Behandlungen in Pflegeeinrichtungen

Auf der Suche nach der verlegten Prothese

Heftarchiv Zahnmedizin
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Senior ist nicht gleich Senior. Es gibt die „Go-Gos“, die ihren Alltag eigenständig bestreiten. Und es gibt die immobilen „No-Gos“, die den Weg in die Praxis nicht mehr bewältigen können. Bei ihnen ist mobile Zahnmedizin gefragt. Ein Bericht aus Berlin.

Der Zahnärztin Dr. Andrea Diehl wurde das Engagement für immobile und pflegebedürftige Patienten sprichwörtlich in die Wiege gelegt. Als Kind begleitete die 1963 geborene Berlinerin ihren Vater, ebenfalls Zahnarzt, zu alten und bettlägerigen Patienten nach Hause – auch am Wochenende.

Damals sei die Behandlung handwerklich einfacher gewesen als heute. „Die Menschen hatten fast alle keine Zähne mehr und es wurde viel Totalprothetik gemacht.“ Irgendwann ging die aufsuchende Zahnmedizin dann an Diehl über. Sie und ihr Team behandeln in drei Pflegeeinrichtungen im Berliner Süden, aber auch bei einer unbestimmten Anzahl von Patienten zu Hause sowie in einigen Wohngruppen.

„Es ist überhaupt nicht gängig, aufsuchend zu Hause zu behandeln“, sagt Diehl. Zwischen 250 und 300 Personen werden durch ihre Praxis aufsuchend mobil betreut, schätzt sie, mehr als ein Dutzend sind über 100 Jahre alt. 95 Prozent der vorliegenden Diagnosen könnten vor Ort in den Einrichtungen behandelt werden. Dazu zählten Füllungen, Prothetik, Endo, oftmals Reparaturen von Prothesen und die Entfernung von Druckstellen.

Die mobilen Behandlungen würden meist von unvorhersehbaren Ereignissen begleitet. Beispielsweise schlafen viele Patienten bei der Ankunft der Zahnärzte. Man müsse sich – vor allem anderen – Zeit nehmen für die Behandlung, Geduld haben und mit den Patienten ruhig und laut sprechen. Zahn- und Prothesenreinigungen werden durchgeführt, wenngleich die Kooperationsfähigkeit der Bewohner vergleichsweise kurz ist. Zudem sei es den Angehörigen oft schwer zu vermitteln, dass eine PZR auch beim Pflegebedürftigen einen positiven Effekt auf die Mundgesundheit und das Wohlbefinden hat. Improvisationstalent sei gefragt. Und Ideenreichtum. Vor Ort kommt es oft zu komischen Situationen. Der Klassiker: die verschwundene Prothese. Mögliche Orte sind Taschen von Strickjacken, auf dem Tablett, unter einem Gardinensaum, im Blumenkasten oder auch im Spülkasten der Toilette.

Wenn viele Zähne zu ziehen sind oder (mal) geschliffen werden muss, dann sei es (auch mal) notwendig, dass sich der Patient in die Praxis begibt. Das ist allerdings umständlich. Das Prozedere geht so: Die angestelllte Zahnärztin muss erst in der Praxis die Versichertenkarte einlesen, um dann einen Transportschein zu erstellen. Der muss in der Pflegeeinrichtung abgegeben werden. Danach wird in der Praxis ein Termin geblockt. Zum Termin wird der Patient via Krankentransport in die Praxis und wieder ins Heim gebracht, hin und zurück etwa 150 Euro. Alle diese einzelnen Schritte organisiert die angestellte Zahnärztin selbst.

Moderne Zahnmedizin – mehr als Keramikinlays

Während Diehl meist in ihrer Praxis die „konventionellen Patienten“ behandelt, fahren ihre angestellten Zahnärzte in die Pflegeeinrichtungen zu den immobilen Patienten. Nur so rechne sich der Aufwand. „Sonst könnten wir nicht wirtschaftlich arbeiten“, sagt Diehl. „Wir fahren hier definitiv keine Gewinne ein. Ein Heim ist ein Hobby und läuft als Add-on.“

Diehl fügt hinzu: „Ich sage meinen jungen Kollegen, dass es noch eine andere Zahnmedizin gibt, als Keramikinlays und -kronen einzubauen und Implantate einzusetzen. Die Senioren- und Alterszahnmedizin ist gerade für die junge Generation der Zahnärzte in meinen Augen ganz wichtig. Denn die alten Patienten sind die Klientel der Zukunft.“ Sie sieht noch einen weiteren Vorteil in den Heimbesuchen. „Die jungen Kollegen lernen die ’alte’, reparative Zahnmedizin kennen, die im Studium nicht mehr gelehrt wird.“ Während sie selbst damit sehr vertraut sei, würden die jungen Kollegen hier noch viel Neues erfahren. Auch in Bezug auf zwischenmenschliche Aspekte.

