Trainieren im Team

Der Schlaganfall

Monika Daubländer, Peer Kämmerer, Martin Emmel, Gepa Schwidurski-Maib

Der Zahnarzt unterhält sich mit einem Patienten, hört sich seine Ausführungen zu schlechten Erfahrungen mit Zahnärzten und der dadurch bedingten Angst vor der anstehenden endodontischen Behandlung an, die einsetzende Wirkung der applizierten Leitungsanästhesie am Foramen mandibulae rechts mit 1,7 ml einer vierprozentigen Articainlösung und einem Adrenalinzusatz von 1:200 000 erwartend. Plötzlich unterbricht der Patient jedoch das Gespräch mitten im Satz und sackt bewusstlos in sich zusammen.

Es handelt sich um einen männlichen 58-jährigen Patienten in gutem Allgemein- und Ernährungszustand. Die Anamnese ist unauffällig, die Einnahme von Medikamenten und das Vorhandensein von Allgemeinerkrankungen wurden im Anamnesebogen verneint. Der Patient ist nach eigenen Angaben „kerngesund“. Einzig das „kleine Laster“ des Konsums von zwei Päckchen Zigaretten pro Tag hatte der Patient „zugegeben“.

Mit einer gewissen Routine wird die Taste mit dem roten Kreuz auf der Konsole der Behandlungseinheit betätigt. Noch während der einprogrammierten Umlagerung des Patienten in Schocklage erlangt dieser, nach nur wenigen Sekunden Ohnmacht, wieder das Bewusstsein. Er klagt jetzt, noch etwas benommen, über starke Übelkeit und ein ausgeprägtes Schwindelgefühl. Die Blutdruckmessung in liegender Position ergibt einen Wert von 130/70 (mmHg), bei einem Puls von 80. Ein Pulsoxymeter liefert über den angelegten Fingerclip einen Wert der Sauerstoffsättigung von 95 Prozent. Die durchgeführte Messung des Blutzuckers ergibt einen Wert von 156 mg/dl. Das Reden scheint dem Patienten immer noch Probleme zu bereiten, als er nun nach einiger Zeit in Schocklage erklärt, keine Besserung der Symptomatik zu bemerken, dafür aber ein zunehmendes Taubheitsgefühl im linken Bein zu verspüren. Die Verständigung des Notarztes durch eine Helferin wird sofort veranlasst und der Behandlungsstuhl langsam aufgerichtet. Die Untersuchung der unteren Extremitäten zeigt eine mittelschwere Hemiparese links, Berührungs- und Schmerzempfindung sind linksseitig stark herabgesetzt. Über eine Maske erhält der nun halb sitzende Patient Sauerstoff, die Vitalparameter Puls, Blutdruck und Sauerstoffsättigung werden regelmäßig kontrolliert. Die Etablierung eines intravenösen Zugangs schlägt fehl. Beim Eintreffen des Notarztes sind Blutdruck, Herzfrequenz und Blutzucker unverändert. Die Sauerstoffsättigung liegt nun bei 100 Prozent.

Der Notarzt legt einen intravenösen Zugang und veranlasst die umgehende stationäre Aufnahme des Patienten in einer neurologischen Abteilung.

Diagnose

Nach Aufnahme und Abklärung in der neurologischen Abteilung lautet die Diagnose: Transitorisch Ischämische Attacke (TIA) bei hochgradiger Stenose der rechten A. carotis interna. Bei der TIA handelt es sich um eine zerebrale Durchblutungsstörung (Tabelle). Diese verursacht eine vorübergehende neurologische Störung, die in ihren Symptomen einem Schlaganfall gleicht, sich aber wieder vollständig zurückbildet. Eine TIA dauert wenige Minuten bis Stunden (definitionsgemäß maximal 24 h). Überdauert die neurologische Symptomatik den Zeitraum von 24 Stunden, handelt es sich definitionsgemäß um ein Prolongiertes Reversibles Ischämisches Neurologisches Defizit, kurz PRIND. Diese Einteilung ist zurzeit jedoch Gegenstand kontroverser Diskussionen. Im akuten Stadium ist eine Unterscheidung zwischen TIA und Schlaganfall nicht möglich.

Der Überbegriff „Schlaganfall“ umfasst zwei Krankheitsbilder. Zum einen den primär ischämischen Infarkt, verursacht durch eine plötzlich auftretende Minderdurchblutung, zum anderen die akute Hirnblutung, die sekundär durch ihre raumfordernde Wirkung oder durch die mangelnde Durchblutung nachfolgender Areale ebenfalls zu einer Ischämie führt.

