„Eingeschränkte Krankenhilfe“ bei Asylbewerbern
Der Fallbericht:
Zahnarzt GG praktiziert in einer Kleinstadt in Thüringen. Von Zeit zu Zeit finden sich bei ihm Migranten mit akutem Behandlungsbedarf ein.
Eines Tages stellen sich eine 32-jährige Asylbewerberin aus dem Kosovo und ihr 13-jähriger Sohn vor. Beide klagen über akute Schmerzen. Das Gebiss der Mutter weist großflächige Zahndefekte in der OK-Front (Zähne 12, 11 und 21) auf, die GG bei einem deutschen, gesetzlich krankenversicherten Patienten mit Kompositfüllungen in Schmelz-Ätz-Technik versorgen oder gegebenenfalls überkronen würde. Der Sohn offenbart ebenfalls eine multiple Karies und beklagt insbesondere Schmerzen an den Zähnen 46 und 36. Beide Zähne sind vital und weisen eine Caries profunda auf – Befunde, bei denen GG je nach intra-operativem Befund eine Caries-profunda-Behandlung oder eine endodontische Therapie durchführen würde.
GG weiß von früheren Kontaktaufnahmen mit dem zuständigen kommunalen Sozialamt, dass dieses bei Asylbewerbern mit Zahnschmerzen zwar die Kosten für Extraktionen übernimmt, die Entscheidung über zahnerhaltende oder prothetische Behandlungen aber von einer vorherigen Antragstellung abhängig macht. Eben hier liegt sein Problem: In der jüngeren Vergangenheit machte der Zahnarzt die Erfahrung, dass derartige Anträge von der finanzschwachen Kommune stets abgelehnt wurden. Begründet wurde dies zum einen mit besagten Finanzierungsnöten, zum anderen aber auch mit dem Hinweis, dass die „eingeschränkte Krankenhilfe“ für Asylbewerber im Grundsatz auf die dringliche Schmerzbehandlung zu begrenzen (Asylbewerberleistungsgesetz, § 4) und insofern der regelhaften Versorgung nicht gleichgestellt sei.
GG weiß, dass die betroffenen Migranten nachweislich mittellos sind und sich keine Zuzahlung leisten können. Damit sieht er sich vor die Wahl gestellt, entweder grundsätzlich erhaltungswürdige Zähne zu ziehen oder aber zahnerhaltende Behandlungsmaßnahmen auf eigene Kosten durchzu-führen. Gegen die erste Alternative hegt er fachliche und moralische Bedenken. Auch in wirtschaftlicher Hinsicht zweifelt er eine Extraktionstherapie an – schließlich ziehen Extraktionen ihrerseits einen prothetischen Behandlungsbedarf nach sich. Andererseits kann er sich auch nicht dazu durchringen, regelhaft Therapiemaßnahmen auf eigene Kosten durchzuführen. Zum einen sträubt er sich aus grundsätzlichen Gründen Behandlungen zu finanzieren, für die der Staat aufgrund seiner eigenen Haushaltspräferenzen nicht aufkommen will. Zum anderen fürchtet er, dass sich seine uneigennützige Haltung unter den Bedürftigen herumsprechen könnte. Wie aber begrenzt er die entstehenden Kosten, wenn immer mehr Bedürftige seine Praxis aufsuchen?
• Welches Vorgehen wäre hier angezeigt?
Dominik Groß
Der Kommentar
Ein Asylbewerber nach § 1 Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) hat Anspruch auf zahnmedizinische Versorgung im Rahmen von AsylbLG §§ 4 und 6. Nachdem thüringische Sozialämter die Kostenerstattung gegenüber der KZV wiederholt verweigert hatten, schränkte die KZV Thüringen per Vorstandsbeschluss 31/02 vom 23.01.2002 die ohne vorherige Kostenübernahmeerklärung durch das zuständige Sozialamt abrechenbaren Leistungen so stark ein, dass selbst akute Schmerzbehandlungen, die der Zahnerhaltung dienen, fortan nicht mehr zur Abrechnung angenommen werden [KZV Thüringen, 2002]. Dieses „Genehmigungsverfahren“ führt zu dem Dilemma, dass in Schmerzfällen, in denen eine zahnerhaltende Behandlung fachlich geboten ist, der Zahnarzt (zunächst) unentgeltlich zu arbeiten hat oder aber eine zwar „honorierte“ Schmerzbehandlung durchführt, die jedoch unweigerlich zum Zahnverlust führt.
Rechtlicher Hintergrund und Implikationen § 4 AsylbLG sieht die zahnärztliche Behandlung bei akuten Erkrankungen und Schmerzzuständen vor und legt die behördliche Sicherstellung für die zahnärztliche Versorgung einschließlich der „gebotenen Vor-sorgeuntersuchungen“ fest. Darüber hinaus erlaubt § 6 AsylbLG Behandlungen, die „im Einzelfall zur Sicherung […] der Gesundheit unerlässlich“ sind, somit auch die der chronischen Erkrankungen, die unabweisbar geboten sind [Röseler/Meyer, 2006, § 1a Rn. 25, § 6 Rn. 2, 3, 14; Decker, 2011, § 4 Rn. 4 und 5]. Für die Versorgung mit Zahnersatz hingegen ergibt sich nur ein Anspruch, „wenn die Behandlung aus medizinischen Gründen ausnahmsweise unaufschiebbar ist“ [§ 27 (2) SGB V; vgl. auch Decker, 2011, § 4 Rn. 6].
