Die Chancen des virtuellen Artikulators

Die perfekte Okklusion

Als Ergänzung zum klassischen manuellen Artikulator bieten gleich mehrere Unternehmen der Dentalindustrie virtuelle Artikulatoren an – und stellen sie nirgendwo anders in solcher Zahl und Vielfalt aus wie auf der Internationalen Dental-Schau 2015 in Köln. Sie verheißen mindestens ein Plus an Komfort, doch gleichzeitig können sie klinisch neue Dimensionen für eine patientenindividuelle, funktionsgerechte Versorgung erschließen.

Einige Grundlagen für stimmige okklusale Verhältnisse verstehen sich von selbst. An erster Stelle steht hier die Abformung der Situation im Patientenmund, denn sie stellt das zentrale Kommunikationsmittel zwischen Zahnarzt und Zahntechniker dar.

Hinzu kommen gegebenenfalls ein Bissregistrat und eine Gesichtsbogenübertragung. Bevor schließlich eine laborseitig erstellte Restauration eingegliedert wird, erfolgt ihre Überprüfung im (manuellen) Artikulator. Trotz aller Sorgfalt besteht stets das Risiko, dass am Schluss dennoch intraorales Einschleifen von Kauflächen notwendig wird.

Das kostet Zeit – nach seriösen Schätzungen liegt sie im Schnitt bei etwa einer Dreiviertelstunde pro Tag [http://www.k2dental.de/news-detail/schleifen-sie-noch-oder-leben-sie-schon.html (Zugriff am 23.7.2014)], was auch ein erheblicher ökonomischer Faktor ist.

Die Schwächen des manuellen Artikulators

Zuweilen stellt sich heraus, dass die Abstützungen beziehungsweise die Kontaktpunkte doch nicht 100-prozentig dem ursprünglichen Plan entsprechen. Manchmal sind einzelne Kauflächen zu flach gestaltet. Zeitraubend wird es besonders dann, wenn zum Beispiel eine nachbearbeitete Zirkonoxidrestauration erneut zum Glanzbrand ins Labor geschickt werden muss.

Generell steigt die Bedeutung einer stimmigen Okklusion sogar mit der stärkeren Verbreitung von CAD/CAM-bearbeiteter Strukturkeramik – noch dazu, wenn sie monolithisch eingesetzt wird.

Ein Teil der Restunsicherheit bei der Kontrolle mit mechanischen Artikulatoren liegt in der Natur der Sache. Bissregistrate müssen auf Gipsmodelle gefügt, die Modelle schädel- und gelenkbezüglich montiert, die Expansion von Montage- und Modellgipsen sowie die Verformung von Registrierträgermaterialien mitbedacht werden. Zudem ist jeder Patient ein Unikat mit individueller Kaufunktion, wobei gleichzeitig die Resilienz von Weichteilstrukturen im menschlichen Kiefergelenk, die physiologische (oder pathologische) Eigenbeweglichkeit der Zähne, die Beweglichkeit von Prothesen und die Verbiegungen der Unterkieferspange bei Beanspruchung unter Kaukrafteinfluss Berücksichtigung finden sollten [Gärtner C. et al., 1997].

Das menschliche Kausystem ist so komplex, dass nur 82 Prozent der protrusiven und 90 Prozent der laterotrusiven Kontakte, die in vivo vorhanden waren, im Artikulator nachvollzogen werden können und nur 62 Prozent der protrusiven und 81 Prozent der laterotrusiven Kontakte im manuellen Artikulator korrekt lokalisiert sind – trotz individueller Registrierung und schädelgelenkbezüglicher Modellmontage [Tamaki K., 1997]. Die daraus unvermeidlich erwachsenden Fehler (keine handwerklichen, sondern statistisch bedingte!) pflanzen sich ins Endergebnis fort.

Die Alternative virtueller Artikulator

Durch die Digitalisierung vermindern sich die manuellen beziehungsweise mechanischen Fehlerquellen – und es eröffnen sich zusätzliche Möglichkeiten. Daher hatte die Forschung rund um den virtuellen Artikulator von Anfang an nicht nur das Ziel, den „dentalen Workflow“ zu digitalisieren und dadurch gefühlt cleaner und komfortabler zu machen. Darüber hinaus ging es stets auch darum, die exakten Bewegungsbahnen des Unterkiefers unmittelbar zu digitalisieren. Denn so lassen sich wirklich individuelle biomechanische Parameter gewinnen – um letztlich den Aufwand für nachträgliches Einschleifen auf ein nahe null liegendes Minimum zu begrenzen.

Ein entscheidender Schritt hin zu einer neuen Qualität von virtuellen Artikulatoren könnte auf der folgenden Überlegung fußen: Es geht nicht darum, den manuellen Artikulator zu simulieren und durch Datendigitalisierung, Bildschirmdarstellung und Touchscreen den Bedienkomfort zu erhöhen, sondern eine darüber hinausgehende Alternative zu schaffen. Ein Ergebnis lautet zum Beispiel: Beim angestrebten virtuellen Artikulator brauchen typische Parameter wie Kondylenbahnneigung, Bennett-Winkel und Sideshift nicht von vorneherein bekannt zu sein [Gärtner C., 2003]. Vielmehr wird die Kiefergelenksbewegung des Patienten unmittelbar digitalisiert. Eine Idee dazu basiert auf der Datenerfassung mit vielen Ultraschallsensoren, die auf den Okklusionsflächen des Unterkiefers fixiert werden; ihre Positionen misst man während der Kaubewegung relativ zu einem Referenzpunkt an der Stirn (Fraunhofer Institut für Grafische Datenverarbeitung, Darmstadt; Universitätsklinik Greifswald; Kettenbach, Eschenburg).

