Mundgesundheit – ein Spiegel des Herzens
Bianca Gelbrich, Till Neumann, Stefan Esser, Götz Gelbrich
Orale Läsionen treten im Zuge einer HIV-Infektion häufig auf; sie sind oftmals erste Anzeichen der Infektion, Prädiktoren für den Erkrankungsverlauf sowie Indikatoren für das Versagen eines antiretroviralen Therapieregimes [Chapple und Hamburger J. ,2000; Schmidt-Westhausen et al., 2000; Hodgson et al., 2006]. Assoziationen zwischen beeinträchtigter Mundgesundheit und kardiovaskulären Erkrankungen wurden auch in der Gesamtbevölkerung berichtet. Sie bestanden auch nach Adjustierung auf Alter, sozioökonomischen Status und durch die Lebensweise bestimmte Risikofaktoren [Persson und Persson, 2008; De Oliveira et al., 2010; Kebschull et al., 2010]. Aus diesen Gründen sollten die Erforschung der Mundgesundheit und ihre Assoziationen zu Herzerkrankungen in die HIV-Herz-Studie integriert werden. Nachfolgend werden erste querschnittliche Ergebnisse dieser Untersuchungen vorgestellt, die detailliert im International Journal of Cardiology publiziert wurden [Gelbrich et al., 2011].
Studiendesign
Als grundlegendes Erhebungsinstrument der Mundgesundheit wurde auf die deutsche Version des etablierten Oral Health Impact Profile Questionnaire (OHIP-G) [John et al., 2002] zurückgegriffen. Mit Blick auf die ohnehin schon umfangreiche Patientenbefragung sollte der in der HIV-Herz-Studie eingesetzte Fragebogen möglichst kurz sein, sensitiv die spezifischen Probleme der HIV-infizierten Patienten erfassen und Referenzdaten in der Allgemeinbevölkerung besitzen. Daher wurden die 53 Fragen des OHIP-G vorab hinsichtlich ihrer potenziellen Relevanz im HIV-Kollektiv beurteilt. Davon wurden die 14 mit der besten vermuteten Aussagekraft ausgewählt. Auf einer fünf-stufigen Skala bewerteten die Patienten die Häufigkeit mundgesundheitsbezogener Probleme. Die einzelnen Punktwerte wurden zu einem Summenwert addiert, der zur Auswertung in vier Kategorien der oralen Symptomlast eingeteilt wurde (siehe Tabelle Seite 50). Diese neue Subskala des OHIP-G wurde anhand der publizierten Referenzdaten [John et al., 2003] validiert. Die definierten Schwellen für mäßige und hohe Symptomlast entsprechen dem 75. beziehungsweise dem 90. Perzentil des Summenwerts im bevölkerungsbasierten Referenzdatensatz.
Alle sonstigen Daten wurden im Zuge des bereits bestehenden HIV-Herz-Protokolls [Neumann et al., 2007] erhoben. Der primäre kardiovaskuläre Endpunkt der hier vorgestellten Analyse war das Vorliegen einer kardiovaskulären Diagnose gemäß Patientenakte (Herzinsuffizienz, koronare Herzerkrankung, cerebrovaskuläre Erkrankung, periphere arterielle Verschlusskrankheit) und/oder eines abnormalen echokardiografischen Befunds (linksventrikuläre Auswurffraktion 50 Prozent, enddiastolischer linksventrikulärer Durchmesser 55 mm, regionale Wandbewegungsstörungen). Die Auswahl der echokardiografischen Kriterien orientierte sich an publizierten Empfehlungen [Jacobs und Crow, 2007].
Die Studie wurde durch die zuständige Ethikkommission befürwortet. Alle Patienten wurden vor der Teilnahme aufgeklärt und erteilten ihre schriftliche Einwilligung.
Ergebnisse
Von den 372 untersuchten HIV-infizierten Patienten hatten zwölf Prozent keine, 44 Prozent eine geringe, 23 Prozent eine mäßige und 21 Prozent eine hohe orale Symptomlast. Im Vergleich dazu hatten in der Allgemeinbevölkerung nur 15 Prozent eine mäßige und zehn Prozent eine hohe Symptomlast, dagegen waren 35 Prozent beschwerdefrei (P0,001; Abbildung 1). Dieser Unterschied bestand auch nach Adjustierung auf die demografische Struktur der Kollektive.