Halitosis macht einsam

Die Kommunikation mit dem Pflegepersonal verlaufe gut. Einmal alle zwei Jahre führt Andrea Diehl Mundhygieneschulungen in der ganzen Einrichtung durch. „Das Personal gibt sich viel Mühe. Der Mundhygienestandard hat sich in den letzten Jahren sichtlich verbessert“, berichtet die Zahnärztin. Dennoch bleibe der Mundraum im Rahmen der Pflege ein heikler Bereich. Diehl weiß von Pflegekräften, die lieber Windeln wechseln, als Prothesen aus dem Mund zu nehmen. Der Ekel sei die größte Hürde. Ein Teufelskreis, denn wird die Prothese nicht gepflegt, blieben auch die Angehörigen fern. Halitosis mache eben einsam – egal an welchem Ort. Dazu komme aus medizinischer Sicht das erhöhte Entzündungsrisiko.

Die Zahnärztin schwärmt trotz aller Probleme von der Dankbarkeit der Heimbewohner und dem Respekt, der den Zahnmedizinern in den Einrichtungen entgegengebracht wird. Bei der Arbeit in der Praxis komme ganz schnell die Frage nach den Kosten auf, im Pflegeheim sei das nicht der Fall. „Die Bewohner im Heim sind einfach nur glücklich, dass Du da bist. Das ist eine ganz andere Ebene der Belohnung und eine besondere Art der Wertschätzung.“ Es sei eine andere Welt. Die alte Welt. Denn früher habe es mehr reparative Zahmedizin gegeben – heute mehr ästhetische Zahnmedizin. Im Heim finde ausschließlich reparative Zahnmedizin statt.

Die meisten ihrer angestellten Zahnärzte wären anfangs missmutig, wenn sie von ihrer neuen Aufgabe erführen. Frisch von der Universität sind sie hoch motiviert, Zahnmedizin zu praktizieren, zu bohren und Weisheitszähne zu ziehen. An alte und immobile Patienten denken sie nicht sofort. Doch „diesen Zahn zieht“ ihnen die erfahrene Freiberuflerin schnell. „Ich sage ihnen, dass das wirklich eine wichtige Arbeit ist. Wenngleich wir auch Implantate und Funktionsdiagnostik machen und damit wirklich gutes Geld verdienen, so haben wir doch auch eine soziale Verantwortung. Ich mache das auch wirklich gerne. Es sind Menschen, die mit uns in unserem Kiez leben und uns brauchen. Man muss sozialverträglich behandeln. Wer gut verdient, sollte eine soziale Arbeit leisten“, ist Diehl überzeugt.

Auf den ersten Blick ist die mobile Zahnmedizin nicht so „sexy“. Die mobilen Einheiten sind schwer, die hohe Dichte an überdurchschnittlich alten, teilweise umnachteten Patienten und die vielen Abstimmungsprozesse zwischen Angehörigen, Heimleitung, Pflegekräften, Hausärzten und Gerontologen erfordert eine hohe psychische Belastbarkeit und Organisationsgeschick. „Man muss diese Arbeit aus Überzeugung machen“, sagt Assistenzzahnärztin Juliane Gnoth. Es gehe um pure Lebensqualität für die Patienten. „Essen ist die Erotik des Alters“, sagen einige Heimbewohner. Um die Mahlzeiten genießen zu können, braucht es nun mal ein funktionierendes Kauorgan. Das wissen auch viele von den Bewohnern.

Wenn Diehl sich eine Verbesserung in der Versorgung wünschen könnte, wäre das zuerst die Anpassung der Leistungsposition. Dieser Wunsch ist bereits in Erfüllung gegangen. Die neue Leistungsposition für die aufsuchende Versorgung gilt seit dem 1. April 2013. Sie regt auch an, dass die Zahnärztekammer mobile Behandlungskoffer zur Verfügung stellt. Ein Koffer kostet circa 10 000 Euro. Diese Investition könne sich nicht jede Praxis leisten. Zudem plädiert sie für die Etablierung eines honorierten Prophylaxekonzepts in Pflegeeinrichtungen. In einer Pflegeeinrichtung sollte eine ZMP angestellt werden können, die unter Aufsicht eines Zahnmediziners arbeiten würde. Diehl hat bereits Konzepte für Mundhygiene in der Pflege verfasst. In den von ihrem Team betreuten Einrichtungen werden diese angewandt. Zudem lehrt sie an der Charité Berlin zu Alterszahnmedizin und ist Mitglied im Arbeitskreis und Qualitätszirkel CMD.

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