Bewegte Zahnmedizin
Im ländlichen Raum, wo die Infrastruktur versagt und die Menschen vom Versorgungssystem abgeschnitten sind, werden seit einigen Jahren vereinzelt mobile Behandlungseinheiten eingesetzt. Manche von ihnen wurden bereits wegen ihres Modellprojektcharakters ausgezeichnet, wenngleich sich der Aufwand finanziell (noch) nicht rechnet. Ein Beispiel ist der Zahnärztliche Hausbesuchsdienst von Kerstin Finger aus Templin in der viel zitierten, sehr dünn besiedelten Uckermark. Die 52-jährige Zahnärztin hat einen Kleinwagen in eine mobile Zahnarztpraxis umgewandelt – den Hygienerichtlinien entsprechend. 50 000 Euro hat sie investiert, teilweise gefördert durch Unterstützung des EU-Leader-Förderprogramms. Wenn nötig, kann ein Patient im Rollstuhl samt Begleitung eingeladen und zur nächsten Ambulanz gefahren werden. Finger hat aus der Versorgungsnot in ihrer Region eine Tugend gemacht. Jeden Dienstagvormittag steuert sie mit ihrer langjährigen Kollegin, der Zahnmedizinischen Fachangestellten und Prophylaxeassistentin Christine Zessel, die umliegenden Dörfer an. Die Patienten sind in erster Linie pflegebedürftig und immobil. In der Regel liegen die Stationen bis zu 30 Kilometer entfernt. Wer weiter weg wohnt, bleibt von Fingers Dienst unerreicht.
Zum Leistungsspektrum der mobilen Einheit gehören unter anderem die Optimierung von Zahnersatz, Zahnsteinentfernungen und das Legen von Füllungen. Auch Extraktionen sind möglich. Angefahren werden alle denkbaren Institutionen, angefangen von der kleinsten Einheit wie dem Einfamilienhaus über die Senioren-WG bis hin zur stattlichen Pflegeeinrichtung mit über 100 Bewohnern am Rande von Templin.
Finger engagiert sich überdurchschnittlich für die Versorgung in ihrer Region. Dafür wurde sie bereits mehrfach ausgezeichnet. Unter anderem mit dem Dentsply eXtra Care Stipendium „Mundmedizin im Alter“ in Zusammenarbeit der DGAZ mit der Dentsply DeTrey GmbH. Die Bundesregierung hat Finger im Rahmen der Demografie-Strategie zur Botschafterin ernannt. Aus ihrer Sicht wird sich in vielen Bereichen der Gesellschaft mittelfristig ein Wandel hin zu einem „dienenden System“ entwickeln müssen, um den Anforderungen der alternden Gesellschaft im Alltag gerecht zu werden. Finger spricht auch von „serving systems“ und beruft sich auf die Gemeinwohlverpflichtung, die in der Berufsordnung der Zahnärzte festgeschrieben ist. Wie viele andere Einzelinitiativen kämpft die Zahnärztin mit der Finanzierung ihres Dienstagvormittags. Der Gesamtaufwand werde durch das geltende Honorarsystem völlig unzureichend honoriert. Finger kann sich vorstellen, dass Mittel aus dem Gesundheitssystem für die mobile Zahnmedizin freigegeben werden, wenn nachgewiesen wird, dass mit dieser Dienstleistung woanders Gelder eingespart werden. Betriebswirtschaftlich erfolgreich sei die mobile Zahnmedizin bisher keinesfalls. Das Kriterium für Erfolg sei ein anderes, nämlich „Teilhabe zu ermöglichen“. Wie in der eigenen Niederlassung gehe es darum, eine Vertrauensbasis zu den entsprechenden Partnern aufzubauen und langfristig zu pflegen. Finger geht bei Erstkontakt so vor, dass sie zunächst die Leitung des Hauses anspricht, um dann an die Bewohner selbst heranzutreten und den Bedarf zu eruieren. In einem dritten Schritt werde das Personal geschult. „In der aufsuchenden Versorgung geht es nicht um hoch spezialisierte Zahnmedizin, sondern um eine gut organisierte Basisversorgung und Verzahnung zwischen den Beteiligten“, sagt Finger. Und es geht auch um ethische Belange, wie die Wahrung der menschlichen Würde bis zum Ende des Lebens.
KZBV und BZÄK werben für ihr AuB-Konzept
Bekanntlich sind die Vertreter von Bundeszahnärztekammer und Kassenzahnärztlicher Bundesvereinigung seit Längerem in engen Verhandlungen mit den Entscheidungsträgern aus der Politik. Ziel ist, den Leistungskatalog für gesetzlich Versicherte, die aufgrund körperlicher und/oder geistiger Einschränkungen nicht fähig sind, eigenständig Mund- und/oder Prothesenhygiene zu betreiben, zu erweitern. Das AuB-Konzept ist an die Politik herangetragen worden. Konkret sollen die Präventionsleistungen für die Anspruchsberechtigten in das SGB V, § 22 a aufgenommen werden.
