlung mit Rückenschlägen, Oberbauch- und Brustkorbkompressionen kann potenziell schwere Komplikationen hervorrufen und könnte die Atemwegsverlegung verschlimmern. Dies soll Patienten vorbehalten bleiben, die Zeichen einer schweren Atemwegsverlegung aufweisen. Patienten mit einer milden Verlegung des Atemwegs sollen unter kontinuierlicher Beobachtung bleiben, bis es ihnen besser geht, weil sich eine schwere Verlegung noch entwickeln kann.
Schwere Atemwegsverlegung
Zeigt eine Person Zeichen einer schweren Atemwegsverlegung und ist bei Bewusstsein, werden zunächst fünf Rückenschläge verabreicht. Dabei wird wie folgt vorge-gangen: der Helfer stellt sich seitlich etwas hinter das Opfer. Er hält den Brustkorb des Patienten mit einer Hand und beugt die Person nach vorn, damit das verlegende Objekt, wenn es sich löst, aus dem Mund herausfallen kann und nicht etwa den Atemweg weiter hinunterrutscht. Anschließend verabreicht der Helfer mit dem Ballen der anderen Hand fünf kräftige Schläge zwischen die Schulterblätter (Abbildung 4). Falls die Atemwegsverlegung mit fünfRückenschlägen nicht beseitigt werden kann, werden bis zu fünf Herzdruckmassagen des Oberbauchs durchgeführt: Dazu stellt sich der Helfer hinter das Opfer und legt beide Arme um den Oberbauch des Opfers. Der Patient wird sodann nach vorn gelehnt. Die erste Hand wird zur Faust geballt und zwischen Nabel und Brustkorb gelegt (Abbildung 5). Anschließend wird die zur Faust geballte Hand mit der anderen umgriffen (Abbildung 6) und kräftig nach innen und oben gezogen (Abbildung 7). Diese Maßnahme kann bis zu fünfmal wiederholt werden. Falls die Verlegung immer noch nicht beseitigt ist, werden im Weiteren abwechselnd fünf Rückenschläge und fünf Kompressionen des Oberbauchs durchgeführt. Falls der Patient zu irgendeiner Zeit bewusstlos wird, wird er vom Helfer vorsichtig zu Boden gleiten gelassen. Der Rettungsdienst wird unverzüglich alarmiert und die Wiederbelebung mit Herzdruckmassagen eingeleitet.
Klinische Daten zum Ersticken sind größtenteils retrospektiv und anekdotisch. Bei Erwachsenen und Kindern über einem Jahr mit Bewusstsein und mit einer kompletten Atemwegsverlegung durch Fremdkörper haben Fallberichte die Effektivität von Rückenschlägen sowie Oberbauch- und Brustkorbkompressionen gezeigt. In ungefähr 50 Prozent der Fälle kann die Atemwegsverlegung nicht durch eine einzige Maßnahme beseitigt werden. Die Erfolgsaussichten steigen bei der Kombinationvon Rückenschlägen, Oberbauch- und Brustkorbkompressionen.
Eine randomisierte Studie an Leichen und zwei prospektive Studien an anästhesierten Freiwilligen haben gezeigt, dass mit Brustkorbkompressionen im Vergleich zu Oberbauchkompressionen höhere Atemwegsdrücke erzeugt werden können. Weil diese Brustkorbkompressionen fast identisch mit Herzdruckmassagen sind, werden Ersthelfer mittlerweile unterrichtet, mit Wiederbelebungsmaßnahmen zu beginnen, wenn ein Patient mit bekannter oder vermuteter Atemwegsverlegung durch Fremdkörper bewusstlos wird. Der Zweck der Herz-druckmassagen ist es in erster Linie, bei dem kraft- und bewusstlosen Opfer die Verlegung der Atemwege aufzuheben und erst in zweiter Linie die Unterstützung des Kreislaufs. Daher sind Herzdruckmassagen erforderlich, selbst wenn ein professioneller Ersthelfer in diesem Fall noch einen Puls fühlen würde. Wenn die Atemwegsverlegung nicht beseitigt werden kann, können eine fortschreitende Bradykardie und Asystolie auftreten. Während der Wiederbelebungsmaßnahmen sollte in diesem Fall jedes Mal, wenn die Atemwege frei gemacht werden, der Mund des Patienten schnell auf Fremdkörper inspiziert werden, die teilweise ausgestoßen worden sein könnten. Dagegen ist während der Wiederbelebung in anderen Fällen eine routinemäßige Inspektion der Mundhöhle auf Fremdkörper nicht erforderlich.
