Vaskuläre Malformation am Zungengrund
Daria Pakosch, Martin Kunkel
Eine 41-jährige Patientin wurde von ihrem Hals-, Nasen- und Ohrenarzt mit einer unklaren Zungenschwellung zugewiesen. Anamnestisch gab die Patientin an, dass zunächst eine Wangenschwellung nach einer zahnärztlichen Behandlung an einem Unterkiefer-Seitenzahn, die fünf Tage zuvor stattgefunden hatte, aufgetreten sei. Anschließend sei in den letzten drei Tagen eine Zungenschwellung dazu gekommen, die seither langsam progredient verläuft. Trotz des geringen Lebensalters gab die sehr schlanke Patientin an, an einem schweren obstruktiven Schlafapnoe-Syndrom mit einem Apnoe/Hypopnoe-Index um 60 zu leiden.
In der klinischen Untersuchung zeigte sich eine ausgeprägte Zungenschwellung (Abbildung 1a), wobei die Zunge den gesamten Mundraum ausfüllte. Auch extraoral zeigte sich beidseits eine deutliche Schwellung submandibulär (Abbildung 1b), so dass zunächst an eine akute dentogene Infektion mit cervicaler Ausbreitung gedacht wurde. Allerdings fand sich klinisch, abgesehen von der fortgeschrittenen Parodontalerkrankung (Abbildung 2), kein Hinweis auf eine Entzündungsursache. Außerdem erschien die submandibuläre Schwellung – anders als dies bei einer odontogen entzündlichen Infiltration zu erwarten wäre – eher weich und vor allem nur mäßig schmerzhaft. Zusätzlich war bei der Inspektion sehr auffällig, dass bereits die Schleimhaut der Lippe (Abbildung 3) und insbesondere auch die Mukosa von Zunge und Mundboden zahl-lose Gefäßektasien aufwiesen. Solche Gefäßveränderungen werden häufig als begleitendes Oberflächenphänomen bei vaskulären Malformationen erkennbar. Bei näherer Betrachtung der Panoramaschichtaufnahme (OPG) (Abbildung 2) sowie einer seitlichen Röntgenaufnahme (Abbildung 4) zeigten sich dann auch multiple kleine Verkalkungen im Sinne von Phlebolithen, so dass sich der Verdacht auf eine ausgedehnte vaskuläre Malformation erhärtete. Laborchemisch ließen sich erhöhte Werte der D-Dimere als Hinweis auf eine aktuell abgelaufene Thrombose nachweisen, so dass das akute Erkrankungsbild schließlich als Begleitreaktion einer Thrombose bei vorbestehender vaskulärer Malformation zu inter- pretieren war.
Die Magnetresonanztomografie (Ab-bildung 5) zeigte schließlich das gesamte Ausmaß einer weit ausgedehnten vaskulären Malformation, die große Teile der Zungenmuskulatur und des Zungengrundes durchsetzte. Die enorme Ausdehnung des Befunds mit Einengung des Atemweges im Zungengrundbereich stellte auch eine plausible Erklärung für die schwere Ausprägung des obstruktiven Schlafapnoe-Syndroms trotz fehlender typischer Risikofaktoren dar.
Nach angiografischer Darstellung erfolgte schließlich unter Vollnarkose eine selektive Embolisation zunächst der rechten A. lingualis. Obwohl dabei proximale Abgänge der A. lingualis erhalten wurden, um den Gewebeuntergang zu limitieren, machte die massive Begleitschwellung sogar eine temporäre Tracheotomie notwendig. Im weiteren Verlauf zeigte sich die Schwellung am Zungengrund und am Mundboden deutlich regredient, so dass nachfolgend das kontralaterale Stromgebiet der A. lingualis zur Therapie ansteht.
