Die Sorge um ein sorgenfreies Altern
Peter Oberender
Die Gesundheitsausgaben steigen weltweit mit wachsendem Pro-Kopf-Einkommen. Gesundheitsökonomen sprechen in diesem Zusammenhang vom „ersten Gesetz der Gesundheitsökonomie“. Ursachen hierfür sind einerseits der hohe Stellenwert der Gesundheitsversorgung als einkommensuperiores Gut sowie andererseits der medizinische Fortschritt. Diese Entwicklung ist hierbei unabhängig von der Finanzierungsform der Gesundheitsversorgung.
Der Anteil der Gesundheitsausgaben am Bruttoinlandsprodukt (BIP) beträgt in Deutschland gegenwärtig 11,2 Prozent (2010), in der Schweiz liegt dieser Wert bei 11,4 Prozent; im Vergleich hierzu liegt dieser Anteil in den USA mit 19,9 Prozent wesentlich höher. Wird auf die Gesundheitsausgaben pro Kopf (Kaufkraftparität in Dollar $–KKP) abgestellt, so betragen diese in Deutschland 4 187 $-KKP, in der Schweiz 5 270 $–KKP und in den USA 7 910 $–KKP. Wird nun auf den Anteil am BIP für Leistungen in Zahnpraxen abgestellt, so zeigt sich, dass dieser Anteil lediglich 0,75 Prozent in Deutschland und auch in den USA beträgt. Wird wiederum auf die Kosten pro Kopf bezüglich der zahnmedizinischen Ausgaben abgehoben, so ergeben sich für Deutschland 268 $–KKP, für die USA 339 $–KKP und für die Schweiz 322 $–KKP.
Wird die Betrachtung weiter eingegrenzt, so zeigt sich, dass in Deutschland 2010 lediglich 6,4 Prozent der gesamten Gesundheitsausgaben auf Zahnarztpraxen entfielen, in der Schweiz waren dies 6,1 Prozent und in den USA 4,4 Prozent. Interessant sind in diesem Zusammenhang auch die öffentlichen und privaten Finanzierungsanteile der Ausgaben für Leistungen in Zahnarztpraxen: In Deutschland war dieses Verhältnis öffentlich versus privat 64,3 Prozent zu 35,7 Prozent, in der Schweiz 6,4 Prozent (!) zu 93,6 Prozent und in den USA 9,9 Prozent zu 90,1 Prozent. Mit dem hohen Anteil der öffentlichen Finanzierung liegt Deutschland weltweit damit an der Spitze. In Spanien beträgt diese Relation beispielsweise 1,6 Prozent zu 98,4 Prozent!
Raus aus dem Regelkatalog
Hier wird sich zukünftig für die Politik angesichts des steigenden Finanzierungsdrucks die Frage stellen, ob nicht auch in Deutschland die Zahnmedizin zunehmend aus dem Regelkatalog der GKV herausgenommen wird und dem privaten Bereich zugeordnet werden muss. Interessant ist in diesem Zusammenhang ein Vergleich der tätigen Zahnärzte je 1 000 Einwohner: 2011 waren dies 84 in Deutschland, 53 in der Schweiz und 65 in den USA.
In Deutschland sind rund 90 Prozent der Bevölkerung in der GKV versichert. Die Einnahmen hängen aufgrund des Umlage- verfahrens vom Einkommen der abhängig Erwerbstätigen ab. Nun steigen die Ausgaben aus den genannten Gründen schneller als die Einnahmen. Dies hat unter anderem zur Folge, dass die Diskrepanz zwischen dem medizinisch Möglichen und Notwendigen einerseits und dem Finanzierbaren andererseits weiter zunehmen wird.
Eine Folge wird zunächst sein, dass verstärkt Anreize für einen wirtschaftlichen Umgang mit den knappen Ressourcen geschaffen werden, das heißt, dass eine Rationalisierung Platz greift. Dies allein wird aber nicht ausreichen, es wird auch zunehmend zu Rationierungen kommen, indem auf an sich notwendige und wirksame Maßnahmen im Rahmen der GKV Regelversorgung verzichtet wird. Grundlage für diese Rationierung muss allerdings eine Priorisierung sein, das heißt, es muss eine Rangfolge hinsichtlich der Dringlichkeit der Versorgungsleistungen durchgeführt werden.
