Fortbildungsteil 2/2013

Die Schienentherapie

Wenn ein Bein etwas länger ist als das andere, dann hat das Auswirkungen auf das gesamte Stützgerüst des Organismus. Analog können auch Störungen des Kiefergelenks erklärt werden. Der Beitrag geht eingangs auf die Grundlagen der Kaufunktion ein und erklärt dann das Prinzip der Schienentherapie, die ebenso kompliziert ist wie die Herstellung von einem passenden orthopädischen Schuh.

Georg Meyer, Theresia Asselmeyer, Olaf Bernhardt

Grundsatz: Das Spektrum der modernen zahnmedizinischen Funktionslehre reicht von geometrischen Gesetzmäßigkeiten der Kauflächen- und Kiefergelenksfunktionen bis hin zu komplexen neuromuskulären Funktionsabläufen, die ganz erstaunliche Wechselwirkungen mit anderen Körperfunktionen haben können [Ash, 2006; Göbel, 2002; Kobayashi et al., 1988; Kordaß et al., 2007; Lotzmann et al., 1994; Meyer et al., 2007; Ridder, 2011; Slavicek, 2000].

Biomechanik: Im ungestörten Kausystem greifen Zähne im Schlussbiss zahnradartig ineinander. Hiervon ausgehend ist das Zusammenspiel von Höckern und Fissuren antagonistischer Zähne natürlicherweise dadurch gekennzeichnet, dass alle exzentrischen Bewegungen störungsfrei verlaufen. Die Strukturen der Kiefergelenke und deren Bewegungsabläufe harmonieren wachstumsbedingt mit den geometrischen Vorgaben der Kauflächenfunktionen, so dass man die Kiefergelenke biomechanisch als das „distalste Okklusionspaar“ verstehen kann [Meyer, 2009].

Neuromuskuläre Funktion: Beim Kauen werden alle beteiligten Zähne entsprechend der Konsistenz und der Position des zu zerkleinernden Speisebolus innerhalb ihrer physiologischen Beweglichkeiten räumlich ausgelenkt. Rezeptoren im Zahnhalteapparat erfassen diese Lageänderungen mit einer Genauigkeit von 10 bis 20 Mikrometern, was etwa der Stärke eines menschlichen Haares entspricht [Utz, 1986]. Diese Informationen werden über afferente Nervenbahnen (Sensorik) an das zentrale Nervensystem geleitet. Nach entsprechender Koordination werden von dort über efferente Nervenbahnen die Muskeln angesteuert (Motorik), so dass letztendlich am richtigen Ort (Lokalisation des Speisebolus) mit adäquatem Krafteinsatz (Konsistenz des Speisebolus) das Kauen erfolgen kann (Abbildung 1) [Meyer et al., 2012].

Funktionsstörungen:

Im Zentrum des funktionsgestörten Kauorgans stehen die hyperaktive Muskulatur und ihre pathologische Einwirkung auf Körpergewebe wie Kiefer-gelenke, Zahnhartsubstanz, Parodontien und andere [Graber, 1995]. Die zugrunde liegende neuromuskuläre Inkoordination kann auch ein Risikofaktor sein für Kopf- und Gesichtsschmerzen, Migräne, Tinnitus und Halswirbelsäulenprobleme [Bernhardt et al., 2004; Bernhardt et al., 2005; Franco et al., 2010; Lotzmann, 1991; Wright, 2007].

Die Auslöser von craniomandibulären Dysfunktionen (CMD) sind vielfältig und können unterschiedliche medizinische Fachdisziplinen betreffen. Aus Sicht der Zahnmedizin ist bei CMD in erster Linie an okklusale Interferenzen zu denken, da diese zu afferenten Signalen führen, die vom zentralen Nervensystem nicht mehr koordinierbar sind. Die Rolle okklusaler Einflüsse als ätiopathogenetischer Faktor wird von primär ursächlich über kofaktoriell bedeutsam bis hin zu für die Entstehung von Funktionsstörungen unerheblich diskutiert. Die Dysfunktion unterhaltende Faktoren – wie etwa Parafunktionen, hormonelle Einflüsse, oder psychosoziale Komponenten – können mit anderen krankheitsauslösenden

Faktoren vergesellschaftet sein und so die Behandlung von CMD erschweren [Okeson, 1996]. Typische Folge ist eine hyperaktive Kau- und Gesichtsmuskulatur, die aber auch andere Ursachen haben kann, beispielsweise psycho-emotionalen Stress (Abbildung 2) [Graber, 1995; Kreyer, 2005; Marxkors et al., 1999; Maug et al., 2007].

