Auswirkungen von Habits und Dysfunktionen
Der Begriff „Habits“ beschreibt „schlechte beziehungsweise schädliche“ Angewohnheiten, die zu Zahnfehlstellungen sowie einer dysgnathen Entwicklung führen können. Diese werden unterteilt in gewöhnliche Habits (Daumen- oder Fingerlutschen, Zungenpressen, Bleistiftkauen), autoaggressive Habits (Fingernägelkauen, Lippenbeißen) [Sander et al., 2011] und Orofaziale Dysfunktionen (viszerales Schluckmuster, Mundatmung).
Häufig etablieren sich Habits bereits im Milchgebiss und können bei Übertragung auf das Wechselgebiss eine erfolgreiche kieferorthopädische Behandlung beeinträchtigen beziehungsweise ein stabiles Ergebnis verhindern. Deshalb ist es wichtig, Habits vor Beginn einer kieferorthopädischen Behandlung abzugewöhnen und zu beseitigen. Das ist nicht immer einfach und der Betroffene benötigt oftmals Hilfsmittel, da Habits meistens unbewusst durchgeführt werden und in den Alltag fest integriert sind.
Gewöhnliche Habits
Lutschhabit:
Das Daumen- oder Fingerlutschen kann eine Protrusion und Intrusion der Oberkieferfrontzähne sowie eine Retrusion der Unterkieferfrontzähne verursachen. Daraus resultiert häufig eine vergrößerte sagittale Frontzahnstufe, die bis hin zu einem offenen Biss führen und zur Entstehung einer skelettalen Klasse II beitragen kann (Abbildung 1). Durch einen verstärkten Wangendruck und die Kaudalverlagerung der Zunge, bleibt der Oberkiefer häufig in der Transversalen zu schmal [Harzer, 2011]. Dimberg et al. untersuchten in ihrer Langzeitstudie die Entwicklung und das Auftreten einer Malokklusion von Kindern im Alter von drei Jahren und abschließend mit sieben Jahren sowie den Einfluss eines Lutschhabits. Die Prävalenz des Lutschhabits zeigte eine Abnahme zwischen drei (66 Prozent) und sieben Jahren (vier Prozent). Die Entwicklung eines frontal offenen Bisses oder eines seitlichen Kreuzbisses war signifikant höher bei Kindern mit bestehendem oder auch abgelegtem Lutschhabit im Vergleich zu den Kindern ohne Lutschhabit [Dimberg et al., 2013]. Das Lutschhabit – wie auch das Nuckeln an einem Beruhigungssauger – sollte bis nach dem vollständigen Durchbruch der Milchzähne abgestellt sein. Wird das Nuckeln erst nach dem zweiten Lebensjahr abgestellt, ist das Risiko einer Malokklusion deutlich erhöht [Góis et al., 2008] und kann zu Deformationen des Lutschfingers führen (Abbildung 2). Um das Lutschhabit bewusst zu machen und abzugewöhnen, ist zum Beispiel ein Lutschkalender ein probates Hilfsmittel. Das Kind malt eine Sonne in ein Tageskästchen wenn es nicht gelutscht hat, ansonsten eine Regenwolke (Abbildung 3). Außerdem kann ein auf den Lutschfinger gemaltes „lachendes Gesicht“, das beim Lutschen verschwinden würde, eine positive Anregung bieten, das Lutschen zu vermeiden (Abbildung 4). Diese beiden Hilfsmittel funktionieren gut im „Vorschulalter“ und unterstützen das Kind positiv bei der Abgewöhnung des Lutschhabits. Bei älteren Kindern kann ein „Lutschvertrag“ hilfreich sein, der von dem betroffenen Kind unterschrieben wird. Das Auftragen von Bitterstoffen auf den Lutschfinger, wie zum Beispiel Daumexol®, dient lediglich als Gedächtnisstütze. Häufig ist dieser Lack jedoch schnell abgelutscht und bietet somit kein wirkliches Hindernis [Sander et al., 2011] und außerdem kann sich das Kind daran gewöhnen. Als apparative Maßnahme kann eine Mundvorhofplatte eingesetzt werden. Hierbei ist auch ein Gewöhnungseffekt zu berücksichtigen.