Differenzialdiagnose

Aufgrund der Symptomatik und des Verlaufs kommen differenzialdiagnostisch infrage:

• vaskuläre Dysregulationen (vasovagale Synkope)

• metabolische Störungen (wie Hypoglykämie)

• kardiovaskuläre Erkrankungen (wie Hypertensive Entgleisung)

• Krampfleiden

Pathophysiologie

Die Ursachen einer TIA entsprechen weit-gehend denen des Hirninfarkts. Verantwortlich für einen ischämischen Hirninfarkt ist in etwa 60 Prozent der Fälle eine embolische oder thrombotische Genese, wohingegen etwa 30 Prozent durch hochgradige Arterienstenosen der hirnversorgenden Arterien bedingt sind. Eine TIA ist als Vorzeichen eines Hirninfarkts aufzufassen. Epidemiologische Untersuchungen zeigten, dass annähernd 40 Prozent der Patienten mit TIA innerhalb eines Beobachtungszeitraums von sieben Jahren einen Schlaganfall erlitten. Die meisten traten dabei bereits innerhalb eines Monats nach der ersten TIA auf, die ersten innerhalb einer Stunde. Die TIA stellt somit ein Warnzeichen dar. Die Ursachen jeder TIA müssen daher unbedingt abgeklärt und behandelt werden.

Die Symptome, analog der Pathologie, entsprechen denen des Schlaganfalls. Typische Symptome treten je nach betroffenem Hirnareal auf: Bei einer Durchblutungsstörung im Karotisstromgebiet treten typischerweise eine Amaurosis fugax (reversible, Sekunden bis wenige Minuten andauernde, meist einseitige Blindheit), Störungen der Sprache (wie Wortfindungsstörungen, gestörte Artikulation), Hemiparesen, Hemihypästhesien und Fazialisparesen auf. Auf eine Durch- blutungsstörung der A. vertebralis oder der A. basilaris weisen Gleichgewichtsstörungen mit und ohne Schwindel, Schluckstörungen, Hörstörungen, Sprechstörungen, Tetraparesen und halb- beziehungsweise doppelseitige Sensibilitätsstörungen hin.

Allgemeine Diagnostik

• Überprüfen der Vitalparameter (Bewusstsein, Atmung, Kreislauf)

• Monitoring (Blutdruck, Herzfrequenz, Sauerstoffsättigung, Blutzucker)

• Gegebenenfalls Eigen-/Fremdanamnese

Allgemeine Therapie

In der akuten Phase entspricht die Therapie einer TIA der des Schlaganfalls, da zu diesem Zeitpunkt eine Unterscheidung nicht möglich ist. Ob hinter einer Schlaganfallsymptomatik wiederum eine Minderdurchblutung oder eine Blutung steht, ist anhand der klinischen Symptomatik ebenfalls nicht zu sehen. Die Unterscheidung zwischen Minderdurchblutung und Blutung ist allerdings wegweisend für den weiteren Therapieverlauf. Erst eine geeignete Bildgebung (CT) ermöglicht den Ausschluss einer Blutung und erlaubt die Indikationsstellung für eine Lysetherapie. Dieser Umstand schränkt somit die Therapiemöglichkeiten im Sinne einer Erstversorgung im Vorfeld der Klinikeinweisung stark ein. Zunächst sollten andere Ursachen neurologischer Ausfallerscheinungen ausgeschlossen werden. Hierzu gehören eine mögliche Hypoglykämie und Krampfanfälle anderer Genese, etwa im Rahmen einer bestehenden Epilepsie. Des Weiteren sollte eine hypertensive Krise in die differenzialdiagnostischen Überlegungen mit einbezogen werden. Gelegentlich treten TIAs auch bei anderen Erkrankungen wie der Migräne auf, dies spielt allerdings für die Notfalltherapie keine Rolle.

Notfalltherapie – keine Zeit verlieren

Die Notfalltherapie umfasst die Sicherung und Überwachung der Vitalfunktionen, die Gabe von Sauerstoff und das Legen eines intravenösen Zugangs. Bei Lähmungen und Sensibilitätsstörungen sollte dieser auf der gesunden Seite etabliert werden. Die Lagerung erfolgt mit leicht erhöhtem Oberkörper (etwa 30 Grad). Blutdruckschwankungen müssen unbedingt vermieden werden. Werte bis 200 mmHg systolisch und 110 diastolisch sollten zunächst nicht gesenkt werden, da im Fall eines Infarkts die Durchblutung der Zone um den Infarktkern, der sogenannten Penumbra, direkt und linear blutdruckabhängig ist und somit entscheidend für die Prognose dieses Gewebes. Es gilt, keine Zeit zu verlieren und eine zügige Klinikeinweisung zu gewährleisten, da das Zeitfenster für eine unter Umständen notwendige Lysetherapie etwa vier Stunden ab Symptombeginn beträgt. Der Faktor Zeit sollte nicht unterschätzt werden: Aufgrund der Überschreitung des genannten Zeit-fensters können in Deutschland zurzeit nur etwa drei bis vier Prozent aller Hirninfarkte lysiert werden.

