Rehabilitation mit Lückenhaltern und Kinderprothesen
Seit den 1980er-Jahren wird in der Bundesrepublik Deutschland ein rückläufiger Kariesbefall unter den Kindern und Jugendlichen registriert [Glass, 1982; Micheelis und Schiffner, 2006]. Ergebnissen der epidemiologischen Begleituntersuchung [DAJ, 2009] zufolge kann ein stark positiver Trend zur Verbesserung der Zahngesundheit besonders unter den Zwölfjährigen verzeichnet werden. Demgegenüber ist allerdings der Kariesbefall unter den Milchgebissen zu hoch, da fast die Hälfte der kariösen Zähne unbehandelt bleiben [Pieper, 2009]. Entgegen dieser allgemein rückläufigen Kariesausprägung weist ein kleiner Prozentsatz extensive, kariös bedingte Zerstörungen an den Milchzähnen auf [Marthaler, 1990; Granath et al., 1994].
So zeigen nach einer Studie von Splieth 20 Prozent der betroffenen Kinder etwa 80 Prozent der insgesamt detektierten kariösen Läsionen auf [Splieth et al., 2009]. In der Literatur gibt es Hinweise auf einen Zusammenhang zwischen dem Ausprägungsgrad der kariösen Läsionen und dem sozioökonomischen Status mit familiären Dispositionen der betroffenen Kinder [Reisine und Psoter, 2001; Borutta et al., 2010]. Bei den Kindern lassen sich zudem häufig insuffiziente Füllungen oder Zähne mit unversorgten kariösen Läsionen diagnostizieren [Krämer und Frankenberger, 2005]. In Bezug auf die Karies im Milchgebiss richtete sich in den vergangen Jahren der Blickpunkt auf die sogenannte ECC (Early Childhood Caries). Als Hauptursache für die Ausbildung der ECC wird der andauernde Gebrauch einer Nuckelflasche mit kariogenem Inhalt angenommen [EAPD Congress Abstracts, 2006; Colak et al., 2013].
Die ECC wird in drei Typen unterteilt, wobei
• ECC Typ I lediglich isolierte Läsionen an den Milchmolaren und/oder an den Schneidezähnen beschreibt.
• ECC Typ II bedeutet einen mittelgradig bis schwer kariösen Befall der Oberkieferfrontzähne und der Milchmolaren (Abbildung 1), die Unterkieferschneidezähne sind dabei kariesfrei.
• ECC Typ III stellt eine Kombination aus kariösen Unter- und Oberkieferfrontzähnen und der Molaren dar [Wyne, 1999].
Vorzeitiger Milchzahnverlust
Kariöse Läsionen an Milchzähnen lassen sich prinzipiell mit guten Erfolgsaussichten durch Füllungstherapie, Caries-Profunda-Therapie oder bei kariös bedingter Eröffnung der Milchzahnpulpa via Pulpotomie oder Milchzahnendodontie (Abbildung 2) versorgen. Eine Caries-Profunda-Therapie wird in diesem Zusammenhang bei artifizieller Pulpaeröffnung im intakten Dentin durchgeführt, die Pulpotomie bei symptomloser Pulpa zur Vitalerhaltung und die Endodontie bei irreversibler Pulpitis im Sinne der Pulpektomie [Kühnisch et al., 2011; Hui-Derksen et al., 2013].
Für die Therapie im Milchgebiss ist eine exakte Diagnosestellung anhand eines röntgenologischen und klinischen Befunds essenziell. Es sollte an dieser Stelle erwähnt werden, dass sich die Mikrostruktur des Milchzahns aufgrund pulpanah vergrößerter Dentintubuli prägnant von der des bleibenden Zahnes unterscheidet. Dieser Aspekt beeinflusst die Wahl der Therapie und führt allgemein zu einer rascheren Progression der – besonders approximalen – kariösen Läsion bis hin zur Infektion des pulpalen Gewebes [Angker et al., 2003; Kassa et al., 2009]. Bei vorangegangener apikaler Inflammation, Fistelbildung oder Abszedierung ist eine Extraktion angezeigt (Abbildung 3).
Trepanierte Milchzähne, die „offen gelassen“ als Platzhalter fungieren sollen, gelten längst nicht mehr als Standard der modernen Kinderzahnheilkunde [Kühnisch et al., 2011]. Folgende Punkte indizieren eine Milchzahnextraktion oder können für die Diagnosestellung richtungsweisend sein:
• periapikale Läsion mit akuter oder chronischer Inflammation
• Fistelbildung/Abszedierung an den Milchfrontzähnen nach Trauma
• tiefe kariöse Zerstörung der Milchzahnkrone unter Gingivaniveau, die eine Rekonstruktion unmöglich macht (Abbildung 4)
• Schmerzsymptomatik (Perkussion +, Lockerungsgrad I-III) nach Caries-Profunda-Therapie oder anderen endodontischen Behandlungen (Misserfolg unter Umständen durch fehlerhafte Diagnosestellung)
Folgen frühzeitigen Milchzahnverlusts
Der frühzeitige Milchzahnverlust ist definiert als ein Zahnverlust mindestens ein Jahr vor physiologischer Exfoliation und Eruption seines permanenten Nachfolgers. Die häufigsten Ursachen bilden kariesassoziierte oder traumatisch bedingte Pathogenesen. Prinzipiell muss dabei zwischen den Folgen bei Verlust der Frontzähne und bei Verlust der Seitenzähne unterschieden werden.
