Die Zukunft ist alt
„Kein Land Europas hat eine so ungünstige Altersstruktur seiner Bevölkerung wie Deutschland“, erklärt Prof. Fritz Beske, Leiter des nach ihm benannten „Instituts für Gesundheits-System-Forschung“ (IGSF) in Kiel. „Die Auswirkungen zweier Weltkriege, die Baby-Boomer-Jahrgänge von 1955 bis 1967, der nachfolgende Pillenknick und eine der seit dieser Zeit niedrigsten Geburtenziffern in Europa sind hierfür verantwortlich.“ Vor diesem Hintergrund versuchte sich das IGSF an einer Versorgungsprognose für 2060.
Dafür wurden detailliert medizinische Datenanalysiert und zukünftige Entwicklungen berechnet. Die Studienautoren unter Leitung von Beske untersuchte in der Krankenhausversorgung die 100 häufigsten Leistungen, in der ambulanten vertragsärztlichen Versorgung 53 Leistungen (inklusive der 20 ausgabenstärksten) und in der Arzneimittelversorgung die zehn ausgaben- beziehungsweise zehn verordnungsstärksten Medikamentengruppen sowie die Versorgung Pflegebedürftiger.
Bedarf und Kosten steigen
Aus ihren Analysen schließen die Forscher, dass Bedarfe und Kosten immer mehr zunehmen werden. „Die Anforderungen an die Gesundheitsversorgung werden bereits ab 2020 schnell steigen und 2040 den Höhepunkt erreichen“, sagt Beske. Trotz der bis 2060 um 17 Prozent auf 65 Millionen abnehmenden Bevölkerungszahl nähmen die Leistungsanforderungen in allen drei untersuchten Bereichen der Gesundheitsversorgung – Krankenhausversorgung, ambulante vertragsärztliche Versorgung und Arzneimittelversorgung – zu. Vor allem in der Altersmedizin steige der Bedarf. „Es werden immer mehr komplexe, anspruchsvolle, personalintensive und daher teure Leistungen erforderlich, zum Beispiel intensivmedizinische, schlaganfallbedingte oder geriatrische Komplexbehandlungen“, ist sich Beske sicher.
Der größte Handlungsbedarf wird in der Versorgung Pflegebedürftiger bestehen. 2050 rechnet er mit fast 4,6 Millionen Pflege- bedürftigen, eine Steigerung von über 90 Prozent im Vergleich zu heute. Der Mangel an qualifizierten Pflegekräften sei heute schon spürbar, werde aber bis 2060 dramatisch. Dann werden laut IGSF knapp 800 000 zusätzliche Kräfte benötigt. Der Bedarf an Pflegeheimplätzen wird von heute rund 850 000 auf fast zwei Millionen steigen. Beske erwartet, dass vor allem die schwere Pflegebedürftigkeit zunimmt, weshalb in Zukunft vor allem höher quali- fiziertes Pflegepersonal gefragt sein wird. Ein steigender Bedarf verursacht auch steigende Kosten – die Ausgaben der Pflegeversicherung werden sich bis 2060 auf fast 42 Milliarden Euro mehr als verdoppeln.
Schlaganfälle nehmen zu
In der Studie werden für verschiedene Leistungen drei kommende Entwicklungs- linien unterschieden. Der Bedarf für altenspezifische Behandlungen wird zunehmen, Leistungen für junge Menschen werden abnehmen, altersunabhängige Behandlungen gleich bleiben. Die Forscher rechnen beispielsweise mit einer Zunahme von Schlaganfallbehandlungen, in diesem Bereich allein bis 2040 um mehr als 90 Prozent.
Für Leistungen, die zu 80 Prozent bei unter 60-Jährigen erbracht werden, erwartet das IGSF eine sinkende Tendenz – zum Beispiel bei Entbindungen. Hier nehmen sowohl die Ausgaben als auch die Zahl der erbrachten Leistungen ab 2020 um bis zu 37 Prozent ab. Die Bevölkerungsabnahme und die Zunahme älterer Menschen sind der Grund für diese Entwicklungslinie. Der Bedarf an Leistungen wie Computertomografien, die altersunabhängig nachgefragt werden, bleibt konstant.
Der erwartete (Ausgaben-)Anstieg in manchen Leistungsbereichen wird durch die Abnahme in anderen nicht aufgefangen – im Gegenteil: In der Krankenhausversorgung wird 2040 mit einer Steigerung der Aus- gaben der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) auf bis zu 66 Milliarden Euro gerechnet. Das ist eine Zunahme von acht Milliarden gegenüber 2010. Besonders ins Gewicht fallen hier die geriatrischen Komplexbehandlungen, die sich bis 2050 fast verdoppeln werden.
In der ambulanten stationären Versorgung, wo vor allem leichte, wenig kostenintensive Fälle behandelt werden, nehmen die Leistungszahlen hingegen ab. Bis 2060 rechnet das IGSF mit einem Rückgang von 13 Prozent gegenüber 2010. Die Kosten hingegen werden steigen, allerdings nur um geringe zwei bis drei Prozent.
Bei den Arzneimittelausgaben der GKV erwarten die Forscher einen Anstieg von knapp 30 Milliarden (2010) auf fast 35 Milliarden Euro (2060).
Politik muss reagieren
Sowohl der Leistungsbedarf als auch die Kosten werden laut Versorgungsprognose bis 2060 erheblich steigen. Insbesondere in der Krankenhaus- und Pflegeheimversorgung nimmt die Zahl der Patienten zu, die eine hochspezialisierte und damit teure Behandlung und Betreuung brauchen.
Die Autoren bemängeln, dass eine intensive Zukunftsdiskussion in der Gesundheits- versorgung – anders als bei der Renten- versicherung – in der Politik nicht stattfindet. Sie sagen voraus, dass der Zeitpunkt kommen wird, zu dem es nicht mehr möglich ist, die bisherigen Leistungsstandards aufrechtzuerhalten. Trotzdem müsse laut Beske das Ziel sein, dass niemand von der medizinischen Versorgung ausgeschlossen wird, so dass jeder bekommt, was er braucht – auch bei geringer werdenden Ressourcen.
„Unser Gesundheits- und Sozialwesen ist auf den Sturm des demografischen Wandels noch nicht vorbereitet, und die Zeit drängt“, warnt der Gesundheitsforscher. „Die Politik ist gefordert, der Bevölkerung die Wahrheit zu sagen, damit auch jeder Einzelne sich vorbereiten kann.“eb
Info
Fritz Beske Institut
Prof. Fritz Beske gründete 1975 das „Institut für Gesundheits-System-Forschung Kiel“ (IGSF) als gemeinnützige Stiftung. Zwölf Jahre später wurde die IGSF Institut für Gesundheits-System-Forschung Kiel GmbH für Auftrags- forschung gegründet. Seit 2001 sind Stiftung und Institut getrennt. Die Stiftung IGSF wurde 2002 in „Fritz Beske Institut für Gesundheits-System-Forschung Kiel“ umbenannt. Der Schwerpunkt der Arbeit liegt auf der Politikberatung. Die Versorgungsprognose war Beskes letzter Beitrag vor dem Rückzug aus der aktiven Arbeit.