Rationierung von Behandlung
Angesichts der knappen finanziellen Mittel stellt sich auch in der Zahnmedizin die Frage der Rationierung immer stärker. In diesem Zusammenhang sind verschiedene Kriterien zu diskutieren. Zunächst stellt sich die Frage der Zumutbarkeit, ob nämlich die ausgeschlossenen Leistungen dem einzelnen Menschen finanziell zugemutet werden können. Die Beantwortung dieser Frage hängt von der Schadenshöhe, der Dringlichkeit und von der individuellen Zahlungsfähigkeit ab. Wichtig ist hierbei auch, inwieweit der Schaden vorhersehbar ist.
Ein weiteres Kriterium stellt das Verhalten des Versicherten dar. Hier muss geklärt werden, inwieweit der Einzelne durch sein Verhalten für die Krankheit selbst verantwortlich ist. Es muss unter anderem auch geklärt werden, ob durch Prävention und Prophylaxe der Schadenseintritt entweder verhindert oder verzögert werden kann.
Ferner bedarf es einer Klärung der Frage, inwieweit durch eine Rationierung Dritte negativ betroffen sind, das heißt, negative externe Effekte entstehen.
Gleichbehandlung aller Patienten
Ein wichtiges Kriterium bei der Rationierung stellt die Gleichheit und Gleichbehandlung aller Menschen in Bezug auf den Zugang und die Zuteilung von Gesundheitsleistungen dar. Wie sich aus der Abbildung ergibt, scheint eine Rationierung zahnmedizinischer Leistungen vertretbar und sinnvoll zu sein.
Eine Rationierung in der Zahnmedizin darf jedoch nicht isoliert von den anderen Leistungsbereichen erfolgen. Es muss immer bedacht werden, dass aufgrund einer zirkularen Interdependenz von Mundgesundheit und allgemeiner Gesundheit ein Zusammenhang besteht. So führt beispielsweise eine schlechte Mundhygiene als eine Folge der Rationierung der zahnmedizinischen Versorgung zu Infekten und zu einer höheren Morbidität und Mortalität.
Eine Rationierung in der Zahnmedizin muss deshalb grundsätzlich von entsprechenden flankierten Maßnahmen der Verhältnis- und Verhaltensprävention begleitet werden, die zum einen das Ziel haben, das Gesundheitsbewusstsein und das Verhalten des Einzelnen hinsichtlich Prävention und Prophylaxe zu fördern, und zum anderen auch durch eine Fluoridierung des Trinkwassers eine Kariesprävention betrieben werden muss.
Offene und transparente Diskussion
Eine Rationierung darf nicht punktuell und willkürlich erfolgen, sondern es muss ein gesellschaftlicher Diskurs darüber stattfinden, was und in welchem Umfang im Regelleistungskatalog einer Sozialversicherung enthalten sein sollte. Diese Diskussion muss offen und transparent geführt werden; es ist eine Aufgabe der Politik als legitime Vertreter der Bürger, darüber zu entscheiden, wie der Regelleistungskatalog auszugestalten ist. Hierbei muss festgelegt werden, welche Leistung von wem, für welche Indikation, bei welchem Patienten erbracht werden darf. Dies setzt voraus, dass die Leistungserbringer über eine entsprechende fachliche Kompetenz verfügen.