Therapie: Jeder therapeutische Ansatz, der zu einer muskulären Entspannung sowie zu einer neuralen und muskulären Rekoordination von Funktionsabläufen führt, ist hilfreich. Das Spektrum reicht von medikamentöser Therapie über Physiotherapie, okklusale Therapie bis hin zur Psychotherapie [Freesmeyer, 1993]. In der Zahnmedizin hat es sich bewährt, ergänzend zu einer okklusalen Schienentherapie auch Anleitungen zur Selbstbeobachtung, Entspannung und Selbstmassage zu vermitteln, was den Erfolg der okklusalen Therapie verstärken kann [Graber, 1992; Schulte, 1983].

Prinzipien der Therapie mit Schienen

Ziel einer primär biomechanischen zahnärztlichen Schienentherapie ist es, okklusale Störungen zu beseitigen und eine gleich-mäßige Abstützung in allen Quadranten zu erreichen, um wieder ungestörte neuromuskuläre Funktionsabläufe zu ermöglichen [Asselmeyer, 2000; Hupfauf et al., 1969; Lotzmann, 1992; Meyer et al., 2007]. Das beinhaltet auch die Wiederherstellung einer physiologischen Lagerelation von Ober- und Unterkiefer (Zentrik), deren Definition in der Vergangenheit kontrovers war, weil man häufig von einer sehr mechanistischen retralen Kondylenposition (RKP) ausging. Wichtigste Voraussetzung für eine physiologische Zentrik ist eine maximal entspannte, koordinierte Muskulatur, die häufig erst nach entsprechender Vorbehandlung – zum Beispiel durch Schienentherapie – erreichbar ist [Meyer, 1993]. Somit kann es durchaus möglich sein, auf der Basis eines initialen Registrats in pathologischer – weil muskelverspannter – Position mit der Schienentherapie beginnen zu müssen, um später, nach wiederholten Kontrollen und Korrekturen der Schiene, physiologische Bedingungen zu erreichen.

Erst danach können weitere Planungen, zum Beispiel für ausgleichende Restaurationen, Einschleifen, Kieferorthopädie und andere, erfolgen. Gelingt es nicht, mithilfe der Schienentherapie das gesteckte Ziel zu erreichen, könnte die eigentliche Ursache für CMD und den daraus folgenden Krankheitsbildern in einem anderen medizinischen Bereich zu suchen sein. Somit hat die Schienentherapie auch eine wichtige differenzialdiagnostische Bedeutung [Meyer et al., 2007].

Von der Diagnostik zur Therapie

Ein entscheidendes Grundprinzip der Schienentherapie besteht darin, Diskrepanzen zwischen physiologischer Zentrik – also der Lagerelation von Ober- und Unterkiefer bei entspannter Muskulatur – und maximaler Interkuspidation (IKP) zu erkennen und durch einen individuellen Aufbissbehelf auszugleichen. Im Rahmen der umfangreichen, aber hier nicht näher zu erörternden Funktionsdiagnostik [Ahlers et al., 2007] hat der sogenannte „Watterollentest“ eine besondere Bedeutung. Dazu werden dem sitzenden Patienten bei normaler Kopfhaltung zwei leicht angefeuchtete Watterrollen im Bereich der ersten Prämolaren eingelegt und der Patient wird aufgefordert, sich hierbei zu entspannen. Das Grundprinzip dieses Testes besteht darin, dass allein eine Entkopplung der Okklusion durch anteriore Vorkontakte reflektorisch zu einer Entspannung der Muskulatur führen kann [Ritter, 1884; Schulte, 1983] (Abbildung 3). Nach circa zwei Minuten Entspannung werden die Watterollen entfernt. Bei leichter aber druckfreier Berührung der Kinnspitze durch den Behandler wird der Patient aufgefordert, den Unterkiefer behutsam rotierend zu schließen bis zum ersten Zahnkontakt. Gibt der Patient gleichmäßigen Kontakt auf beiden Seiten an und ist ab hier bei kräftigem Zusammenbeißen auch mit Lupenbrillen-Kontrolle kein Abgleiten feststellbar, so ist das ein verhältnismäßig sicherer Hinweis darauf, dass keine Okklusionsstörungen vorliegen und somit grundsätzlich auch keine Indikation für eine Schienentherapie besteht. Wenn dagegen der entspannte Patient bei diesem Test nur auf einzelne Zähne oder auf einer Seite aufkommt und beim festen Zubeißen in eine Interkuspidation gleiten oder kippen muss, so deutet das auf okklusale Risikofaktoren hin, die durch einen Aufbissbehelf ausgeglichen werden sollten (Abbildungen 4, 9).