In der ursprünglichen Fassung des AsylbLG 1993 ging der Gesetzgeber von einem „in aller Regel nur kurzen, vorübergehenden“ Aufenthalt aus. Die „fürsorgerischen Gesichtspunkte der Leistungen an Asylbewerber“ sollten allerdings gewahrt und der „vorgesehene Umfang […] für eine vorübergehende Zeit zumutbar“ und „dem Grundsatz der Menschenwürde gerecht“ sein [Bundestags-Drucksache 12/4451]. Die eingeschränkte Leistungspflicht – auch für die zahnmedizinischen Leistungen – wurde jedoch zunächst von einem auf drei Jahre und schließlich auf vier Jahre prolongiert [Classen, 2008], wobei Deutschland im EU-Vergleich nicht die meisten Flüchtlinge aufnimmt, aber mit großem Abstand die meisten unentschiedenen Fälle verwaltet [Norredam, 2006]. Ein Bleiberecht kann letztlich für über 50 Prozent angenommen werden [Classen, 2010]. Nach Ablauf der vier Jahre beziehungsweise nach Anerkennung des Flüchtlingsstatus erfolgt die zahnmedizinische Versorgung analog SGB XII [BKK Bundesverband, 2008; Classen, 2008; Genfer Flüchtlingskonvention, Art. 24].
Im sozialethischen Kontext ist eine thüringische Verordnung zur Kostenerstattung für die Städte und Kommunen von Bedeutung, denn die Erstattung der Behandlungskosten durch das Land Thüringen erfolgt (zusammen mit anderen Leistungen) im Rahmen einer monatlichen Kopfpauschale an den jeweiligen kommunalen Kostenträger „je aufgenommenen Flüchtling, für den tatsächlich Leistungen erbracht werden“ [ThürFlüKEVO, 1999, § 2 (1) Satz 2 Nr. 3]. Falls die Pro-Kopf-Kosten eine gewisse Summe im Kalenderjahr überschreiten, wird nach § 2 (5) auch der zusätzliche Betrag übernommen. Durch das geschilderte „Genehmigungs“-Verfahren kann der kommunale Kostenträger die Behandlungen so steuern, dass die Kosten minimiert werden und zusammen mit den anderen subsumierten Leistungen die Pauschale nicht übersteigen oder gar letztlich in der Bilanz Gewinne resultieren. Dies fördert ein Fremdinteresse, Asylbewerber möglichst restriktiv behandeln zu lassen, was von hoher ethischer Relevanz ist.
Behandlungsoptionen
a) Es erfolgen eine eingehende Untersuchung mit Röntgenaufnahmen, als Sofortmaßnahme die akute zahnerhaltende Schmerzbehandlung und in der Folge alle weiteren notwendigen Therapiemaßnahmen.
Bei der Mutter sind dies Caries-profunda-Behandlung und Füllungstherapie, beim Sohn entweder Caries-profunda- oder endodontische Behandlung und Füllungstherapie sowie in der Folge die Versorgung aller kariösen Defekte und regelmäßige individualprophylaktische Maßnahmen. In der Sitzung der Schmerzbehandlung werden alle notwendigen Behandlungsmaßnahmen beim Sozialamt „beantragt“. Da selbst die Maßnahmen der akuten Schmerztherapie (außer den Röntgenaufnahmen) nach der Verlautbarung der KZV Thüringen ohne vorherige Kostenzusage nicht abrechenbar sind, tritt der Zahnarzt in Vorleistung. Bei Verweigerung der Kostenübernahme leistet er Gratisbehandlungen.
b) Es erfolgt lediglich eine symptombezogene Untersuchung mit Röntgenaufnahmen und eine reine Schmerzbehandlung ohne Extraktion der Zähne, aber auch ohne weitere notwendige Behandlungsmaßnahmen, bei der Mutter eine Caries-profunda- Behandlung, beim Sohn ebenfalls sofort entweder eine Caries-profunda-Behandlung oder eine Vitalexstirpation mit provisorischem Verschluss. Auch diese Maßnahmen (außer Beratung und Röntgen) sind – obwohl reine Akuttherapie zur Schmerzbesei-tigung – nur nach Kostenzusage abrechenbar. Nach den vorhergehenden negativen Erfahrungen stellt der Zahnarzt keinen Antrag und erwartet nach Abrechnung über die KZV eine entsprechende Rückbelastung (faktische Gratisbehandlung).
c) Es erfolgt lediglich eine symptombezogene Untersuchung mit Röntgenaufnahmen und Schmerzbehandlung im Rahmen der „behördlich“ vorgegebenen Abrechnungsmöglichkeiten: Bei der Mutter wie beim Sohn wäre dies die Extraktion der schmerzhaften kariösen, aber erhaltungsfähigen Zähne – diese Maßnahmen sind ent- sprechend der KZV-Liste ohne Kostenzusage abrechenbar.
d) Wie c), jedoch wird den Patienten als Alternative die Behandlung aus Option a) auf privater Basis angeboten.
e) Verweigerung der Behandlung.
Konkrete ethische Fallanalyse
Im Folgenden soll der skizzierte Fall anhand der vier ethischen Prinzipien nach Beauchamp und Childress (2009) erörtert werden:
Prinzip 1: Respekt vor der Patientenautonomie und Informed Consent (Autonomie-Prinzip)
Ein selbstbestimmtes Agieren der Patienten ist im vorliegenden Fall nicht oder allenfalls eingeschränkt möglich: Die Betroffenen sind in der Regel mittellos [Classen, 2008; § 7 (1) AsylbLG], häufig ohne Sprach- verständnis und auch mit der Kultur und dem Gesundheitswesen nicht vertraut. Ihr Leben mit unklarer Aufenthaltsperspektive, in sozialer Segregation in speziellen Unterkünften, mit eingeschränkten Arbeitsrechten und festgelegten Arbeitspflichten [§ 5 AsylbLG] ist gekennzeichnet durch eine weitreichende Fremdbestimmung. Auch die (zahn)ärztliche Behandlung von Asyl- bewerbern ist paternalistisch geprägt – ein Sachverhalt, der sich bereits aus der eingeschränkten (zahn)ärztlichen Leistungspflicht ergibt. Diese Form von Paternalismus kontrastiert mit dem Bild der Patientenautonomie und eines Arzt-Patient-Verhältnisses auf Augenhöhe, ist aber zum Teil auch in der Vulnerabilität der Patientengruppe und der daraus abzuleitenden besonderen Fürsorgepflicht des Arztes begründet. Der Zahnarzt verfügt in diesen speziellen Fällen gleichsam treuhänderisch (und damit paternalistisch) über die Entscheidungsbefugnis des Asyl-bewerbers. Unabdingbar für eine solche Fürsorgeposition ist allerdings eine unein-geschränkte Handlungs- und Gewissens-freiheit des Arztes [Morreim, 1991].
