Medizin sticht Ökonomie
„Der Ruf nach Zuwendung und menschlicher Nähe wird lauter. Es geht auch um Fürsorge“, sagte Hans Peter Wollseifer, Vorstandsvorsitzender der IKK in seiner Eröffnungsrede. Der Mediziner sei gefordert, die richtige Balance zwischen den Interessen des Pa-tienten, denen des Arbeitgebers sowie den Vorgaben der Krankenkassen zu finden. Mehrere Experten der Gesundheitsbranche diskutierten am 16. Oktober in der Kalkscheune Berlin zum Thema „Die Würde des Patienten: unantastbar oder gefährdet?“.
„Medizinische Leistungen sind ein sensibles Gut.“
„In der Gesundheitspolitik können wir nicht mehr auf Märkte setzen“, sagte Cornelia Rundt, die niedersächsische Ministerin für Soziales, Frauen, Familie, Gesundheit und Integration. Die gelernte Betriebswirtin forderte dazu auf, bei Angeboten wie individuellen Gesundheitsleistungen (IGeL) kritisch hinzuschauen. Vor ihrer Ernennung als Ministerin war Rundt hauptamtlicher Vorstand des Paritätischen Wohlfahrtsverbands Niedersachsen und konnte sich einen guten Überblick über die medizinische Versorgung verschaffen. Dass Krankenkassen so viele Anträge auf Hilfsmittel ablehnen, verurteilte sie scharf. „Es kann nicht sein, dass Menschen um einen Rollstuhl oder eine Reha-Maßnahme betteln müssen.“
Problematisch an der Ökonomisierung des Gesundheitssystems ist ihrer Meinung nach, dass es sich bei medizinischen Leistungen um sensible und für jeden Patienten hoch erklärungsbedürftige Angebote handelt. „Für die Ärzte ist es Routine, aber der betroffene Patient erleidet ein Einzelschicksal.“ Gerade deshalb sei das Vertrauen zum Arzt wichtig. An erster Stelle stehe immer das Patientenwohl. Eine Ökonomisierung mit dem Rotstift, bei der es nur darum geht, was man kürzen kann, lehne sie ab. Vielmehr müsse das Angebot noch ausgebaut werden. Dazu gehörten auch eine wohnortnahe Versorgung sowie Tariflöhne für die Beschäftigten in der Pflege. Vor allem im Bereich der Pflege sieht Rundt Reform- bedarf. „Pflegeintervalle im Minutentakt können nicht das sein, was wir uns wünschen.“Um dies garantieren zu können, müsse mehr (Steuer-)Geld ins Gesundheitssystem fließen.
Heiner Raspe, Seniorprofessor für Bevölkerungsmedizin an der Universität Lübeck, stimmte der Vorrednerin inhaltlich zu. Grundsätzlich stehe auch er der Ökonomisierung im Gesundheitswesen kritisch gegenüber, allerdings sehe er die Würde der Patienten nicht ernsthaft in Gefahr.
Das aktuell größte Problem sieht Raspe in einer Über-, Unter- und Fehlversorgung. Für eine funktionierende Wirtschaftlichkeit in der Medizin müssten seiner Ansicht nach die wesentlichen Herausforderungen der medizinischen Versorgung qualitativ erforscht werden. Patienten- oder Selbstzahler-Angebote lehne er jedoch grundsätzlich ab. Als einen geeigneten Mechanismus zur Steuerung der Ökonomisierung des Gesundheitswesens nannte Raspe das Prinzip der Priorisierung bestimmter medizinischer Leistungen.
Die knappen Mittel bestmöglich verteilen
„Ich bin der böse Bube“, eröffnete Volker Ulrich vom Lehrstuhl für Volkswirtschaftslehre und Finanzwissenschaften an der Universität Bayreuth seine Rede mit einem Augenzwinkern. Er spielte damit auf seine positive Haltung gegenüber der Ökonomisierung im Gesundheitswesen an. „Es gibt keinen ökonomiefreien Bereich“, zitierte Ulrich den Krankenversicherungsexperten Franz Knieps. Ulrich stellte sich die Frage, wie man in einer Branche mit mehr als fünf Millionen Beschäftigten Versorgung und Kommerzialisierung „unter einen Hut“ bekommen könne. Geld kann seiner Meinung nach durchaus regulativ wirken. „Es hat den Vorteil, dass es anonym wirkt.“
Die Sicherung der Qualität von Anreizsystemen im Gesundheitswesen stehe an erster Stelle. Die Fallpauschalen bei der Vergütung von Frühchengeburten dienten als anschauliches Negativbeispiel. „Das DRG-System verursacht medizinisch nicht erklärbare Mengenausweitungen, vor allem bei den Fällen, die wirtschaftlich Gewinn versprechen“, so Ulrich. Die Vergütung in diesem Bereich hat laut Ulrich zu einer künstlichen Anhebung der Frühgeburtenrate geführt.
Hier müsse man ansetzen, denn Geld zu verschwenden sei auch unethisch. Als sinnvolle Maßnahmen nannte Ulrich einen Ausbau der Prävention und eine engere Verzahnung der Versorgung. Mehr Wirtschaftlichkeit im Gesundheitssystem ist laut Ulrich keine Gefahr für eine gute medizinische Versorgung. Sie könne vielmehr dazu beitragen, die knappen Mittel in die beste Verwendung fließen zu lassen. Die Ökonomie habe deshalb „in erster Linie eine beratende beziehungsweise unterstützende Funktion“.
Kritik an der Versorgung von Demenzkranken
Die Veranstaltung endete mit einer Podiumsdiskussion unter der Moderation von Dirk-Oliver Heckmann vom Deutschlandradio.
Nach Ansicht von Rainer Hess, ehemaliger G-BA-Vorsitzender, hat Deutschland ein Gesundheitssystem, dass die Menschenwürde wahrt. Der starke Druck, der auf den Ärzten lastet, gefährde die Versorgung jedoch.
Jürgen Gohde, Vorsitzender des Kuratoriums Deutsche Altershilfe, übte Kritik an der Versorgung von Demenzkranken. „Da haben wir erhebliche Probleme.“ Nach seiner Einschätzung ist die Rationierung rechtlich nicht möglich. Sicher war er sich, dass „der Expertenstandard in der Pflege nicht refinanzierbar ist“.
„Die Würde des Patienten ist unantastbar, aber auch gefährdet“, erklärte Hans-Jürgen Müller, Vorstandsvorsitzender der IKK.
Herausforderungen für die neue Bundesregierung
Jürgen Hohnl, Geschäftsführer der IKK, zog abschließend ein Fazit. Für ihn sei die Lebensqualität des Patienten das Entscheidende. „Wir müssen die Frage des medizinischen Bedarfs neu formulieren“, sagte Hohnl. Die Nutzenbewertung sei hierfür ein wichtiger Ansatz. Die kommende Regierung forderte er auf, ein Präventionsgesetz auf den Weg zu bringen: „Das wäre der Lackmustest.“