Heißes Eisen
Die Falldiskussion versucht, richtige Antworten auf bereits vorgegebene Fragen zu finden. Die Fragestellung muss jedoch grundsätzlicher erfolgen. Als Ausgangslage ist angegeben: endodontische Behandlung des 37 notwendig bei fehlenden 35, 36 und 38; der 37 war als Pfeilerzahn vorgesehen für festsitzenden Zahnersatz. Aus der Betrachtung der Ausgangssituation ergibt sich bereits, dass ein Behandlungserfolg nicht garantiert, sondern nur mit einer relativ geringen Wahrscheinlichkeit erwartet werden kann. Ein langfristiger Fehlschlag, sogar nach abgeschlossener Therapie, ist aus einer Reihe von Ursachen möglich, von denen einer abgebrochenen Feile im Wurzelkanal bei Weitem nicht das größte Einzelgewicht zukommt.
Der erstbehandelnde Kollege hätte sich einen Gefallen getan, die Erwartungen der Patientin von vornherein zu dämpfen, Alternativen aufzuzeigen und die Aufklärung zu dokumentieren. Der Endodontologe hatte, weil beauftragt, nur einen geringen Handlungspielraum und sitzt außerdem zwischen allen Stühlen (Auftraggeber, Patient, eigene exponierte Position als Spezialist). Dem Gericht, falls es angerufen wird, muss dargelegt werden, dass die abgebrochene Feile – korrekte Aufklärung hin oder her – den ausbleibenden Behandlungserfolg nicht verursacht, sondern allenfalls dazu beigetragen hat. Das relativiert die aufgeworfenen ethischen Fragen.
PS: Hat schon mal einer über die ethische Verantwortung des Patienten nachgedacht? Die Erwartungshaltung von Patienten ist eine Untersuchung wert, aber sicher ein heißes Eisen.
Dr. Wilhelm von Eßen
Alte Spellerstr. 39
33758 Schloß Holte-Stukenbrock