In diese asymmetrische dyadische Beziehung tritt hier ein dritter Akteur – das Sozialamt. Letzteres fungiert nicht nur als Leistungs-träger, sondern wirkt zugleich direktiv. Die Voraussetzung für eine gültige „Informierte Zustimmung“ (Informed Consent), die der Patient „ohne steuernde Einflussnahme“ oder „äußeren Zwang“ gibt [Schöne-Seifert, 2007; Marckmann/Bormuth, 2004], ist also de facto nicht gegeben. Der Informed Consent ist gänzlich außer Kraft gesetzt durch die Einflussnahme des Sozialamtes. Zusätzliche ethische Brisanz entsteht zum einen durch das Bestreben der jeweiligen Kommune, die Kosten zu minimieren, zum anderen in der wirtschaftlichen Notwendigkeit für den selbstständigen Zahnarzt, durch seine Tätigkeit die anfallenden Kosten zu decken und Gewinne zu erzielen. Die Einwilligung eines Patienten, der nicht weiß, dass Behandlungsentscheidungen durch mögliche wirtschaftliche Interessen Dritter (Fremdinteresse außerhalb der Arzt- Patienten-Beziehung) beeinflusst werden, ist hinsichtlich ihrer Gültigkeit stark zu hinterfragen – hier besteht eine Instrumentalisierungsgefahr, sprich der Patient droht Mittel zum Zweck zu werden [Beauchamp/Steinbock, 1999; Morreim, 1991; Bundesärztekammer, 1990]. Unter den gegebenen Rahmenbedingungen fehlt die Grundlage für die Entwicklung einer Vertrauensbeziehung zwischen Zahnarzt und Patient. Die Befreiung des Zahnarztes von vertrauensschädigenden Auflagen („Liste abrechen-barer Leistungen“) ist daher aus Gründen der Transparenz und Wahrhaftigkeit dringend geboten – nur so kann man der betreffenden Patientengruppe einen Rahmen bieten, der ein Minimum an Selbstbestimmung gestattet.
Prinzip 2: Nichtschadensgebot (Non-Malefizienz)
Besagten Patienten entsteht ein Schaden, weil die „behördliche“ Regelung zu einer Aufschiebung notwendiger Maßnahmen über mehrere Jahre führen kann. Hieraus resultiert – angesichts der offensichtlichen Ungleichbehandlung von „normalen“ Patienten und Asylbewerbern – über die physische Beeinträchtigung hinaus eine deutliche Diskriminierung.
Die Untersuchung nach Pos. 01, die in Thüringen beantragt und bewilligt werden muss, gehört aber bei jedem Patienten lege artis vor die Behandlung und wird in anderen Bundesländern nicht verweigert, sondern ist vielmehr strukturell vorgesehen. Dies geht unter anderem aus einer Aufklärungsbroschüre des BKK Bundesverbands hervor: „Leistungen, auf die Sie nach dem Asylbewerberleistungsgesetz einen Anspruch haben: [...] Halbjährliche zahnärztliche Vorsorgeuntersuchungen für Kinder und Jugendliche unter 18, danach jährliche Vorsorgeuntersuchungen“ [BKK Bundesverband, 2008].
Die festgestellten Befunde sind aufzuklären und anschließend systematisch einer Behandlung zuzuführen [Liebold et al, 2004]. Dies muss so gehandhabt werden, weil davon auszugehen ist, dass jeder aktive kariöse Befund progredient ist und unbehandelt zu einem akuten Krankheitszustand führt. Option b, die Akutbehandlung der Pulpitis mit beziehungsweise ohne Vitalerhaltung – nimmt zwar vordergründig den Schmerz, führt aber ohne eine weitere zahnerhaltende Therapie zur Zerstörung der betroffenen Zähne. Hinzu kommen wiederkehrende Schmerzzustände und die Gefährdung der Gesundheit durch chronische oder akute Infektionen.
Es widerspricht dem Nichtschadensgebot, ausschließlich Maßnahmen anzuwenden, die lediglich der kurzfristigen Überbrückung dienen. Die bewusste Inkaufnahme der Zerstörung schmerzfreier kariöser Zähne und das „Wegschauen“ trotz aller assoziierter allgemeinmedizinischer Konsequenzen ist mit dem Prinzip der Non-Malefizienz nicht vereinbar. Der Zahnarzt ist im Gegenteil gehalten, auf den Abschluss einer begonnenen Therapie zu achten, damit die Mundgesundheit nicht durch den initiierten Prozess selbst gefährdet wird [ADA, 2012]. Option c – Extraktionen als eine Art „archaische Therapie der Wahl“ – entspricht eindeutig nicht der Lex artis. Die Molarenextraktionen ohne weitere Behandlung beim Kind können mit hoher Wahrscheinlichkeit weitere Erkrankungen des Kauorgans herbeiführen. Das Gesetz selbst sieht demgegenüber vor, dass die Sicherung der Gesundheit und damit auch Krankheitsfolgen bei der medizinischen Therapie zu berücksichtigen sind [§ 4 (1) und § 6 (1) AsylbLG].
