Nicht zukunftsfest
Unter dem Motto „KBV kontrovers“ veranstalte die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) im Rahmen des Kongresses eine Diskussion, bei der darüber debattiert wurde, wie viel Gesundheit sich die Gesellschaft in zwanzig Jahren leisten will. Für Prof. Dr. Ferdinand M. Gerlach gilt nach wie vor, was schon dem Bericht des Sachverständigenrats (SVR) aus dem Jahr 2001 zu entnehmen war: Im hiesigen Gesundheitssystem ist eine Über-, Unter- und Fehlversorgung auszumachen, konstatierte das SVR-Mitglied bei der Diskussion im Berliner ICC. Er setzte sich dafür ein, die Versichertengelder hinsichtlich ihrer Verwendung besser zu durchleuchten. „Wir geben 190 Milliarden Euro im Jahr für den Gesundheitsbereich aus. Viel zu oft wissen wir nicht, wo das Geld hin fließt und was es bewirkt“, sagte er.
Zudem gebe es einen systemimmanenten Fehler: Bei einem Anreiz-System, in dem vor allem die Morbidität und das Kranksein der Patienten honoriert werden, verhielten sich auch alle leistungserbringenden Akteure entsprechend. Daher setze er sich für eine Veränderung der Anreiz-Systeme ein und werbe für ein Honorarmodell, wie es der SVR bereits in seinem Gutachten 2009 vorgestellt hat.
Populationsbezogene Honorierung
Danach würde sich die Versorgung und die Honorierung populationsbezogen ausrichten, Ärzte würden dafür honoriert werden, wenn die Bevölkerung gesund bleibt. Derzeit sei es so, dass alle im System beteiligten Leistungserbringer daran verdienen, wenn Patienten krank sind. Diese unternähmen aber über Selbstzahlerleistungen bereits jetzt schon einiges , um an der eigenen Gesundheit mitzuwirken. Dieser Trend, da war sich Gerlach in Einigkeit mit den anderen Diskutanten sicher, werde sich in der Zukunft fortsetzen.
Für KBV-Chef Dr. Andreas Köhler führt ein Wechsel des Anreiz-Systems zur Honorierung ärztlicher Leistung aber nicht zwangsläufig zu einer besseren Versorgung. Die vom SVR vorgeschlagene Bezahlung in Form einer – wie auch immer gearteteten – Pauschale sei nicht automatisch der Königsweg. Köhler sieht – wie alle anderen Diskutanten auch – in der ungleichen regionalen Verteilung der Ärzte schon jetzt ein gravierendes Problem, das sich zukünftig noch verschärfen werde. Für die Versorgungslage bedeute dies nichts Gutes. Köhler: „Dort, wo heute zwei Ärzte versorgen, werden in 20 Jahren angesichts der zunehmenden Alterung der Gesellschaft drei Ärzte die Versorgung übernehmen müssen.“
Vereinbarkeit von Beruf und Familie
Diese seien allerdings nicht mehr bereit, 50 Stunden und mehr für die Patienten zur Verfügung zu stehen. Für die kommenden Ärzte-Generationen sei die Frage der Vereinbarkeit von Beruf und Familie mehr von Belang als für frühere Jahrgänge. Zudem: „Der Zugang zu den medizinischen Versorgungsstrukturen läuft nun mal am besten über den Hausarzt“, so Köhler. Wenn man es für die Zukunft nicht hinbekomme, für eine bestimmte Region ausreichend niedergelassene Hausärzte vorzuhalten – auch und gerade in wenig besiedelten Gebieten – dann werde sich erst recht eine Zwei-Klassen-Medizin etablieren, nämlich die Patienten, die versorgt sind, auf der einen – und die Patienten, die nicht mehr wohnortnah versorgt werden können, auf der anderen Seite. Auch der KBV-Chef ist überzeugt, dass es zukünftig in der Medizin zur Aufrechterhaltung der Leistungsfähigkeit des Systems immer mehr an Selbstbeteiligung seitens der Patienten geben wird.
Wohlfahrtsverband: Genug der Zuzahlungen ...
Der Abteilungsleiter Soziales beim Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverband, Dr. Joachim Rock, wandte sich gegen die These, dass die Versicherten hierzulande allzu gern einer Vollkasko-Mentalität nachhängen würden. Viele Bereiche, in denen die Patienten bereits heute massive Zuzahlungen leisten würden, bewiesen das Gegenteil. Eine bisher völlig unterschätzte Rolle komme seiner Meinung nach präventiven Bemühungen zu, die helfen sollen, die Patienten von morgen zu vermeiden. Denn es gehe nicht nur um die in diesem Zusammenhang viel zitierte Rückenschule für jedermann und Bürogestresste. Vielmehr müsse man in der Prävention und Gesundheitsvorsorge noch stärker den Setting-Ansatz befolgen. Konkret meint dies, „dass man die Patienten dort abholt, wo sie sich entsprechend ihrer Lebenssituationen wie etwa berufliches Umfeld, Schule oder Kindergarten befinden“, so Rock.
... versus Forderung nach mehr Eigenverantwortung
Im Gegenzug wurde von Dr. Oliver Scheel als Partner der Unternehmensberatung A. T. Kearney ein zu hohes Anspruchsniveau der Versicherten bemängelt. Damit sei die Finanzierung des Gesundheitssystems „in Zukunft nicht mehr zu halten“. Stattdessen propagierte er die weitere Eigenverantwortung der Patienten. Und: „Der zweite Gesundheitsmarkt ist die Chance, den ersten zu stützen“, so Scheel.
Bevor man über Rationalisierung und Priorisierung rede, müsse man das Optimale aus jedem Euro, der für Gesundheitsausgaben verwendet wird, herausholen. Da liegen nach Scheels Ansicht vor allem noch viele Potenziale in einer besseren Vernetzung der IT-Strukturen bei den einzelnen Playern im System verborgen.
Info
Signifikanter Branchentreff
Am dreitägigen „Hauptstadtkongress Medizin und Gesundheit“ nahmen laut Veranstalter rund 8 000 Teilnehmer teil, die sich in 180 Einzelveranstaltungen mit rund 600 Referenten über Belange des Gesundheitswesens informierten. Der Kongress vereinte verschiedene Tagungen: den „Managementkongress Krankenhaus Klinik Rehabilitation“, den „Deutschen Pflegekongress“ und das „Deutsche Ärzteforum“. Erstmals mit von der Partie war 2013 das „Apothekerforum“. Durch die Anwesenheit zahlreicher hochrangiger Politiker – wie etwa Gesundheitsminister Daniel Bahr und SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück – untermauerte der Kongress seine herausragende Bedeutung.