Autoagressive Habits
Fingernägelkauen:
Das Fingernägelkauen – häufig emotional bedingt, durch Angst oder Nervosität – verursacht unphysiologisch große Kräfte auf die Zähne und den Zahnhalteapparat. Diese ständigen Auslenkungen in unterschiedliche Richtungen (sog. „Jiggling-Effekt“) können zu Wurzelresorptionen führen. Odenrick und Brattström berichteten sowohl vor als auch nach kieferorthopädischer Behandlung über einen signifikant höheren Wurzelresorptionsindex bei an Fingernägel kauenden Patienten, im Vergleich zu einer nicht kauenden Kontrollgruppe [Odenrick und Brattström, 1983]. Das Auftragen von unangenehm schmeckenden Materialien (wie zum Beispiel Nagellack, Bitterstoffe) oder das Verbinden der Finger sind häufig versuchte, aber meistens ineffektive Maßnahmen zum Abgewöhnen [Ghanizadeh, 2011]. Das Management ist komplizierter, als sich nur auf das Unterbinden zu fokussieren. Das Kind sollte motiviert, unterstützt sowie über die möglichen Schäden aufgeklärt werden [Ghanizadeh, 2011]. Das Kauen auf einem Stück Hartgummi oder zuckerfreiem Kaugummi – wenn nicht zwanghaft betrieben – können als Methoden zum Aufgeben des Habits eingesetzt werden [Ghanizadeh, 2011; Tanaka et al., 2008]. Isaac schlägt vor, dass sich Jungen die Finger bandagieren, um ihre Freunde glauben zu lassen, sie hätten sich verletzt. Für Mädchen empfiehlt er, ein Nagelstudio aufzusuchen [Isaac, 1935].
Lippenbeißen und -saugen:
Lippenbeißer und -sauger leiden häufig unter trockenen Lippen. Das Lippenbeißen kann durch Protrusion der Oberkiefer- und Retrusion der Unterkieferschneidezähne zu einer Klasse II/1 führen. Das Lippensaugen führt hingegen zu einer bialveolären Retrusion der Schneidezähne sowie mandibulärer Retrognathie und kann somit für eine Klasse II/2 verantwortlich beziehungsweise kann eine bereits bestehende Dysgnathie verstärken [Tränkmann, 1988]. Daher sollten diese Habits frühzeitig und vor einer Behandlung abgestellt werden. Ein visuelles Feedback bieten Klebepunkte, die auf Alltagsgegenstände (wie zum Beispiel Computer, Spiegel, und mehr) aufgebracht werden. So wird die betroffene Person tagsüber auf das bestehende Habit aufmerksam gemacht und nimmt es wahr, um es dann zu unterlassen.
Orofaziale Dysfunktion
Viszerales Schluckmuster:
Beim physiologischen (somatischen) Schluckmuster, liegt die Zunge ohne Kontakt zu den Frontzähnen dem harten Gaumen an [Schopf, 2008]. Während des Schluckvorgangs besteht Kontakt zwischen den Zahnreihen, und die Zunge liegt im Mundinnenraum [Kahl-Nieke, 2009]. Die Lippen- und Mentalismuskulatur ist am Schluckakt nicht beteiligt [Schopf, 2008]. Das infantile (viszerale) Schluckmuster ist dadurch gekennzeichnet, dass die Zunge in Kontakt mit den Frontzähnen steht, gegen diese presst und ein deutlicher Einsatz der Lippen- und Mentalismuskulatur besteht [Schopf, 2008]. Die Zunge lagert sich zwischen die Zahnreihen.