Die Konsequenzen einer Therapieentscheidung sind selbstverständlich bei jedem Patienten zu bedenken [Convention on Human Rights and Biomedicine Art. 5]. Das Menschenrecht auf körperliche Unversehrtheit [Art. 2 II 1 GG] ist ein schützendes Recht und garantiert den Schutz vor körperlichen Schäden. Im Bereich der Zahnheilkunde entspricht es dem Non-Malefizienz-Prinzip. Eine unvollständige und damit bewusst mangelhafte Therapie mit sicheren Folgeschäden verletzt dieses Recht, das jeder Person zusteht.
Selbst wenn die gewonnene Sicherheit für einen politischen Flüchtling wichtiger sein dürfte als die konkrete Ausgestaltung der medizinischen Versorgung im Asyl gewährenden Land, ist ein mehrjähriges Ausharren mit bloßer Notversorgung in Anbetracht der zu erwartenden Folge- beziehungsweise Spätschäden nicht hinnehmbar.
Ferner kann die wiederholte Verweigerung einer beantragten, fachlich gebotenen Leistung auf die Betroffenen psychisch zer- mürbend wirken, weshalb sie als „a powerful constraint on care“ bewertet wird [Morreim, 1991]. Haben sich der psychische Schaden und das patientenseitige Miss-trauen erst einmal gefestigt, wird es das weitere soziale Verhalten des Patienten beeinträchtigen, so dass es mit den Jahren zu Einschüchterung, angstvollem Verhalten und sozialem Rückzug kommen kann [Parker et al, 2003].
Insofern steht das Nichtschadensgebot der Anwendung der den „behördlichen“ Vorgaben entsprechenden Option c – aber auch den Optionen b und e – diametral entgegen.
Prinzip 3: Gebot des Wohltuns (Benefizienz-Prinzip)
Ein Asylbewerber hat wie jeder andere Patient gemäß § 2 der Musterberufsordnung Anspruch darauf, dass der Zahnarzt die Behandlung „nach den Geboten der ärztlichen Ethik und der Menschlichkeit“ und entsprechend den „Regeln der zahnmedizinischen Wissenschaft“ erbringt – und zwar „in zeitgemäßer Weise, umfassend und zügig“ [§ 17 SGB I], wobei es „den Einzelfall unter medizinischen Gesichtspunkten“ zu betrachten gilt [Bundestags-Drucksache 12/4451; Thür. Landtag Drucksache 5/3109].
Dem Prinzip der Benefizienz zufolge sind Schmerzfälle dringlich, aber in der Folge auch vollständig und lege artis zu be- handeln. Ein Asylbewerber kann jedoch in der Regel aufgrund der Mittellosigkeit keine Leistungen privat bezahlen. Sein gesetzlich vorgeschriebenes „Taschengeld“ ist für öffentliche Verkehrsmittel und Kommunikation vorgesehen und ein vertretbarer weiterer „Kürzungsspielraum“ ist nicht vorhanden [Röseler/Meyer, 2006, § 1a Rn. 26], so dass es hier ethisch nicht vertretbar ist, die Erbringung notwendiger zahnärztlicher Leistung von privater Zuzahlung (Option d) abhängig zu machen.
Prinzip 4: Gerechtigkeit
Das Gerechtigkeitsprinzip kommt in diesem Fall besonders zum Tragen, da die Frage nach Gerechtigkeit mehrere Ebenen und vielschichtige Interaktionen sowohl von medizinethischer und -rechtlicher als auch von gesellschaftspolitischer und menschenrechtlicher Relevanz betrifft. Im Folgenden wird versucht, diese Beziehungen etwas zu entflechten.
Egalität der Grundversorgung versus kultureller Relativismus:
„Gesundheit“ ist ein konditionales Gut und es entspricht dem Grundsatz der Egalität, dieses Gut für jeden Menschen gegen schädigende Abstriche zu verteidigen [Williams, 2007; Allg. Erklärung der Menschenrechte, Art. 25]. Die schützenden Menschenrechte hierzu dürfen insgesamt und somit auch für Flüchtlinge nicht relativiert werden, zumal die Nachkriegs-Menschenrechts-Konvention 1948 – ebenso wie die Europäische Menschenrechtskonvention 1950 und der Nürnberger Kodex zur Medizinethik 1947 – gerade unter dem Eindruck der Verletzungen der Menschenwürde im Zweiten Weltkrieg formuliert wurden [Gostin, 2001]. Eine Relativierung dieser Menschenrechte würde allen historischen Lehren zum Trotz die Existenz von „Menschenwürde“ [Allg. Erklärung der Menschenrechte, Art. 1; Art.1 GG] schlechthin infrage stellen. Durch den Nürnberger Kodex wurden „fundamentale Menschenrechte in der Medizin etabliert“, er zeigt die „Verknüpfung von im Völkerrecht verankerten Menschenrechten und hippokratischer Ethik“ auf [Schmidt/Frewer, 2007]. Insofern ist zu fordern, dass die schützenden Menschenrechte auch in der Heilkunde bindend gelten müssen [FDI, 2007]. Deshalb darf der Zahnarzt – wie im Genfer Gelöbnis beschrieben – in der Grundversorgung keine von Nationalität beziehungsweise bürgerlichem Status abhängigen Unterschiede machen [Genfer Gelöbnis]. Ebenso sieht der „Public Health Code of Ethics” vor, dass der Zugang zu „basic resources and conditions necessary for health” für alle bestehen muss [Columbus Public Health]. Patienten abhängig von ihrer Nationalität unterschiedlich zu be-handeln und hier trotz überlegener Behandlungsalternativen zur Zange zu greifen, widerspräche dem ärztlichen Selbstverständnis und dem Prinzip der Menschenwürde, das asylrechtlichen Bestimmungen übergeordnet ist [Röseler/Meyer, 2006, §1a Rn. 26; Goebel-Zimmermann, 2006, Rn.34].
