Regeln für Medizinprodukte aktualisiert
Ob Pflaster, Spritzen oder Herzschrittmacher. Im Gegensatz zu Arzneimittel entfallen für Medizinprodukte staatliche Zulassungsverfahren. Einige Verbraucherschützer und Medien sehen dies kritisch. Sie monieren vor allem die Vereinheitlichung verschiedener Produkte bei der Überprüfung. Dies würde zu einer unzureichenden Kontrolle von Produkten mit Hochrisikostatus führen. Diese, so fasst etwa die Berliner Zeitung die Kritik zusammen, würden letztlich nur daraufhin überprüft, ob technische Normen eingehalten werden.
Zwar seien unter bestimmten Bedingungen klinische Studien vorgeschrieben. Dabei müsse der Hersteller aber nur dokumentieren, dass sein Produkt den angegebenen Zweck erfülle, so das Blatt. Die Frage, ob ein Patient mit einem Implantat besser und schmerzfrei gehen kann, also eine Bewertung des Nutzens, spiele dagegen überhaupt keine Rolle.
Zuständig für die Genehmigung von derlei Produkten im Medizinbetrieb sind sogenannte „Benannte Stellen“. Das sind Institute, wie etwa hierzulande TÜV oder DEKRA, die für Auftraggeber aus der Medizintechnik die Zulassungsprüfung durchführen. Medizinprodukte-Hersteller können sich europaweit aus achtzig dieser Stellen eine aus- suchen, bei der sie ihre Produkte prüfen lassen wollen.
Kritiker dieses dezentralen Verfahrens monieren, dass Institute, die besonders streng prüfen, damit klar kommen müssten, ihre Kunden zu verprellen. Die aus Gründen der wirtschaftlichen Abhängigkeit naheliegende Mutmaßung, dass die Qualität der Prüfungen entsprechend lax sein könnte, wird dabei gern mit dem Fall des französischen Brustimplantate-Herstellers PIP untermauert: Im vergangenen Jahr kam die Firma in die Schlagzeilen, weil sie für ihre Implantate minderwertiges Silikon verwendet hatte. Daraufhin mussten sich Tausende Frauen einer weiteren Operation unterziehen, um die Implantate herausholen zu lassen. Gerade die möglichen wirtschaftlichen Erwägungen der untersuchenden Institute und die privatwirtschaftliche Organisation der Überprüfungen sind vielen ein Dorn im Auge.
Patientensicherheit als Maxime
Für die Medizinprodukte-Hersteller stellt sich die Situation anders dar. Erst Anfang November unterrichtete der Bundesverband Medizintechnologie e.V. (BVMed) bei einer Veranstaltung in Berlin Öffentlichkeit und Medien über den langen Weg eines Medizinprodukts von der Idee zum Patienten. Nur wenige wüssten, dass Medizinprodukte umfangreiche technische Tests durchlaufen, bevor sie in klinischen Studien erprobt und beim Patienten angewendet werden, heißt es vom BVmed. Geschäftsführer und Vorstandsmitglied Joachim M. Schmitt: „Neue Herzschrittmacher-Modelle werden fast 40 000 Stunden geprüft, bis alle erforder- lichen Tests durchgeführt sind. Diese Testdokumentation steht dann den Zulassungsstellen zur Verfügung.“
Zu den Anforderungen an die Marktzulassung von Medizinprodukten gehörten eine Risikoanalyse und -bewertung zum Nachweis der Sicherheit, die Durchführung einer klinischen Bewertung zum Nachweis der Leistungsfähigkeit und Wirksamkeit sowie ein umfassendes Qualitätsmanagementsystem. Für Medizinprodukte würden je nach Gefährdungspotenzial, Anwendungsart und Anwendungsdauer unterschiedliche Risikoklassen mit differenzierten Prüfungen und Kontrollen gelten.
Vor der Abstimmung im EU-Parlament hatte die Branche bereits Alarm geschlagen. Viele Parlamentarier seien sich der Auswirkung auf die mittelständischen Unternehmen der Medizintechnik nicht bewusst, zitiert das Handelsblatt den Branchenverband Spectaris. „Hier wird ein neuer Zulassungsapparat geschaffen, der in sich keine Logik aufweist, keine zusätzliche Sicherheit bietet und die Wettbewerbsfähigkeit der mittelständisch geprägten europäischen Medizintechnikindustrie leichtfertig aufs Spiel setzt“, so Spectaris-Geschäftsführer Tobias Weiler. Die Industrie fürchte Verzögerungen medizintechnischer Innovationen um drei bis fünf Jahre, warnte der Bundesverband der deutschen Industrie (BDI). Damit gerate die europäische Industrie im internationalen Wettbewerb erheblich ins Hintertreffen.
Bekannte Fehler im System
Gleichwohl unterstützte auch der BVmed das Ansinnen der EU, die Kontrollen über die Zulassungsvoraussetzungen zu aktualisieren. Die Schwachstellen im Medizinprodukte- Zulassungssystem seien seit Langem bekannt, so der BVmed. Deshalb hat das EU-Parlament schärfere Kontrollen beschlossen (siehe Kasten).
Indes: Bewertet werden die Änderungen unterschiedlich. Der BVmed sieht den Beschluss als „Zwischenschritt zu einer neuen Medizinprodukte-Verordnung“, warnt aber vor „überzogenen bürokratischen Prozessen“, die „negative Auswirkungen für die mittel- ständische Branche darstellen“. Nach einer aktuellen Umfrage unter hiesigen Medizintechnikunternehmen stellen diese dem Standort Deutschland ein zunehmend schlechtes Zeugnis aus. Gründe seien etwa zu viel Bürokratie und eine zu langsame Erstattung der Leistungen durch die Krankenkassen. Die verschärften EU-Normen dürften hier auf wenig Gegenliebe treffen.
Dagmar Roth-Behrendt, SPD-Abgeordnete des Europäischen Parlaments, die von der Kommission mit der Begleitung der neuen Verordnung beauftragt worden war, sah im Beschluss einen Kompromiss. „Wir haben unser wichtigstes Ziel erreicht, die Patienten besser vor fehlerhaften Produkten und deren Zulassung zu schützen“, sagte sie. Auch wenn sie mit ihrem Ansinnen, die Überwachung von Hochrisiko-Medizinprodukten einer zentralen, EU-weit agierenden Kontrollinstanz zu unterstellen, keine Mehrheit finden konnte, ist sie sich der positiven Wirkung sicher: Unter dem Strich erhöhe sich die Sicherheit der Patienten sowie die Transparenz in einem bis dato unregulierten Industriezweig Europas deutlich.
Die Krankenkassen sind mit den EU-Plänen unzufrieden. „Patientensicherheit darf nicht auf dem Altar von Lobbyinteressen geopfert werden“, so der Vorstand des AOK-Bundesverbands, Jürgen Graalmann. „Eine CE-Kennzeichnung, die auch jedes Spielzeug und jeder Fön bekommt, wird den Ansprüchen von Produkten wie Brust- implantaten und Herzschrittmachern nicht gerecht.“
Der Spiegel bewertete: „Die EU beugt sich dem Druck der Industrielobby. Zwischen Patientenschutz und Industrieinteressen hat sie nur einen lauen Kompromiss geschafft.“