Weitere klinische Indikatoren bei einem bestehenden Missverhältnis von physiologischer Zentrik und maximaler Interkuspidation können Schmelzsprünge, Schlifffacetten, keilförmige Defekte, gelockerte oder abgewanderte Zähne, Zungenimpressionen, aber auch Kiefergelenksprobleme, Kopfschmerzen und andere sein. Troeltzsch et al. [2011] konnten in einer klinischen Studie an über 1 000 Patienten zeigen, dass mit zunehmendem Gleitweg zwischen physiologischer Zentrik und maximaler Interkuspidation eine hierdurch ausgelöste Kopfschmerzwahrscheinlichkeit zunimmt.

Franco et al. [2010] kommen zu dem Ergebnis, dass Migräne der Haupttyp von Kopfschmerzen ist, wenn CMD als ent-scheidender Risikofaktor gilt.

Aufbissbehelfe zur muskulären Entspannung

Eines der wesentlichen Ziele der Schienentherapie ist die Entspannung der Muskulatur und die Rekoordination der Bewegungsabläufe des Unterkiefers. In der initialen Therapie, zum Beispiel vor Erstellung eines Zentrikregistrats, kann man diesem Ziel mit sehr einfachen „Reflexschienen“ näherkommen. Diese Schienen haben nur einen anterioren Aufbiss beziehungsweise einen beidseitigen Aufbiss im Bereich der ersten Prämolaren, wodurch die Kontakte aller übrigen Zähne ausgeschaltet werden [Ritter, 1884; Schulte, 1983]. Diese Aufbissbehelfe sollten aber nur stundenweise getragen werden, da es zu Wanderungen beziehungsweise Elongationen von Zähnen kommen könnte (Tabelle 1, Abbildung 5).

Ein interessanter Aufbissbehelf mit beid- seitigem Aufbiss im Seitenzahnbereich ist der Aqualizer, bei dem miteinander ver-bundene Wasserpolster für einen hydrodynamischen Seitenausgleich, beispielsweise in Stresssituationen, sorgen [Lerman, 2011]. Insbesondere während einer kieferorthopädischen Behandlung, in der herkömmliche Schienen wegen permanenter Änderung der okklusalen Situation nicht geeignet sind, könnte sich dieser Aufbissbehelf besonders bewähren (Abbildung 6).

Der zielführende Standardschienentyp für eine nachhaltige, individuelle und gegebenenfalls auch dauerhafte Behandlung ist ein Aufbissbehelf in physiologischer Zentrik mit gleichmäßiger Abstützung der tragenden antagonistischen Höckerspitzen in allen Stützzonen (Abbildungen 7, 9).

In der initialen Behandlungsphase bei noch unsicherer Zentrik übernehmen die Eckzähne aus einer Spielpassung („freedom in centric“) heraus die Führung bei der Laterotrusion und auch bei der Protrusion (Abbildung 8). Dieses Okklusionskonzept entspricht der Michigan-Schiene [Ash, 2006]. Bei stabiler Zentrik empfiehlt sich der Aufbau einer kombinierten Front-/Eckzahnführung, weil durch diese zusätzlichen Afferenzen eine bessere neuromuskuläre Entspannung erreicht werden kann [Gaa et al., 1990] (Abbildung 9).

Deshalb sind langfristig Schienen ohne Einbeziehung der Frontzähne nicht optimal, zumal es darüber hinaus auch noch zur Wanderung oder Elongation dieser Zähne kommen könnte.

Kontrolluntersuchungen

Die erste Kontrolle erfolgt nach dem Einsetzen der Schiene auf Basis des „Watterollen-Tests“. Nach Entfernen der Rollen wird die Schienenokklusion so lange korrigiert, bis ein gleichmäßiger Aufbiss auf beiden Seiten besteht. Die nächste Kontrolle sollte auf gleiche Weise schon wenige Tage nach Einsetzen der Schiene durchgeführt werden. Sofern dann noch Korrekturen nötig sind, sollte die nächste Kontrolle circa eine Woche später erfolgen. Sobald keine Korrekturen mehr nötig sind, was für eine stabile Zentrik spricht, können die Kontrollintervalle auf vier bis sechs Wochen oder länger ausgedehnt werden. Grundsätzlich sind Ober- und Unterkieferschienen möglich. In erster Linie sollte die Schiene in dem Kiefer angefertigt werden, in dem die meisten Zähne fehlen, denn das wichtigste Ziel ist eine gleichmäßige Abstützung in allen Qua-dranten. Somit kann die „Schiene“ auch ein herausnehmbarer Zahnersatz sein, mit dem dieses Ziel erreicht wird.