Ebenso kritikwürdig ist ein kultureller oder ethischer Relativismus, bei dem eine systematische Schlechterstellung beziehungsweise Diskriminierung von Individuen oder Personengruppen mit deren Ethnizität oder politischer Zugehörigkeit erklärt und gerechtfertigt wird [Marshall, 2003]. So wird zuweilen postuliert, dass es verantwortbar sei, farbige beziehungsweise arme Menschen mit medizinischen Maßnahmen unter- beziehungsweise außerhalb des geltenden fachlichen Standards zu versorgen, da die Bevölkerung im Herkunftsland angesichts der dortigen (unterentwickelten) medizi- nischen Infrastruktur auch nicht gemäß diesen Standards versorgt werde [ebd.].
Eine Politik, die bestimmten Personengruppen über einen Zeitraum von mehreren Jahren systematisch einen medizinischen Standard vorenthält, ist diskriminierend und stigmatisierend. Zudem wird der Zahnarzt so nolens volens zum Vollstrecker eines frag- würdigen sozialpolitischen Regelwerks – ein Sachverhalt, der auch berufs- ethischen Klärungsbedarf aufwirft: Wenn seitens der Kostenträger gängige Vorurteile bedient werden oder mit Ressentiments gearbeitet wird, wie etwa der Unterstellung, es sei „bekannt, daß gerade im Bereich der Asylbewerber oft ein stark forderndes Verhalten […] anzutreffen ist“ [Sozialamt Eisenach, 2003], gebietet es das (zahn)ärztliche Ethos, sich nicht vereinnahmen zu lassen.
Mit Blick auf das Gerechtigkeitsprinzip ist deshalb die dirigistische Behandlungsoption c als fachlich wie ethisch unangemessen zu betrachten. Der Zahnarzt muss – hierauf wird er auch durch die Musterberufs- ordnung [Präambel und § 2 (2)] festgelegt – die Menschenwürde und insbesondere die Menschlichkeit in jedem Fall achten. Besagtes Gerechtigkeitsargument, das in der Verantwortung des Zahnarztes und der Gesellschaft für den Patienten im historischen Kontext gründet und für das Funktionieren des Gemeinwohls von elementarer Bedeutung ist, spricht für Option a. Gerechtigkeit gegenüber Flüchtlingskindern:
Eine Gesellschaft, die sich einer „sozialen Gerechtigkeit“ verpflichtet sieht, darf unseres Erachtens die Heilbehandlung von Kindern nicht von einer Prüfphase des poli-tischen Ansinnens ihrer Erziehungsberechtigten abhängig machen. Gerade Kinder soll und darf der Staat beschützen als „Parens patriae“ [American College of Dentists], insbesondere wenn wie hier die Autonomie- fähigkeit der Eltern nicht oder nur eingeschränkt gegeben ist. Kinder benötigen sui generis die bestmögliche Entfaltung ihrer Lebenschancen, wozu die Gesundheit als konditionales Gut gehört. In diesem Sinn ist auch die Prävention angezeigt: „Mütter und Kinder haben Anspruch auf besondere Fürsorge und Unterstützung. Alle Kinder […] genießen den gleichen sozialen Schutz“ [All. Erklärung der Menschenrechte, Art. 25 (2)]. Das Flüchtlingskind hat wie jedes andere Kind ein Recht auf optimale Entwicklung, „das erreichbare Höchstmaß an Gesundheit“ und „Leistungen der sozialen Sicherheit“ [Unicef, 1989, Art. 24, 26; WMA, 2009].
Der Zahnarzt muss mit Blick auf das Kindeswohl Option a wählen. Doch ausgerechnet Deutschland behielt sich bis Mai 2010 das Recht vor, bezüglich der UN-Rechte des Kindes „Unterschiede zwischen Inländern und Ausländern zu machen“ [Vorbehalts- erklärung, 1992]. Nachdem die UN-Kinderrechte nun auch in Deutschland gelten, gibt es keinerlei Rechtfertigung mehr für gesundheitliche Restriktionen bei Flüchtlingskindern. Eine entsprechende Klarstellung seitens des Gesetzgebers ist überfällig.
Gerechtigkeit gegenüber dem Zahnarzt:
Beim Bestreben der Kommunen, Kosten einzusparen, ist nicht der Zahnarzt bezüglich seiner KZV-Abrechnung in die Pflicht zu nehmen: Er darf sich nicht zum fachlichen Substandard oder gar zum Honorarverzicht genötigt sehen. Die Gratisbehandlung wäre ungerecht gegenüber dem Zahnarzt, denn er würde nicht nur die Behandlung umsonst leisten, sondern müsste in seiner grund-sätzlich durch das Eigentumsrecht (Art. 14 GG) geschützten Praxis [Schrinner, 1996] schließlich auch auflaufende Kosten selbst aufbringen. Diese Option schädigte die stärker betroffenen Praxen ungleichgewichtig mehr. Regelhafte Gratisbehandlungen einer ganzen Patientengruppe sind ethisch kritikwürdig, weil sie in der Summe bewertet einen unbotmäßigen Aufwand darstellen [Morreim, 1991]. Selbst in einer von Altruismus geprägten Berufsauffassung kann die unbezahlte Leistung nur auf einer persön- lichen und freiwilligen Entscheidung im Einzelfall beruhen. Willensfreiheit ist nicht gegeben, wenn die wirtschaftliche Praxis- situation es nicht erlaubt – eine verschuldete oder am Rande der Wirtschaftlichkeit existierende Praxis kann nicht regelmäßig unbezahlte und zeitaufwendige Behandlungen erbringen.