Paradigmenwechsel bei der Honorierung
Unmittelbar mit der Leistungserbringung hängt auch die Honorierung zusammen. Hier ist ein Paradigmenwechsel unumgänglich, indem von einer input-orientierten zu einer output-orientierten Honorierung übergegangen wird. Bei einer output-orientierten Honorierung („pay for performance“) steht neben dem Preis vor allem die Output-Qualität im Vordergrund. Da es keine objektiven Vorstellungen bezüglich der Ergebnisqualität gibt, muss auch hier der Vielfalt adäquat Rechnung getragen werden; dies geschieht am ehesten mit dezentralen, selektiven Verträgen zwischen einzelnen Leistungserbringern sowie einzelnen Patienten und/oder einzelnen Versicherern. Das deutsche Gesundheitswesen sieht sich in den kommenden Jahren großen Herausforderungen gegenüber. Aufgrund des demografischen Wandels finden tief greifende Veränderungen der Versorgungsbedarfe statt. Die Zahl multimorbider, chronisch erkrankter und pflegebedürftiger Menschen wird wachsen. Dadurch kommt es zu einer quantitativen Ausweitung und zu qualitativen Veränderungen der Versorgungsbedarfe und somit auch der Nachfrage nach Gesundheitsleistungen. Durch den medizinischen Fortschritt nehmen die Möglichkeiten in der Diagnostik, Therapie, Prävention, Rehabilitation und Pflege zu. Daraus ergibt sich eine zunehmende Komplexität der Gesundheitsversorgung. Diese Entwicklungen haben nun nicht nur Konsequenzen für die zukünftigen Qualifizierungserfordernisse und Qualifizierungswege in den Berufen der Gesundheitsversorgung, sondern vor allem auch hinsichtlich der Finanzierung.
Aufgrund der demografischen Entwicklung nimmt die Zahl der Erwerbstätigen ab, was ceteris parbius wegen der lohnabhängigen Finanzierung der GKV (Umlageverfahren) zu sinkenden Einnahmen führt. Dadurch wird die Diskrepanz zwischen Ausgaben und Einnahmen in der GKV immer größer und damit der Kostendruck immer stärker.
Alle vorhandenen Reserven ausschöpfen
Zunächst kann dieser Druck durch Ausschöpfung der noch vorhandenen Rationalisierungsreserven gemildert werden; mittel- und langfristig ist eine Rationierung jedoch unvermeidbar. Angesichts der Zunahme der Ausgabe für lebensbedrohende Erkrankungen, lässt sich eine Rationierung in der Zahnmedizin rechtfertigen. Hierbei müssen allerdings Prävention und Prophylaxe weiterhin Leistungen der GKV bleiben. Aus Gründen der Gleichbehandlung, darf es hier zu keiner Diskriminierung alter Menschen kommen. Damit stellt die Rationierung zwar keine Frage des Alters dar, aber wegen des hohen Bedarfs an zahnmedizinischen Leistungen gerade im Alter sind ältere Menschen stärker finanziell belastet als jüngere. Als Beispiel kann hier die Situation beim Cervical Plaque dienen. Wie die Tabelle zeigt, nimmt der Schweregrad (CPI) hierbei mit dem Alter signifikant zu.
Eine Rationierung muss darüber hinaus für alle Bereiche des Gesundheitswesens diskutiert und gegebenenfalls umgesetzt werden.
Rationierung muss jedoch die Ultima Ratio sein, vorher müssen alle anderen Möglichkeiten zur Beseitigung von Struktur- und Anreizdefiziten ausgeschöpft sein.
Eine Rationierung in der Zahnmedizin mag für einige Zahnärzte nachteilig sein, aufs Ganze gesehen jedoch überwiegen die Vorteile, weil sich die Zahnmedizin aus dem Korsett der Kostendämpfungspolitik befreit und weil die Zahnärzte die Leistungserbringung sowie die Honorierung im Wettbewerb weitgehend frei gestalten können. Der Bedarf nach zahnmedizinischer Versorgung wird aufgrund der demografischen Entwicklung auch in Zukunft weiter steigen. Es kann davon ausgegangen werden, dass sowohl die Zahlungsfähigkeit als auch die Zahlungsbereitschaft der Menschen für zahnmedizinische Leistungen steigen werden. Alles in allem haben Zahnärzte, wenn sie die Freiräume richtig nutzen, eine sichere erfolgsversprechende Zukunft vor sich.
Univ.-Prof. Dr. Dr. h.c. Peter OberenderForschungsstelle für Sozialrecht und GesundheitsökonomieUniversität Bayreuth95440 Bayreuthpeter.oberender@uni-bayreuth.de