Manchmal ist es nicht möglich, eine durch Fremdkörper bedingte Verlegung des Kehlkopfes durch die genannten Maßnahmen zu therapieren. Unter diesen Umständen kann die Zufuhr von Sauerstoff über eine Nadel oder eine chirurgische Koniotomie lebensrettend sein. Eine Tracheotomie ist unter Notfallbedingungen kontraindiziert, da sie eine zeitraubende und riskante Maßnahme darstellt, die ein beträchtliches Maß an chirurgischem Geschick und Ausrüstung voraussetzt.
Die chirurgische Koniotomie hingegen ermöglicht einen definitiven Luftweg, der die Beatmung sicherstellen kann, bis eine semielektive Intubation oder Tracheotomie durchgeführt wird. Die Nadelkonitomie ist eine Methode, die nur kurzzeitig eine Oxygenierung ermöglicht.
Kritische Wertung dieser Notfallsituation
Im beschriebenen Fallbeispiel reagierte der behandelnde Kollege sofort und korrekt auf die dargestellte Komplikation während eines implantologischen Eingriffs. Entscheidend ist das schnelle Erkennen des Notfallbildes der Atemwegsverlegung durch einen Fremdkörper, in diesem Fall einem zahnärztlichen Instrument. Wichtig ist es, die ansprechbare Person zum Beispiel zu fragen: „Haben Sie einen Erstickungsanfall?“ Dies bestätigt im dargestellten Fall die Verdachtsdiagnose. Auch die gewählte Therapie ist korrekt und entspricht den Leitlinien des European Resuscitation Councils (ERC) in der aktuellen Version aus dem Jahr 2010.
Univ.-Prof. Dr. Dr. Monika DaubländerPoliklinik für Zahnärztliche ChirurgieUniversitätsmedizin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (KöR)Augustusplatz 255131 Mainz
Dr. Dr. Peer KämmererKlinik für Mund-, Kiefer- und GesichtschirurgieUniversitätsmedizin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (KöR)Augustusplatz 255131 Mainz
Dr. Martin EmmelPraxis Dr. MohrThilmanystr. 554634 Bitburg
Dr. Gepa Schwidurski-MaibHans-Katzer-Str. 450858 Köln
INFO
Notfallserie
Eine Notfallsituation ist eine besondere Herausforderung. Aber nicht jedes Praxisteam hat gemeinsam eine Beatmung geübt und für den Tag X geprobt. Aber nur das eingespielte Team kann schnell und richtig handeln. Die zm stellen ab Heft 2/2012 in jeder geraden Ausgabe eine Notfallsituation vor, die im Praxisteam besprochen werden sollte, damit im Notfall jeder seinen Handgriff auch wirklich beherrscht. Denn Kompetenz rettet Leben. Alle Beiträge sind zu finden bei www.zm-online.de .
INFO
Mögliche Fehler bei der Therapie
• Fehlinterpretation einer Atemwegsverlegung
• Verschlimmerung einer milden Atemwegsverlegung durch eine „aggressive Therapie“
• Tieferrutschen des Fremdkörpers in die Trachea durch die Rückenschläge bei fehlender Oberkörpertieflagerung
• blindes Auswischen der Mundhöhle mit den Fingern
• Ansaugen von Weichgewebe (Zunge, Uvula) bei blindem Absaugen
INFO
Präventive Maßnahmen
• Sicherung von Instrumenten (Endonadeln und mehr) durch geeignete Maßnahmen (zum Beispiel Zahnseide)
• keine Instrumentenwechsel (Bohrer, Übergabe durch die ZFA) über dem geöffneten Mund eines liegenden Patienten durchführen
• adäquate Kommunikation mit dem Patienten (Ankündigen von Maßnahmen)
• regelmäßiges theoretisches und gegebenenfalls praktisches Üben der Maßnahmen