Der ministerielle Hinweis auf den Hippokratischen Eid beziehungsweise die „berufsrechtlichen Vorschriften“ der Ärzte [Thür. Landtag Drucksache 5/3111 und 5/3116] als Beleg und als Maßgabe dafür, dass die thüringischen Zahnärzte trotz Restrik-tionen immer „nach qualitätsgerechten Maßgaben und im notwendigen Umfang entsprechend der vorliegenden Indikation“ behandeln mussten beziehungsweise müssen, ist unangemessen, denn er setzt die Zahnärzte, die nicht gegen ihr Gewissen handeln wollen, unter eben diesen Druck, therapeutische Maßnahmen auf eigene Kosten durchzuführen. Gleiches gilt für eine „Klarstellung“ des Thüringer Landesverwaltungsamtes vom 27.01.2012, wonach „zahnerhaltenden Maßnahmen der Vorrang vor einer Extraktion einzuräumen“ sei, aber wiederum auf den entsprechenden Leistungskatalog der KZV und die Geneh-migungspflicht für darüber hinausgehende Leistungen hingewiesen wird [Dittes, 2012]. Durch diese Argumentationen wird der Versuch unternommen, gesamtgesellschaftliche Aufgaben in unlauterer Weise auf einzelne Leistungserbringer abzuschieben. Anders ausgedrückt: Die implizite Ermahnung zum ärztlichen Eidgedanken recht- fertigt keine systematische Ausnutzung und kumulative wirtschaftliche Selbstopferung der Profession. Sie kollidiert mit dem Sicherstellungsauftrag des Leistungsträgers selbst und ist insbesondere deshalb perfide, da gerade diejenigen, die unethisch handeln, ethische Verantwortung der Leistungserbringer einfordern. Es kann nicht auf Verwaltungsebene für Patienten ein Standard unterhalb der Lex artis willkürlich bestimmt werden, während gleichzeitig der Zahnarzt juristisch zum Facharztstandard verpflichtet bleibt. Die Public-Health-Ethik betont, dass die Gesundheit des Einzelnen limitiert, nicht aber beschädigt werden darf zugunsten der Gesundheit aller. Vielmehr sind durch die menschenrechtlich veran-kerte Schutzpflicht dem Utilitarismus im Gesundheitswesen grundgesetzliche Grenzen gesetzt [Gutmann, 2006], und die Lex artis steht (auch strafrechtlich) immer höher als der wirtschaftliche Aspekt [Tag, 2005].
Einem bestehenden Behandlungsbedarf über Jahre hinweg lediglich mit unvollständiger Therapie zu begegnen, wird zudem im Hinblick auf zahnärztliche wie allgemeinmedizinische Folgekosten nur vordergründig wirtschaftlich günstig sein. Im Gegenteil – sie wird angesichts zu erwartender Spätschäden in der Regel einen höheren ökonomischen Aufwand nach sich ziehen. Auch vor diesem Hintergrund wäre die Erstattung der Behandlungskosten, also eine solidarisch finanzierte Option a (ohne Kostenbeteiligung des Zahnarztes), als eine sozialethisch wie wirtschaftlich angemes- sene Vorgehensweise anzusehen.
Gerechtigkeit im Arzt-Patient-Verhältnis:
Die Arzt-Patient-Beziehung ist zwar realiter nicht frei von wirtschaftlichen Überlegungen, allerdings ist darauf zu achten, dass das Bestimmungsrecht nur den beiden Akteuren – Arzt und Patient – obliegt. Doch die Flüchtlinge stehen in Abhängigkeit von den Behörden, denen per Gesetz die Sicherstellung der zahnärztlichen Versorgung zukommt – mit dem ausdrücklichen Ziel, „für den von diesem Gesetz umfaßten Personenkreis die freie Arztwahl auszuschließen“ [Bundestags-Drucksache 12/4451]. Zu dieser Absicht des AsylbLG bleibt als „einzig erkennbarer Zweck […] die Beschränkung der Handlungsfreiheit der Leistungsberechtigten. Dies kann aber angesichts der gesundheitlichen Bedeutung des Vertrauensverhältnisses zwischen Arzt und Patient […] kein verfassungsrechtlich legitimes Ziel sein“ [Röseler/Meyer, 2006, § 4 Rn. 18].
In unserer Gesellschaft schuldet der Zahnarzt die „erste Treue“ dem Patienten und nicht etwa dem Staat. Jeder Patient sollte darauf vertrauen können, keine „Staats- medizin“ [Hoppe, 2005], sondern eine hippokratische Medizin zu erhalten. Diese Verpflichtung zum Wohl des Patienten fußt auf der beruflichen Autonomie und dem Expertenstatus des Zahnarztes. Deshalb kann und darf der Zahnarzt das Recht und die Pflicht, über die notwendige zahn-erhaltende Behandlung zu entscheiden, nicht willfährig an Nicht-Zahnärzte abtreten. Ähnliches gilt explizit für Flüchtlinge: „Regierungen dürfen weder das Recht des Patienten auf medizinische Behandlung, noch die Pflicht des Arztes zu helfen, einschränken“ [Weltärztebund, 1998].
Aus dem Gesagten ist zu folgern, dass die Tätigkeit des Zahnarztes zwingend frei sein muss und dass der medizinische Standard der zahnerhaltenden Maßnahmen nicht durch Fachfremde zu einem behördlichen Standard abgeändert werden darf, sondern einem wie durch die GKV festgelegten prozeduralen zahnärztlichen Mindeststandard zu entsprechen hat.
Folgt der Zahnarzt von vornherein der Abrechnungsliste der KZV im Sinne einer expliziten direkten Rationierung, so hat er nicht nur sich selbst (wiederholt) zu einer Handlung gegen sein Gewissen und seinen Willen leiten lassen; vielmehr bewegt er sich auch außerhalb der Vorgaben des Zahnheilkundegesetzes und der Berufsordnungen. Der Zahnarzt würde nicht die geschuldete fachgerechte Behandlung des Patienten erbringen, was ihm objektiv als „grober Behandlungsfehler“ angelastet werden könnte. Auf die juristischen Folgen, angefangen mit der in solchen Fällen üblichen Beweislastumkehr bis hin zum Vorwurf der Körperverletzung, kann an dieser Stelle nur am Rande hingewiesen werden. Das zahnärztliche Recht und die Pflicht, ent-sprechend dem Zahnheilkundegesetz, dem medizinischen Stand und dem eigenen Gewissen zu behandeln, stehen unseres Erachtens höher als die Umsetzung schädigender Behandlungsvorgaben. Es ist ethisch geboten, Schmerzfreiheit herzustellen und Schaden von den Patienten abzuwenden, um mit einer Behandlungsverweigerung nicht die Schwächsten zu treffen.