Kritische Wertung

Im beschriebenen Fall manifestiert sich die zerebrale Minderdurchblutung im Rahmen einer TIA initial durch einen plötzlichen Bewusstseinsverlust. Diese unspezifische Symptomatik lenkt den Verdacht des Behandlers zunächst in Richtung einer vasovagalen Synkope, die im Rahmen zahnärztlicher Eingriffe ein verhältnismäßig häufiges Ereignis darstellt, insbesondere bei vermeintlich ängstlichen Patienten. Die einsetzende neurologische Symptomatik: verwaschene Sprache, Taubheitsgefühl, herabgesetztes Berührungs- und Schmerzempfinden und motorisches Defizit veranlassen den Zahnarzt im Fallbeispiel seine initiale Verdachtsdiagnose zu verwerfen und durch die Verdachtsdiagnose Apoplex zu ersetzen. Im Anschluss wird korrekt reagiert, die richtigen Maßnahmen werden eingeleitet: Notruf, Monitoring, Umlagerung des Patienten in eine schräg-sitzende Position, Sauerstoffgabe. Eine darüber hinausgehende Therapie durch den Zahnarzt ist in diesem Stadium aufgrund der fehlenden differenzialdiagnostischen Möglichkeiten (Ischämie, Hämorrhagie) nicht indiziert.

Univ.-Prof. Dr. Dr. Monika DaubländerPoliklinik für Zahnärztliche ChirurgieUniversitätsmedizin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (KöR)Augustusplatz 255131 Mainzdaublaen@uni-mainz.de

Dr. Dr. Peer KämmererKlinik für Mund-, Kiefer- und GesichtschirurgieUniversitätsmedizin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (KöR)Augustusplatz 255131 Mainz

Dr. Martin EmmelPraxis Dr. MohrThilmanystr. 554634 Bitburg

Dr. Gepa Schwidurski-MaibHans-Katzer-Str. 450858 Köln

    

INFO

Notfallserie ab 2012

Jede Notfallsituation ist eine besondere Herausforderung. Nicht jedes Praxisteam hat aber gemeinsam eine Beatmung geübt und für den Tag X geprobt. Doch nur ein eingespieltes Team kann schnell und richtig han-deln. Die zm stellen in jeder geraden Ausgabe eine Notfallsituation vor, die im Praxisteam besprochen werden sollte, damit im Notfall jeder seinen Handgriff auch wirklich beherrscht. Denn Kompetenz rettet Leben.

Bereits veröffentlichte Themen:

zm 2/2012: Die Synkope

zm 4/2012: Die Hypoglykämie

INFO

Cincinnati Prehospital Stroke Scale (CPSS)

Mit dem CPSS wurde ein einfacher Test entwickelt, mit dem auch ungeübte Personen innerhalb einer Minute einen Schlaganfall relativ sicher erkennen können, Merkwort „FAST“, das steht für Face – Arms – Speech – Time.

Mit dem Test werden Schlüsselsymptome für einen Schlaganfall abgefragt:

• Bitten Sie die Person, zu lächeln. (Das Gesicht wird bei Lähmung einseitig verzogen.)

• Bitten Sie die Person, gleichzeitig beide Arme nach vorne zu heben, Handflächen nach oben. (Bei einer Lähmung kann ein Arm nicht gehoben werden beziehungsweise sinkt oder dreht sich, vor allem bei geschlossenen Augen, ab.)

• Bitten Sie die Person, einen einfachen Satz nachzusprechen, zum Beispiel: „Ich benötige keine Hilfe.“ (Der Satz muss korrekt wiederholt werden, die Sprache darf nicht verwaschen sein.)

INFO

Präventive Maßnahmen

• Anamnese („Schlägle“, episodische Lähmung oder Sprechstörung)

• Carotissklerose im OPTG beachten und eine neurologische Diagnostik veranlassen

• Fortführen der Thrombozytenaggregationshemmung:

- Primärprävention bei Vorhofflimmern

- Sekundärprävention nach TIA oder nicht embolischem Infarkt

• Blutdruckmonitoring bei Risikopatienten

INFO

Mögliche Fehler bei der Therapie

• ungenügende Überwachung und Sicherung der Vitalfunktionen (cave: Verlegung der Atemwege, Erbrechen)

• keine Heparin- oder ASS-Gabe

• keine intramuskulären Injektionen

• keine orale Nahrungsaufnahme (Schluckstörung)

• verzögerte Zuweisung in eine „stroke unit“ zur Diagnostik und gegebenenfalls Lyse (Zeitfenster für letztere: 4,5 Stunden) – „time is brain“

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