Die Umstellung vom infantilen auf das somatische Schluckmuster erfolgt mit Abschluss des Milchgebisses, zwischen dem zweiten bis dritten Lebensjahr. Besteht das infantile Schluckmuster über das vierte Lebensjahr hinaus, spricht man von einer Dyskinesie [Schopf, 2008]. Stahl et al. stellten eine Zunahme an Habits und gestörter Funktionsabläufe beim Übergang vom Milch- zum Wechselgebiss fest. Hierbei nimmt das viszerale Schlucken den höchsten Anteil gestörter Funktionsabläufe ein und wird im Milch- (62 Prozent) und Wechselgebiss (63,5 Prozent) nahezu unverändert häufig diagnostiziert [Stahl et al., 2007]. Durch das viszerale Schlucken kann ein frontaler und teilweise lateral offener Biss entstehen. Das Zungenpressen verursacht ebenso einen frontal offenen Biss, sowie eine bialveoläre Protrusion [Tränkmann, 1988]. Ein skelettal offener Biss, eine vergrößerte sagittale Stufe sowie eine Klasse III können verstärkt werden [Kahl-Nieke, 2009].
Als Therapiemaßnahmen sind im Schulalter zunächst myofunktionelle Übungen empfehlenswert, die später durch apparative Maßnahmen (Mundvorhofplatte, Spikes) unterstützt werden können [Schopf, 2008]. Die apparativen Maßnahmen erfolgen häufig in Kombination mit einer kieferorthopädischen Behandlung. Den Orientierungspunkt während des physiologischen Schluckens bildet die Papilla incisiva. Durch die Nachbildung des Gaumenreliefs an Oberkieferplatten wird das physiologische Schlucken erleichtert. Ebenso hat das Anrauhen der Platte in diesem Bereich eine positive Wirkung auf die Zungenfunktion im Vergleich zu hochglanzpolierten Apparaturen [Reinicke C et al., 1998; Castillo-Morales, 1991].
Mundatmung
Bei der Mundatmung ist zwischen einer pathologischen und einer habituellen Form zu unterscheiden. Die pathologische Form wird durch anatomische Begegebenheiten (Septumdeviation, schlecht durchgängige Nase, adenoide Vegetationen) verursacht und ist in Zusammenarbeit mit einem HNO-Arzt zu behandeln. Die habituelle Mundatmung tritt bei freier Nasenatmung auf [Schopf, 2008]. In der Studie von Góis et al. mit drei- bis sechsjährigen Vorschulkindern hatten Mundatmer eine zehnmal höhere Chance, eine Malokklusion zu entwickeln, im Vergleich zu Nasenatmern [Góis et al., 2008].
Mundatmer weisen einen fehlenden Reiz der perioralen Muskulatur auf. Durch die offene Mundhaltung liegt die Zunge nicht mehr dem harten Gaumen an, wodurch der wachstumsstimulierende Reiz auf den Oberkiefer ausbleibt. Es entsteht ein Ungleichgewicht zwischen Zungen-, Wangen- und Lippenmuskulatur [Kahl-Nieke, 2009]. Häufig sind ein hoher Gaumen, ein Schmalkiefer, ein Kreuzbiss, ein frontal offener Biss, eine vergrößerte sagittale Stufe, Progenie, entzündliche Veränderungen der Gingiva, erhöhtes Kariesrisiko sowie Infektionen der Atemwege vorzufinden. Der Gesichtsschädelaufbau ist meistens dolichofazial [Kahl-Nieke, 2009; Schopf, 2008]. Eine zu kurze Oberlippe oder ein schwacher Lippentonus fördern die habituelle Mundatmung [Schopf, 2008]. Zum Abgewöhnen der habituellen Mundatmung kann eine Mundvorhofplatte als apparatives Hilfsmittel dienen. Zum Training der Lippenmuskulatur können myofunktionelle Übungsbehandlungen eingesetzt werden, wie zum Beispiel das Halten und Bewegen einer Münze zwischen den Lippen (Gulden-Therapie) [Schopf, 2008] oder die therapeutischen Übungen nach Kittel [Kittel, 2011].
Dr. Hanne MolterProf. Dr. Dr. Heinrich WehrbeinDr. Christina ErbeUniversitätsmedizin MainzPoliklinik für KieferorthopädieAugustusplatz 2, 55131 Mainzerbe@uni-mainz.de