Wenn der Patient Mittel zum Zweck wird, wird es auch der fürsorgepflichtige Zahnarzt selbst. Die Konsequenzen für ihn sind also ebenso gewichtig. Eine Klage gegen das Sozialamt übersteigt jedoch seine erforder-liche Aufopferungsfähigkeit, weil seine Kritik nicht nur den einzelnen Behandlungsfall, sondern die ganze Auslegungspraxis des AsylbLG in Thüringen beträfe und es Sache der ganzen Profession ist, Politik und Behörden auf ihre Verantwortung hinzuweisen. Hier steht insbesondere die Gemeinschaft der Vertragszahnärzte als Mitglieder der KZV Thüringen in der Pflicht, aber auch die Zahnärztinnen und Zahnärzte des Öffent- lichen Gesundheitsdienstes – ohne und gegen deren ärztliche Stellungnahme kein Sachbearbeiter Gesundheitsleistungen verweigern darf – und nicht zuletzt die gesamte Zahnärzteschaft des Landes Thüringen, vertreten durch die Landeszahnärzte- kammer.
Die Analyse zeigt, dass sich der Zahnarzt in einer Dilemmasituation befindet, die er als Einzelperson nicht auflösen kann. Vielmehr sind die Berufsvertretungen aufgerufen, auf eine Änderung der rechtlichen Rahmen- bedingungen hinzuwirken.
Im konkreten Fall schlagen wir dem Zahnarzt vor, dass er die Untersuchung und die indizierte Therapie im besten Interesse des Patienten treuhänderisch durchführt, soweit es die wirtschaftlichen Möglichkeiten seiner Praxis erlauben, ohne diese als „Bittsteller“ [Hartung, 2012] erst noch bei fachfremden Behörden zur „Genehmigung“ einzureichen. Eine Kostenzusage für medizinisch notwendige Leistungen durch eine fachfremde Behörde kann als Standard- verfahren nicht akzeptiert werden. Kein Sachbearbeiter einer Behörde hat die Kompetenz, die medizinische Indikation oder Notwendigkeit zu überprüfen: Diese Aufgabe kann allenfalls ein (Zahn)Arzt (Öffentlicher Gesundheitsdienst) übernehmen, wenn es einer besonderen Begründung wie etwa bei einer unaufschiebbaren prothetischen Behandlung bedarf. Indem die KZV Thüringen eine Liste der für Asyl- bewerber abrechenbaren Leistungen einführte, hat sie nolens volens einem solch unzulässigen „Genehmigungs“-Verfahren Vorschub geleistet und einen bürokra- tischen Standard etabliert, der Patienten regelmäßig notwendige zahnärztliche Leistungen vorenthält.
Daher soll der Zahnarzt seine erbrachten Leistungen bei der KZV zur Abrechnung einreichen. Werden sie nicht vergütet, soll er die KZV schriftlich um eine Begründung bitten, die konkret erläutert,
• warum eine Untersuchung genehmigungspflichtig ist,
• mit welchem Recht der Molarenerhalt beim Kind vom Sozialamt abgelehnt werden darf und
• warum bei der Mutter eine Nichtlegeartis-Behandlung der Frontzähne problemlos abgerechnet werden darf, während die Legeartis-Behandlung bürokratisch erschwert beziehungsweise sogar abgewiesen werden kann.
Alle weiteren Patienten sollte er – für eine befristete Zeit – im Rahmen der Schmerztherapie behandeln und die indizierten Maßnahmen einschließlich der Unter- suchung beim Sozialamt beantragen. Sofern diese nicht vollständig genehmigt werden, fordert er vom Amt eine medizinische Begründung ein, die nur von einem Zahnarzt (in der Regel ein Kollege des Öffent- lichen Gesundheitsdienstes) gegeben werden kann. Da keine medizinische Begründung für die Ablehnung existiert, wird das Sozialamt nicht umhin kommen, die „be-antragten“ Leistungen zu „genehmigen“. Sollte das Sozialamt auf der Ablehnung beharren, empfehlen wir, das Ablehnungsschreiben dem Vorstand und dem Justiziar der Zahnärztekammer vorzulegen und auf die Diskrepanz zwischen einer standes- und menschenrechtskonformen Lege-artis-Behandlung und den administrativen Vorgaben hinzuweisen. Zudem sollte der kritikwürdige Status quo mit den Kosten- erstattungsregelungen in der ThürFlüKEVO juristisch überprüft werden. Dafür sind konzertierte Anstrengungen der Standes- organisationen unter dem Dach der BZÄK erforderlich.
Ralf Vollmuth und Gereon Schäfer
Rechtlicher Kommentar
Diese Fallgestaltung wirft zum einen die Frage auf, ob eine generelle Beschränkung der Behandlungsmöglichkeiten gegenüber Asylbewerbern auf Zahnextraktionen möglich ist, und zum anderen, ob die hierbei anfallenden Behandlungskosten gegenüber den Kommunen abrechenbar sind.
