Die klinisch-ethische Falldiskussion

Extraktion eines erhaltungswürdigen Zahnes

Heftarchiv Zahnmedizin
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Dominik Groß
In diesem Fall geht es um die Behandlung einer ehemals alkoholabhängigen 40-jährigen Patientin und um die Frage nach der Extraktion eines noch erhaltungswürdigen Zahnes und um die Frage der Finanzierbarkeit.

Der Fallbericht:

Frau JS ist seit einigen Jahren Patientin von Zahnarzt Dr. MJ. Im Rahmen einer geplanten konservativen Behandlung wird der Nerv des Zahnes 26 infolge der ausgedehnten Karies großflächig eröffnet und beginnt unmittelbar stark zu bluten. Der daraufhin angefertigte Zahnfilm zeigt, dass der Zahn sehr gut im Knochen steht und dass die mesiobukkale Wurzel im apikalen Drittel einen starken Knick nach distal und unmittelbar vor dem Apex einen zweiten Knick nach mesial aufweist. Im Oberkiefer der 40-jährigen Patientin findet sich ein unversorgter Restzahnbestand von 13 bis 24 sowie – als einziger Molar – der erwähnte Zahn 26.

MJ – ein sehr selbstkritischer, qualitätsorientierter Zahnarzt – traut sich selbst keine erfolgreiche endodontische Behandlung an besagtem Zahn zu. Er sieht jedoch die Möglichkeit, die Patientin an einen spezialisierten Kollegen zu überweisen, der in ähnlichen Fällen sehr gute Ergebnisse erzielen konnte. Die aufwendigen und langwierigen Behandlungen unter dem Mikroskop hätten für die überwiesenen Patienten allerdings Kosten zwischen 400 und 1 000 Euro zur Folge.

JS hat eine bewegte Vorgeschichte (unter anderem Alkoholabusus), in deren Verlauf sie sich selbst – und damit auch die Pflege ihrer Zähne – sehr vernachlässigte. In dieser Lebensphase erfolgten Zahnarztbesuche ausschließlich bei unerträglichen Schmerzen, ohne dass die zahnärztlichen Angebote zur Weiterbehandlung genutzt worden wären. Seit etwa zweieinhalb Jahren hat sie jedoch nach eigenen Aussagen „ihr Leben im Griff“ und lebt in einer „glück- lichen Beziehung“, aus der eine nunmehr einjährige Tochter hervorging. Seit zwei Jahren kommt sie regelmäßig halbjährlich zu zahnärztlichen Kontrolluntersuchungen und nimmt auch die vereinbarten Folge- termine wahr. Es wurde eine systematische Parodontaltherapie durchgeführt und seitens der Patientin wird eine motivierte und gute Mundhygiene aufrechterhalten. Prophylaxemaßnahmen nimmt sie aufgrund einer „angespannten finanziellen Lage“ nicht in Anspruch, hat sich jedoch das Rauchen aus Anlass der Schwangerschaft von einem Tag auf den anderen abgewöhnt.

JS leidet unter der linksseitigen Lücke und der Freiendsituation rechts und fühlt sich beim Lächeln und Lachen gehemmt, was dazu führt, dass sie dieses stets hinter einer Hand versteckt. Eine Versorgung mittels Klammerprothese kommt für sie nicht infrage, da sie zwar ab dem Eckzahn keine Zahnfleischschau beim Lächeln aufweist, eine Klammer jedoch sichtbar wäre und deshalb im Vergleich zu den Lücken im Seitenzahnbereich aus Sicht der Patientin ästhetisch keinen Fortschritt bedeuten würde. Laut eigenen Aussagen hat JS keine größeren Probleme, das Essen zu zerkleinern, wünscht sich jedoch, dass die Kaufunktion verbessert wird, um bei den Mahlzeiten „nicht immer länger zu brauchen als alle anderen“.

Nach eigener Aussage kann sie sich die Kosten der endodontischen Behandlung bei einem Spezialisten und den zu erwartenden Eigenanteil für die anschließende Versorgung des Oberkiefers mittels teleskopierender Prothese nicht leisten. Auf der anderen Seite wäre sie jedoch sofort bereit, den Zahn 26 ziehen zu lassen und die dann endständigen Zähne, die derzeit nur mit mittelgroßen Füllungen suffizient versorgt sind, ausgedehnt für die Aufnahmen von Teleskopen beschleifen zu lassen.

Dr. MJ ist sich unsicher:

• Soll er einen erhaltungsfähigen und -würdigen Zahn ziehen, um der Patientin auf diese Weise eine bezahlbare Versorgung des Oberkiefers zu ermöglichen, zumal sich die Patientin die alternative endodontische Behandlung nach eigenen Aussagen nicht leisten kann?

• Oder soll er die Extraktion ablehnen, die für ihn aus rein medizinischer Sicht nicht die optimale Therapie darstellt, da 26 zur dorsalen Abstützung der Versorgung wertvoll wäre – auch auf die sehr wahrscheinliche Gefahr hin, dass die Patientin die angeratene Behandlung nicht durchführen lassen würde, und mit dem Risiko, dass die über zwei Jahre aufgebaute Therapietreue („Compliance“) Schaden nehmen würde?

Dirk Leisenberg und Dominik Groß

Dr. phil. Hartmut BettinDr. phil. Susanne MichlInstitut für Geschichte der Medizin Ernst-Moritz-Arndt-Universität GreifswaldW.-Rathenau-Str. 4817475 Greifswald

Univ.-Prof. Dr. med. Dr. med. dent. Dr. phil. Dominik GroßInstitut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin Universitätsklinikum der RWTH AachenWendlingweg 252074 Aachengte-med-sekr@ukaachen.de

Dr. med. dent. Dr. phil. Mike Jacob, M.A.Maximinstr. 43/4566763 Dillingendr.mikejacob@t-online.de

Julia Kunze

Univ.-Prof. Dr. med. dent. Ina Nitschke

Klinik für Alters- und Behindertenzahnmedizin

Universität Zürich

Plattenstr. 11

CH-8032 Zürich

Dr. med. dent. Dirk Leisenberg

Ringstr. 52b

36396 Steinau an der Straße

Dr. med. dent. Alexander Spassov

Poliklinik für Kieferorthopädie

Universitätsmedizin Greifswald

Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald

Rotgerberstr. 8

17475 Greifswald

alexspas@uni-greifswald.de

Info

Glossar

Antinomie

Spezielle Art des logischen Widerspruchs, bei der die zueinander in Widerspruch stehenden Aussagen gleichermaßen gut begründet sind (griech. antí = gegen, nómos = Gesetz; sinngemäß: Unvereinbarkeit von Gesetzen)

Compliance

(veraltet für) Therapietreue, das heißt kooperatives Verhalten eines Patienten im Rahmen der Therapie, etwa durch das konsequente Befolgen der ärzt- lichen Ratschläge (engl. Compliance = Befolgung, Fügsamkeit)

Partizipative Entscheidungsfindung

Teilhabe des Patienten an der Entscheidung für eine medizinische (zum Beispiel diagnostische, therapeutische oder rehabilitative) Maßnahme (lat. particeps = an etwas teilnehmend)

Shared decision making

Gemeinsame Entscheidungsfindung von Akteuren, etwa (Zahn)arzt und Patient

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