Wie wir einmal leben könnten
90 Prozent der stationär betreuten Pflegebedürftigen in Deutschland leben im Heim. „Ist das nötig?“, fragt Mediziner Prof. Klaus Dörner. Er sucht nach alternativen Wohnformen für Betagte und Kranke. Ihm geht es um die freie Wahl des eigenen Wohn- und Sterbeortes.
Dörner wird am 22. November 80 Jahre alt. Ein stolzes Alter. Im Zuge von Wohlstand und medizinischem Fortschritt bleiben die Menschen heute immer länger rüstig. Die 80er sind die neuen 70er, heißt es. Dennoch staunt man, wenn Dörner im Rahmen seines Vortrags in der Berliner Konrad-Adenauer-Stiftung am Rednerpult steht und berichtet, dass er jeden zweiten Tag zu einer Reise aufbricht. Was für eine Kondition. Jährlich bringt es der pensionierte Arzt auf 100 bis 150 „Vortrags- und Beratungsreisen“, wie er sie selbst bezeichnet.
Meist verschlägt es ihn dabei an die bürgerschaftliche Basis. Besonders spannend sei die Situation in den dörflichen Gemeinschaften der neuen Bundesländer, erzählt er. Der Handlungsdruck durch fehlende nachfolgende Generationen sei dort besonders groß.
Seine Erfahrungen schildert Dörner in dem Buch „Leben und sterben, wo ich hingehöre - Dritter Sozialraum und neues Hilfesystem“.
Dörner propagiert die ausschließliche ambulante Altenpflege und orientiert sich am skandinavischen Behinderten-Normalisierungsprinzip. Der große Bedarf der alternden Gesellschaft mache es erforderlich, über das Profi-Hilfesystem hinaus auch wieder auf ein Bürger-Hilfesystem zurückzugreifen.
Mit sinkender Mobilität gewinne der Nahbereich des eigenen Sozialraums und der Nachbarschaft zunehmend an Bedeutung.
Seit etwa 1980 nehme die Bereitschaft der Bürger stetig ab, sich bei Pflegebedarf Institutionen anzuvertrauen. Stattdessen wollen sie zunehmend in ihrer eigenen Wohnung oder zumindest in der Vertrautheit ihres Stadtviertels leben und sterben, so Dörner.
Die erforderliche Begleitung in den eigenen vier Wänden könne aber auf Dauer im Alltag nicht von professionellen Helfern wahrgenommen werden: Deshalb gelte der Lehrsatz „Nur Bürger können andere Bürger integrieren“.
Dörner spricht von einem Epochenumbruch: Während in der Industriegesellschaft (bis 1980) die Menschen typischerweise zu der für sie nötigen Hilfe gebracht wurden, werde in der heutigen Dienstleistungsgesellschaft (ab 1980) die erforderliche Hilfe eher zu den Menschen gebracht. Dies schon allein, weil es heute technisch leichter möglich sei. Dem Angebot sei dann der Wille der Bürger gefolgt.
Das Ende des Egotrips
In der Breite hätten diese damit angefangen, sich erstmalig seit Beginn der Industriegesellschaft nicht mehr nur um ihre egoistischen Eigeninteressen zu kümmern, sondern sich wieder vermehrt für die Nöte Anderer zu engagieren.
Konkret diagnostiziert Dörner in der modernen Gesellschaft eine „Helfensbedürftigkeit“, die auch für die eigene (psychosoziale) Gesundheit gebraucht werde. Seither könne man von einer neuen Nachbarschaftsbewegung sprechen. Nachzuweisen sei diese an der wachsenden Zahl von Nachbarschaftsvereinen, an der Hospizbewegung und den Bürgerstiftungen, an der Bewegung des generationsübergreifenden Siedelns sowie an den neuen Hilfeformen der sozialraum-orientierten ambulanten Wohnpflegegruppen.
Dazu komme die Wiederbelebung der Pflege- oder Gastfamilien, jetzt auch für Alterspflegebedürftige und Demente, und an der sozialhilfefähigen Organisation einer auch 24-stündigen Hilfe in der eigenen Wohnung.
Ein Bürger-Profi-Mix
Aus dieser Entwicklung heraus zeichne sich ein neuartiges, zukunftsfähiges Hilfesystem als Bürger-Profi-Mix ab. Dabei steuerten die professionellen Helfer Wissen und Technik bei, während sich die Bürger mit dem Faktor Zeit einbrächten.
Im Erleben und zunehmend auch im Verhalten schiebe sich zwischen dem Sozialraum des Privaten und dem Sozialraum des Öffentlichen laut Dörner ein dritter Sozialraum: der Wir-Raum, oder der Raum des Gemeinwohls. Die Größenordnung in der Stadt liegt bei 10 000 bis 30 000 Einwohnern. Auf dem Land dagegen bei 1 000 bis 5 000 Einwohnern. Für den funktionierenden Sozialstaat und noch mehr für die kommunale Organisationsverantwortung sei zukunftsfähige Hilfe nur noch in den Grenzen der dritten Sozialräume zu organisieren. Auch wenn die Grenzen (noch) fremd und eng erscheinen würden. Mittelfristig sei der Bürger-Profi-Mix maßgeblich, um die Versorgung von Pflegebedürftigen flächendeckend zu gewährleisten. Die Formel dabei lautet nach Dörner: So viele Bürger wie möglich und so viel Profis wie nötig. In seiner Argumentation zieht Dörner auch die UN-Behindertenrechtskonvention zu Rate. Denn sie folge mit ihrem Konzept der Inklusions- und Vielfalts-Gemeinde dem Sozialraumkonzept.
Info
Beispiele für alternative Wohnformen im Alter
• Der Verein Arkade eV. sitzt in Ravensburg und vermittelt seit 2001 gerontopsychiatrisch erkrankte Menschen ab 65 Jahren in Gastfamilien. Der Aufenthalt kann kurz- oder langfristig angelegt sein. Die Gastfamilien erhalten für die geleistete Betreuung ein monatliches Entgelt und werden durch das Team der psychiatrischen Familienpflege fachlich unterstützt und begleitet. Vermittelt werden Menschen ab dem 65. Lebensjahr, bei denen eine psychische Erkrankung mit einer erheblichen Pflegebedürftigkeit oder eine Demenz vorliegt.
• Die Mitglieder des Vereins Alt und Jung e.V. in Bielefeld sind seit 1978 im Bereich Ambulante Hilfen und in der Gemeinwesenarbeit in Wohnquartieren tätig. Die hauptberuflichen und ehrenamtlichen Mitglieder des Vereins bieten Hilfe für Menschen, die in ihrem angestammten Lebensumfeld Unterstützungsbedarf haben. Basis der Arbeit ist die Selbstbestimmung – der Erhalt der Selbstständigkeit das Ziel.
• Der Verein Freunde alter Menschen e.V. sitzt in Berlin und berät Angehörige von demenziell erkrankten Menschen, gesetzliche Betreuer und interessierte Pflegedienste, die an der Initiierung einer Demenz-Wohngemeinschaft interessiert sind. Ziel ist, die Angehörigen zu entlasten und präventiv auf die demenziell Erkrankten einzuwirken. Dies geschieht durch den Erhalt alltagsweltlicher Kompetenzen.