Begrenzung der Behandlung von Asylbewerbern auf Zahnextraktionen
Wenn Asylbewerber die Behandlungsvoraussetzungen nach § 4 Abs. 1 S. 1 AsylbLG erfüllen, sprich wenn also ein akuter Schmerz- oder Erkrankungszustand besteht, haben diese grundsätzlich Anspruch auf die gleichen Leistungen wie gesetzlich Versicherte. Diese Leistungen sind laut Gesetzeswortlaut lediglich darauf begrenzt, dass diese „erforderlich“ sind. Dies bedeutet, dass nur Behand- lungen möglich sind, die zur Beseitigung des akuten Schmerz- beziehungsweise Erkrankungszustands unmittelbar erforderlich sind. Eine längerfristige Therapie chronischer Erkrankungen soll ausgeschlossen werden. Hierdurch wird vom Gesetzgeber klargestellt, dass für Asylbewerber kein Anspruch auf eine optimale und bestmögliche Versorgung besteht [Hohm, in: Schellhorn/Hohm/Schneider (Hrsg.): SGB XII Sozialhilfe, § 4 AsylbLG Rn. 11]. Wenn allerdings die Notwendigkeit einer zahnärztlichen Behandlung durch die sachverständige Beurteilung eines Zahnarztes festgestellt wurde, umfasst der Umfang der den akuten Schmerz- beziehungsweise Erkrankungszustand beseitigenden zahnärztlichen Behandlung im Sinne des § 4 Abs. 1 AsylbLG alle auf zahnärztlich-wissenschaftlichen Erkenntnissen basierenden Tätigkeiten eines Zahn- arztes, die der Feststellung und Behandlung von Zahn-, Mund- und Kieferkrankheiten dienen [Hohm, in: Schellhorn/Hohm/Schneider (Hrsg.):SGB XII Sozialhilfe, § 4 AsylbLG Rn. 8]. Ausgeschlossen sind Leistungen im Sinne des § 28 Abs. 2, S. 6-9 SGB V, die auch gesetzlich Versicherten nicht zustehen würden. Dies bedeutet mithin, dass diese zahnärztlichen Behandlungen von Asylbewerbern lege artis ausgeführt werden und den „normalen“ Wirtschaftlichkeits-anforderungen des § 12 SGB V entsprechen müssen.
Entscheidend für die Frage der Zulässigkeit von Erhaltungsmaßnahmen als vorbeugende Maßnahme der Extraktion der Zähne von Asylbewerbern ist daher, ob diese „ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich“ (so der übereinstimmende Wortlaut von §§ 12, 72 Abs. 2 SGB V) sind. Insoweit gelten auch hier die allgemeinen Regelungen bezüglich der Behandlung gesetzlich Versicherter.
Eine generelle Beschränkung der Behandlung von Asylbewerbern auf eine Zahnextraktion, wie durch die Kommune hier angedeutet, ist daher nicht vertretbar. Bei einer solch generellen Beschränkung wird nicht die durch § 12 SGB V geforderte Abwägung im Einzelfall vorgenommen. Auch ergeben sich rechtliche Bedenken hinsichtlich einer ungerechtfertigten Ungleichbehandlung (Art. 3 I GG) von Asylbewerbern gegenüber sonstigen Leistungsempfängern. Für Asylbewerber ist über § 4 AsylbLG bereits der Zugang zu medizinischer Versorgung stark eingeschränkt. Gründe für eine dann weitergehende folgende Einschränkung der Behandlungsmöglichkeiten sind nicht ersichtlich. Ab dem Moment der Erfüllung der Behandlungsvoraussetzungen des § 4 AsylbLG sind Asylbewerber hinsichtlich des Umfangs der Behandlung zur Beseitigung des akuten Schmerz- beziehungsweise Erkrankungszustands den gesetzlich Versicherten gleichzustellen.
Auch muss bezweifelt werden, dass eine Zahnextraktion bei möglicher Erhaltung des Zahnes tatsächlich immer eine Behandlung legeartis darstellt. Im Ergebnis ist daher ein genereller Ausschluss zahnerhaltender Behandlungen für Asylbewerber rechtswidrig. Vielmehr obliegt die Beurteilung der Notwendigkeit der Maß- nahme dem behandelnden Arzt. Die Kommune selber kann nur überprüfen, ob eine Behandlung tatsächlich zur Beseitigung der Schmerzzustände erforderlich war, nicht aber welche konkreten Maßnahmen zu deren Beseitigung ergriffen wurden.
Abrechenbarkeit der Behandlung
Wenn Maßnahmen zur Beseitigung von akuten Schmerz- oder Erkrankungszuständen bei Asylbewerbern vorgenommen wurden, richtet sich deren Abrechnung nach § 4 Abs. 3 S. 2 AsylbLG. Hiernach richtet sich die Vergütung für diese Leistungen, wenn sie von niedergelassenen Zahnärzten durchgeführt wurden, nach den am Ort der Niederlassung des Zahnarztes geltenden Verträgen nach § 72 Abs. 2 des SGB V. Diese Norm findet daher bei der zahnärzt-lichen Behandlung von Asylbewerbern als Abrechnungsgrundlage, bei der Behandlung von Asylbewerbern durch niedergelassene Ärzte, Anwendung [Hohm, in: Schellhorn/Hohm/Schneider (Hrsg.): SGB XII Sozialhilfe, § 4 AsylbLG Rn. 36].
Im Ergebnis steht auch Asylbewerbern bei der Bejahung der Behandlungsnotwendigkeit derselbe Behandlungsanspruch zu wie gesetzlich Versicherten. Auch in diesen Fällen sind daher im Rahmen der Wirtschaftlichkeitsabwägung des § 12 SGB V zahnerhaltende Maßnahmen möglich.
Ass. Jur. Carsten Hörich, Halle
Univ.-Prof. Dr. med. Dr. med. dent. Dr. phil. Dominik GroßDr. med. dent. Gereon SchäferInstitut für Geschichte, Theorie und Ethik der MedizinWendlingweg 2D-52074 Aachen
Prof. Dr. med. dent. Ralf VollmuthInstitut für Geschichte der MedizinOberer Neubergweg 10a97074 Würzburgdr.ralf.vollmuth@t-online.de
Ass. Jur. Carsten HörichKörnerstraße 6,06114 Hallecarsten.hoerich@jura.uni-halle.de