Nach dem Stand der Technik sind inzwischen die Möglichkeiten des mechanischen Artikulators digitalisiert. Die Integration von patientenbezogenen Bewegungsdaten befindet sich aktuell in der Pilotphase (ARCUSdigma System, KaVo, Biberach). So dürften sich in naher Zukunft Bewegungsbahnen simulieren lassen, die keinen mechanischen Restriktionen eines Artikulators unterliegen.

In der Praxis sieht das „Step-by-step“ so aus: Ober- und Unterkiefer sowie ein Vestibulärscan werden aufgezeichnet. Die lagerichtige Artikulation der Modelle wird automatisch ermittelt und an eine CAD-Software weitergegeben (KaVo Splitcast-System mit den Softwares ARCTICA AutoScan und multiCAD; ebenso im KaVo ARCUSdigma System).

Zur Berechnung der Daten werden ASCII-Daten eingeladen (KTS-System) und die Bewegungsbahnen über einen erweiterten Gesichtsbogen mithilfe von Ultraschallsensoren ermittelt. Zurzeit ist eine solche Software in der Lage, Störstellen unter dynamischen Gesichtspunkten zu erkennen und zu eliminieren. An ihre Grenzen stoßen die verfügbaren Programme jedoch, wenn therapeutische Korrekturen gefordert sind (wie zum Beispiel der Aufbau einer neuen Eckzahnführung). Hier sind nach wie vor manuelle Eingriffe erforderlich.

Insbesondere vermag es noch kein Computerprogramm, selbstständig umfangreichere Restaurationen zu konstruieren, die gnathologischen Kriterien genügen würde.

Die Zeiten für klassischerweise notwendiges Einschleifen können jedoch bereits mit aktueller Software in der oben erwähnten Version dramatisch reduziert, im Idealfall sogar komplett eliminiert werden, wie über die Firma Kavo zu erfahren war.

Eine weitere Möglichkeit, die individuelle Kieferrelation ohne physische Modelle zu ermitteln, führt über dreidimensionale Röntgenbilder (DVT). Verschiedene Para-meter lassen sich daraus herleiten, wie etwa die Eckpunkte des Bonwill-Dreiecks und die Kondylenbahnen. Der vorstehend angesprochene Bennett-Winkel allerdings kann nur dynamisch gemessen werden – das DVT hilft hier nicht weiter. Andererseits wurde anhand eines Patientenfalles, bei dem ein erheblicher vertikaler Knochenverlust durch eine Bissanhebung durch Kauflächenrekonstruktion im Unterkiefer behandelt werden sollte, bereits demonstriert [Balzer A., 2013]:

Die Einstellung eines Mittelwertes für den Bennett-Winkel kann den therapeutischen Zielsetzungen durchaus genügen, wenn alle Informationen des dreidimensionalen Röntgenbildes konsequent genutzt werden. Dabei wird betont, dass eine spezielle Modellherstellung sowie Gesichtsbogenadaptionen entfielen und Ergebnisverfälschungen infolge der Bissöffnung für die Registrierung nicht stattfänden (inLab SW 4.2, Sirona, Bensheim).

Unterstützendes Werkzeug für alle Indikationen

Damit stehen zur Realisierung eines virtuellen Artikulators verschiedene Strategien zur Verfügung. Sie kommen dem Ideal einer „perfekten Okklusion per Mausklick“ immer näher. Spätestens bei umfangreicheren Restaurationen wird jedoch keine Software selbstständig so virtuos konstruieren, dass das Ergebnis gnathologischen Kriterien entspräche.

Damit stellt der virtuelle Artikulator heute in erster Linie ein unterstützendes Werk-zeug für die Herstellung von dentalen Restaurationen dar. Grundsätzlich erstreckt sich das Indikationsspektrum sowohl auf die Prothetik als auch auf die Implantologie und die Kieferorthopädie. In allen Bereichen bleibt jenseits verbesserter Computerprogramme und reichhaltiger digitaler Zahnbibliotheken die umfassende Kenntnis der Anwender gefragt. Ihnen obliegt es letztlich, eine funktionelle Interkuspidation zu konstruieren.

Eine enge Zusammenarbeit zwischen Zahnarzt und Zahntechniker dürfte dabei angesichts der Vielfalt der heutigen Möglichkeiten virtueller Artikulatoren, wie sie sich jetzt andeuten, tendenziell noch wichtiger werden. Dies gibt Anlass für einen gemeinsamen Besuch der Internationalen Dental-Schau, 10. bis 14. März 2015, in Köln.

Dr. Christian EhrensbergerHolbeinstr. 2060596 Frankfurtcu_ehrensberger@web.de

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