Der besondere Fall

Sensibilitätsausfall durch primär intraossäres Lymphom

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Wenn ein Patient an seiner Unterlippe unter Gefühlsverlust leidet und sich dieserüber einen längeren Zeitraum immer mehr verstärkt, ist Gefahr im Verzug. Der vorliegende Fall zeigt, wie nach ausgiebiger Diagnostik schließlich nur noch chirurgisch geholfen werden konnte.

Jakob Ihbe, Christian Stoll, Andrea-Maria Schmidt-Westhausen

Ein 29-jähriger Patient stellte sich nach Überweisung vom Hauszahnarzt im Januar 2009 mit einem seit einem Jahr langsam progredienten Taubheitsgefühl der Unterlippe links zur operativen Entfernung des verlagerten Zahnes 38 vor. Eine zuvor durchgeführte Inzision und orale Antibiotikatherapie waren erfolglos geblieben. Der Eingriff verlief komplikationslos, das präoperativ angefertigte Röntgenbild zeigte neben dem horizontal verlagerten Zahn 38 und einer Hypodontie im Frontzahnbereich des ersten Quadranten keine pathologischen Veränderungen (Abbildung 1).

Anamnese

Nach initialer Befundbesserung stellte sich der Patient im Laufe des Jahres 2010 mit erneutem Taubheitsgefühl der Unterlippe links mehrfach bei seinem Hauszahnarzt vor. Dieser extrahierte konsekutiv die Zähne 37 und 36. Bei persistierenden Beschwerden erfolgte im Februar 2011 die erneute ambulante Vorstellung in der MKG-Chirurgie. Hier imponierte klinisch ein aufgetriebener, druckdolenter Alveolarkamm der Regio 36 bis 38 sowie eine ausgeprägte Hypästhesie der Unterlippe links. Die Panoramaschichtaufnahme zeigte eine unspezifische, unscharf begrenzte Transparenzerhöhung der Regio 38 bis 36 bis an den Canalis mandibulae reichend sowie eine Radix relicta 36 (Abbildung 2).

Diagnose und Therapie

Unter antibiotischer Therapie mit Clindamycin wurde in Allgemeinnarkose eine Kastenresektion ohne Kontinuitätsunterbrechung des Unterkiefers in der Regio 36 bis 38 durchgeführt. Intraoperativ imponierten neben der Entleerung von Pus nekrotische Kieferanteile bis auf den langstreckig frei- liegenden Nervus alveolaris inferior.

Histopathologisch zeigten sich dichte Ansammlungen hochgradig pleomorpher Zellen mit großen Kernen und Mitosen (Abbildung 3).

Nach Begutachtung durch ein Referenz-zentrum konnte die Diagnose eines hochmalignen Non-Hodgkin-Lymphoms der B-Zellreihe gestellt werden. Eine prächemotherapeutisch durchgeführte Ausdehnungsdiagnostik mittels Computertomografie, Skelettszintigrafie, Röntgen des Thorax sowie Sonografie des Abdomens ergaben neben der Läsion im Bereich des Unterkiefers links keine weiteren zwingend Lymphom-verdächtigen Befunde. Nach Kryokonservierung von Spermien wurde unter Betreuung der Kollegen der Onkologie eine Immun-Chemotherapie vom April bis September 2011 bei Lymphom-Stadium IIEA mit Cyclophosphamid, Hydroxydaunorubicin, Vincristin und Prednisolon sowie mit Retu-ximab durchgeführt. Der Patient befindet sich aktuell in kompletter Remission.

Diskussion

Die Differenzialdiagnose eines isolierten Vincent-Symptoms (Sensibilitätsausfall im Versorgungsgebiet des N. alveolaris inferior im Bereich der Unterlippe bis zur Kinnspitze reichend) ist vielfältig.

Die Ursache einer Hypästhesie liegt meist in einer Beeinträchtigung des Nervs innerhalb des knöchern umschlossenen Mandibularkanals. Im Rahmen einer odontogenen Infektion kann es zu einer Osteomyelitis des Unterkiefers kommen. Aufgrund der Ansammlung bakterieller Toxine sowie der körperinduzierten Entzündungsreaktion mit Abszessformation und lokalen Einschmelzungen besteht eine irritativ-toxische Schädigung des N. alveolaris inferior [Di Lenarda et al., 2000]. Erwähnenswert ist das Vin-cent-Symptom auch im Rahmen einer Bisphosphonat-assoziierten Osteonekrose des Unterkiefers, da diese Nekroseform aufgrund der gestiegenen Anwendung von Bisphosphonaten in der Tumor- und Osteoporosetherapie in Zukunft eine verstärkte Rolle spielen wird [Otto et al., 2009]. Zu einer irritativ-toxischen Schädigung des Nervs kann es ebenso im Rahmen einer nicht lege artis durchgeführten endodon- tischen Maßnahme der Unterkiefermolaren oder -prämolaren durch ein Überpressen des Wurzelfüllungsmaterials kommen [Morse et al., 1997].

Traumatische Ursachen eines Ausfalls des N. alveolaris inferior sind die Unterkieferfraktur und die iatrogene Verletzung am Foramen mentale während einer Implantation oder einer Wurzelspitzenresektion im Unterkieferprämolarenbereich [Bartling et al., 1999]. Auch Umstellungsosteotomien sowie isolierte kieferorthopädische Therapie können eine Hypästhesie verursachen [Akal et al., 2000; Willy et al., 2004].

Eine Kompression des N. alveolaris inferior mit konsekutivem Sensibilitätsausfall kann weiterhin durch benigne Zysten oder maligne Prozesse bedingt sein [Elliston et al., 1996; Auriol et al, 1991]. Die bedeutendste traumatische Ursache einer Hypästhesie für den Zahnarzt und Kieferchirurgen ist die operative Entfernung retinierter und verlagerter Weisheitszähne mit topografischer Beziehung zum Canalis mandibulae [Contar et al., 2010].

Im vorliegenden Fall war die initiale Sym-ptomatik mit einer Beeinträchtigung des N. alveolaris inferior durch den verlagerten Zahn 38 vereinbar. Nachdem die Hypästhesie jedoch nach dessen operativer Entfernung persistierte, war die erneute Überweisung zur stationären Abklärung der Ursache angezeigt. Klinisch und radiologisch musste am ehesten eine chronische Osteomyelitis des Unterkiefers vermutet werden. Die histopathologische Diagnose eines primär im Unterkiefer symptomatisch werdenden Lymphoms stellt eine seltene durch Kompression bedingte Ursache einer Hyp-ästhesie des N. alveolaris inferior dar.

Tipps für die Praxis

Ein isoliertes Vincent-Symptom ist zunächst verdächtig auf das Vorliegen einer Osteomyelitis des Unterkiefers und sollte einer entsprechenden radiologischen Diagnostik (Panoramaschichtaufnahme, Szintigrafie) und stationären Therapie (Antibiose, operative Sequestrotomie) zugeführt werden. Die Differenzialdiagnose beinhaltet Traumata, dentale Kompression sowie sich im Unterkiefer mit topografischer Nähe zum Mandibularkanal ausbreitende, dann oft maligne Tumorprozesse.

Dr. Jakob Ihbe, Prof. Dr. Dr. Christian Stoll, Klinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie, Ruppiner Kliniken, Fehrbelliner Str. 38, 16816 Neuruppin jakob.ihbe@charite.de

Prof. Dr. Andrea-Maria Schmidt-Westhausen, Charité Centrum für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde (CC03), Oralmedizin, zahnärztliche Röntgenologie und Chirurgie, Assmannshauser Str. 4-6, 14197 Berlin

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