Positionsschienen

Diese Gruppe von Aufbissbehelfen dient dazu, gezielt in die Relation von Ober- und Unterkiefer einzugreifen (Tabelle 2) [Lotzmann, 1992; Ottl, 1997]. Besondere Bedeutung hat hier die Dekompressionsschiene (früher: Distraktionsschiene), die das Ziel hat, komprimierte, schmerzhafte Kiefergelenkstrukturen zu entlasten. Dazu werden am Artikulator die Boxen der zu entlastenden Gelenke durch einen Platzhalter von circa 0,8 Millimetern Stärke so manipuliert, dass die jeweiligen Kondylen nach vorne unten verlagert werden (Abbildung 10). Die Schiene wird nun entsprechend der beschriebenen Michigan-Okklusion aufgebaut. Nach Einsetzen der Schiene am Patienten werden zunächst Vorkontakte im posterioren Bereich auftreten, die aber nicht eingeschliffen werden dürfen. Vielmehr sollen sich die Kiefer der Schienenrelation anpassen, weil erst damit eine Entlastung der Kondylen einhergehen würde. Flankierend sollten zu dieser Schiene Muskelmassagen und Entspannungs-übungen empfohlen werden und gegebenenfalls auch eine professionelle Physiotherapie [Graber, 1992; Schulte, 1983]. Eine erste Kontrolle der Schiene erfolgt erst nach circa zwei Wochen. Die Protrusionsschiene gehört ebenfalls zur Gruppe der Positionsschienen (Tabelle 2). Sie hat eine stark zunehmende Bedeutung bei der zahnärztlichen Therapie von Schnarchen und obstruktiver Schlafapnoe [Ash, 2006]. Die Vertikalisationsschiene empfiehlt sich zum Testen einer Bisshebung vor definitiver prothetischer Versorgung (Tabelle 2).

Fazit

Die zahnärztliche Schienentherapie ist eine von vielen sich ergänzenden oder auch allein wirksamen Möglichkeiten, bei der Behandlung von craniomandibulären Dysfunktionen und deren Folgeerkrankungen. Obwohl es sich um einen verhältnismäßig einfachen biomechanischen Eingriff in die Zuordnung von Ober- und Unterkiefer handelt, können die Folgen für die neuromuskulären Funktionsabläufe und Belastungsänderungen von Gelenken sehr erheblich sein und weit über das primär zahnmedizinische Arbeitsgebiet hinausgehen [Kobayashi et al., 1988; Kordaß et al., 2007]. Vergleichbar wäre das mit einem einfachen Beinlängenausgleich im Bereich der Orthopädie, der ebenfalls sehr erhebliche Konsequenzen für die Physiologie des Gesamtsystems einschließlich einer veränderten Kieferrelation haben kann [Lotzmann et al., 1993]. Es ist sehr wichtig, die zahnärztliche Schiene nach entsprechendem Registrat – sei es nun im Artikulator oder mit CAD/CAM-Verfahren – individuell herzustellen, da die therapeutische Wirksamkeit dann signifikant besser ist als bei allein tiefgezogenen Schienen [Eckberg et al., 2003; Fu et al., 2003]. Aus Sicht der Zahn-Mund-Kieferheilkunde ist die okklu-sale Schienentherapie eine sehr effektive Möglichkeit bei der Behandlung von craniomandibulären Dysfunktionen und deren Folgeerkrankungen.

Prof. Dr. Dr. h.c. Georg MeyerZentrum für Zahn-, Mund- u. KieferheilkundeErnst-Moritz-Arndt-UniversitätRotgerberstr. 8, 17489 Greifswaldgemeyer@uni-greifswald.de

Dr. Theresia Asselmeyer, M.A.Klinik für KieferorthopädieMedizinische Hochschule HannoverCarl-Neuberg-Str. 1, 30625 Hannoverasselmeyer.theresia@mh-hannover.de

Prof. Dr. Olaf BernhardtZentrum für Zahn-, Mund- u. KieferheilkundeErnst-Moritz-Arndt-UniversitätRotgerberstr. 8, 17489 Greifswaldobernhar@uni-greifswald.de

ZTM Walter MöllenkampAm Euzenberg 337115 Duderstadt

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