Der Drang nach Freiheit
Als Präsident Barack Obama im März 2010 den Affordable Care Act (ACA) unterschrieb, tobten nicht nur Vertreter des rechten Lagers. Auch weite Teile der US-Bevölkerung entrüsteten sich über eine Reform, die ihre Entscheidungsfreiheit über den Versichertenstatus beenden sollte. Bis heute lehnt etwa die Hälfte der Amerikaner Obamacare ab, viele der Gegner bezeichnen das im ACA festgelegte Versicherungsmandat sogar als „Sozialismus“ und „Staatsmedizin“.
Grundsätzlicher ideologischer Konflikt
Für Steven Shinegold sind Reaktionen wie diese nichts Neues. In den 60er-Jahren, als die damalige Regierung Medicare – das staatliche Versicherungsprogramm für die über 65-Jährigen – eingeführt hat, sei dieses Programm auch als Staatsmedizin beschimpft worden, erinnert sich der Mitarbeiter des US-Gesundheitsministeriums und Dozent an der George-Washington-Universität. „Die Diskussion über die Rolle des Staates haben wir im Laufe der letzten Jahrzehnte bei Reformen immer wieder geführt“, sagt er. Auch Paul Starr, Professor für Soziologie an der Princeton-Universität, sieht in der Ablehnung des Staates ein Muster, das sich durch die US- Geschichte zieht. Für den Autor des Buches „The Social Transformation of American Medicine“, für das Starr den Pulitzer-Preis erhielt, zeigt sich im Verhalten vieler Amerikaner ein grundsätzlicher ideologischer Konflikt – es geht um die Frage, ob jeder für die Versicherung eines jeden zahlen soll oder ein jeder nur für seine eigene. „Steuern bei der Finanzierung des Gesundheitswesen heranzuziehen war von jeher als Sozialismus verschrien“, erinnert sich der Soziologe.
Gesundheitsökonom Uwe E. Reinhardt, ebenfalls Professor in Princeton, erklärt sich dieses wiederkehrende Muster mit dem Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg im 18. Jahrhundert. „Die Leute wollten unabhängig und frei von der Kolonialmacht England und König George III. sein“, sagt der gebürtige Osnabrücker, der seit vielen Jahrzehnten in den USA lebt und lehrt. „Sie konnten sich nur auf sich selbst, ihre Waffe und vielleicht noch auf den unmittelbaren Nachbarn verlassen.“ Interessanterweise, sagt Reinhardt, wetterten auch diejenigen gegen Staatsmedizin à la Obama, die zum Teil selbst von staatlichen Programmen profitierten. Und auch Politiker wissen Reinhardt zufolge nicht immer, wovon sie sprechen. So habe einmal ein US-Senator vehement gegen Staatsmedizin argumentiert, worauf der Princeton-Professor ihm entgegnete: „Wenn Staatsmedizin etwas so Schlechtes ist, warum sind dann Millionen von Veteranen über eine staatliche Krankenversicherung abgedeckt?“
Mehr Staatsprogramme als vielen bewusst
De facto besteht das US-Gesundheitswesen nicht erst seit Einführung von Obamacare 2010 aus weitaus mehr staatlichen Programmen als vielen bewusst ist. Rund 31 Prozent der Amerikaner sind über staatliche Programme versichert. Die Kosten, die für diese Programme anfallen, machen 46 Prozent der Gesamtausgaben für Gesundheit am Bruttoinlandsprodukt aus, so Reinhardt in seinem Aufsatz „Divide et Impera: Protecting the growth of health care incomes“, der 2012 in der Zeitschrift „Health Economics“ erschien. Rund 15 Prozent der staatlich krankenversicherten Amerikaner beziehen Medicare, weitere etwa 16 Prozent der Amerikaner erhalten Medicaid. Die Leistungskataloge dieser beiden Programme sind staatlich festgelegt. Darüber hinaus sind alle US-Veteranen über das „Veterans Health Administration System“ krankenversichert, eine Krankenversicherung, die im Besitz des Staates ist und die er selbst betreibt.