Denn während das Gros der Gesellschaft von den positiven Entwicklungen im Bereich der Mundgesundheit im Zuge des Paradigmenwechsels von einer kurativen hin zu einer präventiven Ausrichtung der Zahnheilkunde profitiert, können Pflegebedürftige und Menschen mit Behinderung an den Fortschritten nicht partizipieren. Sie haben bisher keinen Benefit von den wissenschaftlichen Erkenntnissen und den durch die stetigen standespolitischen Bemühungen errungenen Erfolgen der letzten Dekaden. Deutschland nimmt im internationalen Vergleich mittlerweile eine Spitzenposition bei der Mundgesundheit ein und hat für viele andere Gesundheitssysteme Vorbildcharakter. Doch die Tatsache, dass immer mehr Menschen immer älter werden, stellt letzlich auch die zahnmedizinische Versorgung vor neue Herausforderungen. Der stellvertretende Vorsitzende der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung (KZBV), Dr. Wolfgang Eßer, erklärt warum: „Nicht nur, weil altersassoziierte Erkrankungen wie Parodontitis zunehmen und nach versorgungspolitischen Antworten verlangen, sondern vor allem, weil die demografische Entwicklung eine strukturelle Lücke im zahnmedizinischen Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung offenbart.“ Pflegebedürftige und Menschen mit Behinderung könnten in sehr vielen Fällen keine eigenverantwortliche Mundhygiene betreiben, nicht eigenständig eine Zahnarztpraxis aufsuchen und nicht bei der Behandlung kooperieren. Es gebe eine wachsende Zahl von Pflegebürftigen und Menschen mit Behinderungen, die motorisch eingeschränkt, immobil oder wegen kognitiver Einschränkungen nicht kooperationsfähig sind. „Ausgerechnet die schwächsten Mitglieder der Gesellschaft fallen damit durch das Raster der GKV-Versorgung“, erklärt Eßer. Sie hätten in der Folge eine deutlich schlechtere Zahngesundheit als der Bevölkerungsdurchschnitt.
Engagement ersetzt die verlässliche Finanzierung
Dass die Zeit für flächendeckende Lösungen längst reif ist, betont der Vizepräsident der Bundeszahnärztekammer (BZÄK), Prof. Dr. Dietmar Oesterreich:, „Wege und Möglichkeiten, die Defizite zu beheben, sind erforscht und beschrieben. Auch wissenschaftliche Evaluationen liegen vor. Jetzt ist es an der Zeit, die entsprechenden gesundheitspolitischen Rahmenbedingungen einzufordern und aktiv zu gestalten“, erklärte er kürzlich in Hamburg auf einem Pressegespräch von proDente e.V.. Oesterreich kann mitreden. Seine Praxis liegt in Stavenhagen, einer Kleinstadt inmitten des Landkreises „Mecklenburgische Seenplatte“. 50 Einwohner je km² leben dort. Aus seiner eigenen täglichen Praxis weiß er, dass Menschen mit Behinderungen und eben auch pflegebedürftige Patienten bei der Mundhygiene häufig Unterstützung benötigen und auch bei einer notwendigen Therapie unter Umständen gar nicht oder nur eingeschränkt mitarbeiten können. Oesterreich: „Diesen Patienten müssen neben einer Verbesserung bei der Mundhygiene in der Pflege gezielte individualprophylaktische Maßnahmen angeboten und eine entsprechende Betreuung muss organisiert werden.“ Hinzu komme das Problem der Finanzierung. „Regelmäßige zahnmedizinische Untersuchungen in den eigenen vier Wänden werden von den Krankenkassen nicht entsprechend dem Aufwand für das zahnärztliche Behandlungsteam vergütet“, moniert Oesterreich. Hinzu trete das zunehmende Problem der dementen Patienten, die hinsichtlich der Anforderungen an die zahnärztliche Versorgung eine erhebliche Herausforderung darstellen würden.
Da die zahnärztliche Behandlung im Rahmen eines Hausbesuchs bisher nicht ausreichend im Leistungsspektum der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) abgebildet sei, würden Zahnärzteinitiativen und karitative Organisationen die vorherrschenden Defizite eben punktuell ausgleichen. Als ein Beispiel nennt er das Projekt „Bis(s) ins hohe Alter“, das mit dem „Gesundheitspreis Nordrhein-Westfalen“ ausgezeichnet wurde. Die Politik habe bisher lediglich einige der Vorschläge des bereits 2010 von BZÄK, KZBV und zahnmedizinischer Wissenschaft vorgestellten Gesamtkonzepts „Mundgesund trotz Handicap und hohem Alter“ für die Verbesserung der zahnmedizinischen Versorgung von Pflegebedürftigen und Menschen mit Behinderungen in Gesetzesinitiativen einfließen lassen. „Besonders immobile Patienten in häuslicher Pflege wurden jedoch unzureichend berücksichtigt. Es bedarf also weiterer Verbesserungen der Rahmenbedingungen, denn der demografische Wandel kommt unaufhaltsam“, warnt Oesterreich.
Wichtig für die Nachhaltigkeit des mobilen Einsatzes ist erfahrungsgemäß die Vernetzung des Zahnmediziners mit dem Pflegepersonal und den Angehörigen. Denn sie spielen eine entscheidende Rolle, was die Zahnpflege angeht. Ein wichtiges Ziel in der modernen Alterszahnmedizin sei die Schulung von professionellen Pflegekräften und Angehörigen in Sachen Mundhygiene und Zahnersatzpflege. Zahlreiche Landeszahnärztekammern haben Pilotprojekte durchgeführt, die im Rahmen von Fortbildungen und gezielter Unterweisung notwendiges Wissen vermitteln.
Wenn Kerstin Finger ihrer Fantasie freien Lauf lässt, stellt sie sich die ländliche Versorgung durch Trucks vor, mit denen die immobilen Bürger aus der Region angefahren und behandelt werden könnten. Doch diese fantastische Lösung dürfte wohl kein Allheilmittel sein. sf
INFO
Aufruf
Einige Kollegen suchen alte Phantomköpfe für die Schulung von Pflegekräften. Hinweise nehmen wir gern per E-Mail anzm@zm-online.de an.