Studie zur Wirkung von Reha-Maßnahmen

Raus aus der Pflegestufe

Der Grundsatz „Reha vor Pflege“ ist im Sozialgesetzbuch verankert. Doch die Realität sieht anders aus. Bei den Pflegegutachten des MDK sind Empfehlungen für eine medizinische Reha-Maßnahme Mangelware. Dabei belegt eine aktuelle Studie eindrucksvoll, wie sehr Pflegebedürftige von einer Reha-Maßnahme profitieren. Es wird Zeit, dass die große Koalition die bisherige Architektur von Kranken- und Pflegekassen an die tatsächlichen Bedürfnisse anpasst.

Wird bei der Krankenkasse ein Antrag auf eine Pflegestufe gestellt, scheint das für die Pflegegutachter eine Art finales Urteil zu sein: Ab jetzt geht es nur noch bergab. Dabei ist in Paragraf 31 des elften Sozialgesetzbuches eindeutig festgehalten: Pflegekassen sind zur Überprüfung verpflichtet, ob eine Reha-Maßnahme geeignet sein könnte, die Pflegebedürftigkeit zu überwinden, zu vermindern oder zumindest eine Verschlechterung zu stoppen. Doch der Medizinische Dienst der Krankenkassen (MDK) scheint diesen Passus nicht verinnerlicht zu haben: Nach Angaben des Bundesgesundheitsministeriums wurde 2010 gerade mal in 1,3 Prozent der Fälle mit MDK-Pflegebegutachtung eine Empfehlung für eine medizinische Reha ausgesprochen. Pflegebedürftige nahmen im selben Jahr auch nur halb so oft eine Reha-Maßnahme in Anspruch wie Nicht-Pflegebedürftige, so ein Ergebnis des „Pflegereport 2013“ der Barmer Ersatzkasse.

Reha hat Einfluss auf den Pflegebedarf

Dabei belegt eine Studie im Auftrag der Hannover-Rückversicherung eindrucksvoll die positiven Ergebnisse einer Reha für Menschen mit Pflegestufe. „Die meisten Menschen glauben, dass der Eintritt in eine Pflegestufe eine Einbahnstraße ist. Nach Pflegestufe I folgt die II, danach geht es mit Pflegestufe III ins Pflegeheim, wo man dann stirbt. Unsere Untersuchungen zeigen: Das ist eindeutig falsch“, betont Dr. Nicola-Alexander Sittaro, Geschäftsführer des Versicherungs-Forschungsinstituts VMS Hannover, der an der Studie mitgearbeitet hat.

Die „Hannover Morbiditäts- und Mortalitäts-Pflegestudie“ kommt zu einem eindeutigen Fazit: Rehabilitationsmaßnahmen haben direkten Einfluss auf den künftigen Pflegebedarf und können nicht nur zu einer Verminderung, sondern sogar zu einer vollständigen Beseitigung von Pflegebedürftigkeit führen. „Bis zu sieben Prozent der Pflegebedürftigen sind durch eine Reha-Maßnahme reaktivierbar. Das bedeutet, dass sich ihre Pflegestufe um mindestens eine Stufe vermindern lässt bis hin zum kompletten Verlust der Pflegestufe“, erklärt Sitaro weiter.

Die Studie in Kooperation mit dem MDK Niedersachsen belege sogar Fälle, in denen Pflegebedürftige mit der Stufe III nach einer Reha-Maßnahme gar keine Pflegestufe mehr brauchten. „Unabhängig von Geschlecht, Alter und Pflegestufe gilt: Reha wirkt“, bringt es Sitaro auf den Punkt. Die Analyse hatte die Daten von knapp 90 000 Pflegebedürftigen ausgewertet. Neben der Reaktivierbarkeit aus der Pflegestufe belegt die Studie zudem, dass über alle Altersgruppen und Pflegestufen hinweg die Lebenserwartung der Betroffenen nach rehabilitativen Maßnahmen ansteigt – und zwar unabhängig davon, ob die Pflege stationär oder ambulant erfolgt. „Diese Erfolge machen Mut, bei allen Pflegebedürftigen nach Erfolg versprechenden Rehabilitationspotenzialen zu suchen“, so Sitaro weiter.