Diskussion
Die pathogenetischen Grundlagen und die wesentlichen Entitäten der vasku-lären Tumoren und Malformationen wurden im Rahmen dieser Fortbildungsreihe bereits umfangreich dargestellt, so dass an dieser Stelle nur noch einmal daran erinnert werden soll, dass vaskuläre Malformationen zu den anlage-bedingten Anomalien gehören, die seit der Geburt (sichtbar oder auch nicht sichtbar) vorhanden sind und sich durch dysmorphe Gefäße ohne Proliferation auszeichnen. Im Gegensatz dazu gehört das Hämangiom aufgrund der zellulären Proliferation zu den echten benignen Neoplasien [Ernemann et al., 2003].
Im aktuellen Fall hatte eine spontane Thrombose einer zuvor nicht bekannten ausgedehnten Malformation zu einer Schwellung und einer inflammatorischen Begleitreaktion geführt, die zunächst den Eindruck einer odontogenen Infektion erweckt hatte. Trotz der enormen Seltenheit einer solchen Konstellation handelt es sich um eine ausgesprochen wichtige diagnos-tische Abgrenzung, die im Fall einer Verwechslung fatale Konsequenzen haben kann und die daher auch in der zahnärzt- lichen Praxis und insbesondere im Notdienst berücksichtigt werden muss. Eine intra- oder auch extraorale Inzision unter der Annahme einer odontogenen Infektion hätte im vorliegenden Fall zu einer massiven Blutung geführt, die unvorbereitet einen dramatischen, eventuell sogar lebensbedrohlichen Verlauf hätte nehmen können.
Diagnostisch richtungsweisend waren im vorliegenden Fall zum einen die Oberflächenveränderungen durch die deutlich ektatischen Gefäße an Lippe, Zunge und Mundboden (Abbildung 3) und die multiplen Phlebolithen, die bereits in der Routinediagnostik mittels OPG gut zu erkennen sind. Die Verteilung der Verkalkungen vermittelt auch einen ersten Eindruck über die Ausdehnung der Läsionen in der Tiefe. Beide Phänomene müssen als Alarmsymptome erkannt werden, wenn eine Inzision geplant ist.
Für die konkrete Therapieplanung sind neben der Farbduplex-Sonografie, mit der man das Flussvolumen bestimmen kann [Ernemann et al., 2003], die Magnetresonanztomografie und die Angiografie des Stromgebiets der A. carotis externa die wichtigsten Unter- suchungsmodalitäten. Bei gut definierten arteriellen Zuflüssen können interventionelle Verfahren zur selektiven Embolisierung bereits als isolierte Therapie erfolgreich sein. Ansonsten können präoperative Embolisierungen aber auch intraluminale Sklerosierungsmaßnahmen das Blutungsrisiko einer chirurgischen Therapie erheblich senken.
Dr. med. Daria PakoschProf. Dr. Dr. Martin KunkelKlinik für Mund-, Kiefer- und plastische GesichtschirurgieRuhr-Universität BochumKnappschaftskrankenhaus Bochum-LangendreerIn der Schornau 23-2544892 Bochumdaria.pakosch@ruhr-uni-bochum.demartin.kunkel@ruhr-uni-bochum.de
Fazit für die Praxis
• Intraoral gelegene vaskuläre Mal-formationen können über viele Jahre unbemerkt bleiben. Sie können aber auch zu funktionellen Beschwerden wie Schluck- und Sprachstörungen sowie zur Obstruktion der oberen Atemwege führen.
• Eine akute Thrombosierung einer vaskulären Läsion kann ähnliche klinische Symptome verursachen wie eine odontogene Infektion.
• Sofern sich konkrete Hinweise auf eine Gefäßläsion ergeben (Phlebo- lithen, oberflächliche Gefäßektasien, Anamnese!!) sollte keine Inzision vorgenommen, sondern zunächst eine Bildgebung veranlasst werden.
• Die Therapie ausgedehnter vaskulärer Malformationen erfordert häufig interdisziplinäre Behandlungskonzepte unter Einschluss interventioneller und chirurgischer Verfahren.