Von den HIV-infizierten Patienten waren 100 (27 Prozent) kardiovaskulär auffällig im Sinne des primären Endpunkts. Die Häufigkeit nahm mit wachsender oraler Symptomlast stetig zu (Abbildung 3). Klammert man die 44 Patienten mit einer klinischen kardiovaskulären Diagnose aus, so hatten 56 (17 Prozent) der verbleibenden 328 Patienten eine echokardiografische Abnormalität. Die Häufigkeit eines solchen Befunds war wiederum signifikant mit der oralen Symptom last assoziiert (Abbildung 3). Dieses Ergebnis ist besonders bemerkenswert aufgrund der wechselseitig verblindeten Erhebung: Weder kannten die Patienten bei der Beantwortung des Fragebogens ihren echokardiografischen Befund, noch wusste der sonografische Untersucher um die Antworten der Patienten auf dem Mundgesundheitsfragebogen.
Bekannte gemeinsame Risikofaktoren für kardiovaskuläre Erkrankungen und eine Beeinträchtigung der oralen Gesundheit (wie zum Beispiel Alter, Bildungsstand, Rauchen) konnten die gefundenen Zusammenhänge nicht erklären. Jedoch gab es einen Zusammenhang mit der Schwere der HIV-Erkrankung. In der Subgruppe der Patienten mit CDC-Stadium 1 oder 2 (CD4-Zellzahl war immer ≥ 200/µL) hatten diejenigen mit hoher oraler Symptomlast ein etwa doppelt so hohes Risiko für kardiovaskuläre Auffälligkeit wie alle anderen. Diese mit hoher oraler Symptomlast verbundene Risikoerhöhung war bei Patienten im CDC-Stadium 3 (hatten bereits mindestens einmal eine CD4- Zellzahl im AIDS-definierenden Bereich 200/µL) um etwa das Dreifache größer (Abbildung 4).
Mit anderen Worten: Auf dem Boden von AIDS ist der Zusammenhang zwischen beeinträchtigter Herz- und Mundgesundheit signifikant stärker als unter den Bedingungen einer HIV-Infektion, die das Immunsystem noch nicht in den Bereich von AIDS geführt hat.
Diskussion
Erklärungen für die gefundenen Zusammenhänge können derzeit nur hypothetisch sein.Möglicherweise werden durch die Immunschwäche selbst oder durch die antiretrovirale Therapie verschiedene Pathomechanismen getriggert, die einerseits die Entstehung kardiovaskulärer Erkrankungen begünstigen und andererseits orale Beschwerden hervorrufen. Denkbar ist aber auch, dass es eine kausale Verbindung zwischen oraler Keimbelastung und kardiovaskulären Erkrankungen gibt, die auf niedrigem – nur mit großen Fallzahlen detektierbarem – Niveau auch in der gesamten Bevölkerung besteht, jedoch bei Schwächung der Immunbarrieren deutlich verstärkt wird und dadurch auch in kleineren Kollektiven statistisch nachweisbar ist. Dieser Fragestellung wird künftig in der HIV-Herz-Studie durch longitudinale Beobachtung und Einbeziehung oraler Befunderhebung nachgegangen.
Dr. Bianca Gelbrich
Poliklinik für Kieferorthopädie
Universität Leipzig
Nürnberger Str. 57
04103 Leipzig
Bianca.Gelbrich@medizin.uni-leipzig.de
Prof. Dr. habil. Till Neumann
Westdeutsches Herzzentrum Essen
Universität Essen
Hufelandstr. 55
45122 Essen
Dr. Stefan Esser
Klinik für Dermatologie
Universität Essen
Hufelandstr. 55
45147 Essen
PD Dr. Dr. habil. Götz Gelbrich
Institut für Medizinische Informatik, Statistik und Epidemiologie
Universität Leipzig
Härtelstr. 16-18
04107 Leipzig
und Zentrum für Klinische Studien Leipzig
Universität Leipzig
Härtelstr. 16-18
04107 Leipzig
Kompetenznetz Herzinsuffizienz Kompetenznetz HIV/AIDS
INFO
Danksagung
Die HIV-Herz-Studie wurde im Rahmen des Kompetenznetzes Herzinsuffizienz vom BMBF gefördert (FKZ 01GI0205). Die Autoren danken Mike T. John und Wolfgang Micheelis für die Erlaubnis der Nutzung der Referenzdaten des OHIP-G [John et al., 2003] für Validierungs- und Vergleichszwecke.