Weniger Kosten für die Solidargemeinschaft

Angesichts dieser beeindruckenden Ergebnisse erscheinen die niedrigen Reha-Quoten bei Pflegebedürftigen umso unverständlicher. Denn mit einer gezielten Reha lässt sich nicht nur das Leiden der Betroffenen effektiv mindern – gleichzeitig geht eine Verbesserung in der Pflegestufe auch mit geringeren Kosten für die Solidargemeinschaft einher und ist deshalb auch aus ökonomischen Gründen sinnvoll. Zumindest theoretisch. Denn in der Praxis zeigt sich, dass die Investition in eine medizinische Rehabilitation zur Vermeidung oder Verringerung einer Pflegebedürftigkeit für Krankenkassen alles andere als wirtschaftlich ist.

Ursache dieses Paradoxons ist die bestehende Trennung zwischen Gesetzlicher Krankenversicherung (GKV) und Gesetzlicher Pflegeversicherung (GPV). Eine Krankenkasse, die mittels Reha in die Gesundheit eines Versicherten investiert, belastet mit dieser medizinischen Maßnahme das eigene Konto und entlastet gleichzeitig künftig die Pflegekasse, die für die Pflegekosten zuständig ist. Während die Pflegekassen untereinander mit einem Finanzausgleich ausgestattet sind, stehen die Krankenkassen in einem erbitterten Beitragswettbewerb untereinander. Sie betrachten es daher als ihre Pflicht, mit den Mitgliedsbeiträgen möglichst wirtschaftlich umzugehen. Insofern ist es aus Sicht der Kasse durchaus konsequent, möglichst wenig Geld in die Maßnahmen zur pflegeverhindernden Rehabilitation zu investieren.

Folge dieses strukturellen Fehlanreizes ist es, dass sinnvolle, Erfolg versprechende und letztlich auch kostenmindernde Leistungen nicht erbracht werden.

Interessenkonflikte auflösen

Der gesetzlich verankerte Grundsatz „Rehabilitation vor Pflege“ wird so unterlaufen. Gesundheitsökonomen wie Prof. Dr. Jürgen Wasem haben sich deshalb in der Vergangenheit wiederholt dafür ausgesprochen, den systembedingten Interessenkonflikt durch einen Finanzausgleich zwischen Kranken- und Pflegeversicherung zu lösen, beispielsweise indem den Krankenkassen finanzielle Anreize für eine vermiedene oder geminderte Pflegebedürftigkeit erhalten.

Potenzial nicht ausgeschöpft

Auch der Gesetzgeber hat vor einiger Zeit erkannt, dass das Reha-Potenzial bei Pflegebedürftigen nicht zufriedenstellend ausgeschöpft wird. Statt des empfohlenen Finanzausgleichs reagierte die schwarz-gelbe Koalition jedoch 2012 mit dem Pflegeneuausrichtungsgesetz (PNG). Das zum Oktober 2012 in Kraft getretene Gesetz sollte den Grundsatz „Rehabilitation vor Pflege“ weiter stärken. Das Gesetz sieht beispielsweise vor, dass mit der Entscheidung über die Pflegebedürftigkeit die Pflegekasse dem Antragsteller eine gesonderte Rehabilitationsempfehlung des Medizinischen Dienstes zuschickt und umfassend dazu Stellung nimmt, inwieweit auf der Grundlage der Empfehlung die Durchführung einer Maßnahme zur medizinischen Rehabilitation angezeigt ist. Dabei kann es sich um mobile, geriatrische und indikationsspezifische Rehabilitationsmaßnahmen handeln, die ambulant oder stationär erfolgen können.

Der GKV-Spitzenverband wurde mit dem Gesetz zudem verpflichtet, künftig jährlich Bericht zu erstatten, wie sich die Menge der empfohlenen und durchgeführten Rehamaßnahmen im Rahmen der Pflegebegutachtung durch den MDK entwickelt hat. Zum 1. September wurde der Bericht für das Jahr 2013 nun vorgelegt. Das Ergebnis ist ernüchternd: 5 264-mal hat der MDK im Rahmen der Pflegebegutachtungen eine Empfehlung für eine Reha ausgesprochen. Bei rund 1,3 Millionen überprüften Pflegegutachten ergibt sich eine Empfehlungsquote für eine Rehabilitationsmaßnahme von 0,41 Prozent.

Otmar MüllerGesundheitspolitischer Fachjournalist, Kölnmail@otmar-mueller.de

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