Die andere Hälfte der amerikanischen Bevölkerung ist über eine der mehr als 2000 großen und kleinen Privatversicherungen über ihren Arbeitgeber versichert. Verlieren sie ihre Arbeitsstelle, verlieren sie auch ihre Versicherung. Nur eine Minderheit, geschätzte fünf Prozent, hatte sich vor Obamacare selbst – unabhängig vom Arbeitgeber – privat versichert. Millionen von Menschen – die Zahlen variieren zwischen 25 und 50 Millionen – waren ohne jegliche Versicherung. Dem Congressional Budget Office zufolge – einer Behörde des US-Kongresses, die die Ausgaben innerhalb eines Haushaltsjahres schätzt und prüft – sind 16 Prozent der US-Bevölkerung zu einem Zeitpunkt in ihrem Leben ohne Versicherung, davon etwa die Hälfte länger als ein Jahr.
Ignoranz gegenüber den Fakten
Dass sich so viele Amerikaner trotz der offensichtlich bereits existierenden staatlichen Programme dennoch in den Bann republikanischer Propaganda haben ziehen lassen, hat Reinhardt zufolge auch mit Ignoranz gegenüber den Fakten zu tun. Diese Ignoranz sei bedingt durch Zeitknappheit. „Die Amerikaner sind die am härtesten arbeitende Bevölkerung innerhalb der OECD. Sie haben keine Zeit, sich ausreichend und richtig zu informieren“, glaubt der Princeton-Professor.
Diesen Eindruck kann auch Robin Osborn bestätigen. „Zwei Drittel aller Amerikaner wussten einer Umfrage zufolge 2013 noch immer nicht, was der ACA eigentlich bedeutet“, berichtet die Vize-Präsidentin des Internationalen Programms für Gesundheitspolitik und Gesundheitsinnovationen beim Commonwealth Fund (siehe Kasten).
Angst vor dem Verlust der Selbstbestimmung
Michael Cannon sind all die Fakten durchaus bewusst. Gerade deshalb war Obamacare für den Direktor für gesundheitspolitische Studien am libertären Cato-Institut in Washington auch nur das Tüpfelchen auf dem I.
Sein Denken gleicht dem vieler Männer der ersten Stunde der USA. Entscheidungsfreiheit in allen Dingen, auch in Fragen der Gesundheitsversorgung, ist für ihn das oberste Gut. Diese Freiheit habe der Staat dem Individuum schon lange genommen. „Wir können schon seit Ende des Zweiten Weltkrieges in den USA nicht mehr frei darüber entscheiden, wie wir uns versichern wollen“, findet Cannon. Ließe man jeden selbst entscheiden, was er mit seinem Geld macht, sei das der weitaus sinnvollere Weg. „Natürlich gebe es auch dann Fehlentscheidungen. Aber diese Fehlentscheidung beträfe nur den Einzelnen. Die Fehlentscheidungen des Staates betreffen alle“, betont der Cato-Mitarbeiter.
Kulturelle und historische Gründe
Gar nicht weit vom libertären Cato-Institut entfernt saß monatelang der Liberale Daniel Bahr (FDP). Er nahm nach seinem Ausscheiden als Bundesgesundheitsminister eine Art Auszeit am Demokraten-nahen „Center for American Progress“, einem Think Tank. Allerdings empfanden einige Amerikaner Bahrs Vorstellungen von einem Gesundheitssystem als weitaus weniger liberal, als die Deutschen es tun. „Nur weil ich finde, jeder soll krankenversichert sein, gelte ich hier einigen als Sozialist“, berichtete Bahr von seinen ersten Erfahrungen mit der US-Kultur. Ein wenig, sagt Bahr, könne er die Amerikaner in ihrem Freiheitsdrang aber auch verstehen. „Die USA sind ein Kontinent. Nicht zu vergleichen mit Deutschland oder der Europäischen Union. Wenn die Europäische Kommission auf die Idee käme, das einheitliche Gesundheitssystem in der EU aufzubauen, würde das nicht funktionieren. Das hat ethische, kulturelle und historische Gründe“, so der Ex-Minister. So könne man sicherlich auch erklären, warum so viele Amerikaner gegen einen allmächtigen Staat sind.
Martina MertenFachjournalistin für Gesundheitspolitikinfo@martina-merten.de