Kommt es zu einem alleinigen Verlust der Frontzähne, kann der Aspekt der Lückeneinengung vernachlässigt werden, da die Eckzähne als Distanzhalter zwischen 52 und 62 fungieren. Allerdings kann es bei fehlenden Frontzähnen zur Einschränkung der Phonetik, zu einer Dyskinesie und zu Hänseleien unter den Kindern kommen [Müller-Lessmann et al., 2003]. Es kann darüber hinaus eine Retardierung bei der Eruption der bleibenden Frontzähne beobachtet werden. Interessanterweise werden häufig bei Kindern aus sozialschwachen Familien Sprachentwicklungsstörungen im Sinne von Dyslalie oder Sigmatismus beobachtet. Es ist an dieser Stelle unverzichtbar, diesen Kindern in Kombination mit einem logopädischen Konsil, die fehlenden Frontzähne zu ersetzen, um den Erfolg für eine regelrechte Sprachentwicklung zu gewährleisten [Ellsäßer et al., 2002].
An dieser Stelle sollte besonders hervorgehoben werden, dass bei der zahnärztlichen Inspektion eines Kindes die Überprüfung der Sprach- und Schluckfunktionen keinesfalls außer Acht gelassen werden sollte. Bei fehlenden Milchmolaren tritt vor allem der Verlust der sagittalen und darüber hinaus auch der vertikalen Abstützung im Seitenzahngebiet in den Vordergrund [Park et al., 2009].
Approximalkaries oder gar fehlende Milchmolaren bedingen eine Mesialwanderung der benachbarten Molaren, es kommt zu einem Stützzoneneinbruch (Abbildung 5) mit Platzdefizit in der Sagittalebene. Durch den Verlust der sagittalen Milchzahndimension aufgrund von Approximalkaries oder gar fehlender Zähne kann es zu einem sekundären Engstand kommen. Daher sollte penibel darauf geachtet werden, durch geeignete konservierende Maßnahmen (approximal konvex gestaltete Füllungen oder pädiatrische Kronen, Abbildung 6), die physiologische Dimension des Milchzahns zu erhalten [Krämer et al., 2010]. Ein Mesialdrift des zweiten Milchmolaren oder des ersten bleibenden Molaren sollte unbedingt vermieden werden.
Auch können durch eine Lückeneinengung ektopische Durchbrüche oder unterminierende Resorptionen resultieren [Steffen und van Waes, 2011]. Als besonders schwerwiegend bezogen auf die dargestellten Aspekte kann der oben gezeigte Fall gesehen werden, bei dem Front- und Seitenzähne eines Kiefers entfernt werden mussten (Abbildung 4).
Herausnehmbarer Zahnersatz bei Kindern
Sowohl fehlende Front- als auch fehlende Seitenzähne können in Funktion und Ästhetik mit herausnehmbaren Interimsprothesen, sogenannten „ästhetischen Lückenhaltern“ (Abbildungen 7 und 8) oder „Kinderprothesen“ ersetzt werden [Krämer, 2012].
Darüber hinaus ist es auch möglich, Totalprothesen für Kinder anzufertigen (Abbildungen 9 und 10). Letztere setzen eine gewisse Compliance des Kindes voraus, da hierbei nach der Situationsabformung eine Funktionsabformung mit individuell gestalteten Löffeln und eine Kieferrelationsbestimmung in vertikaler und horizontaler Dimension vonnöten ist (Abbildung 11).
Die Zahnaufstellung für den partiellen oder den totalen Ersatz erfolgt anhand spezieller Milchgebissgarnituren, zum Beispiel von der Firma Bambino-Tooth© (Abbildung 12). Ein partieller oder totaler Interimsersatz für das Milchgebiss muss über einen ZE-Heil- und Kostenplan bei den zuständigen Krankenkassen beantragt werden. Eine Abformung direkt intraoperativ, also unmittelbar nach der Extraktion, wird für die Herstellung ästhetischer Lückenhalter nicht empfohlen, sondern es sollte stets die Wundheilung abgewartet werden, um eine Diskrepanz zwischen der Dimension der Prothesenbasis und der Situation im Mund bei der Eingliederung des Zahnersatzes zu verhindern.
Für die Gestaltung der partiellen Milchzahnprothesen werden Adamsklammern, Dreiecksklammern, Knopfanker und einfache C-Klammern empfohlen [Hirsch, 2004; Harzer et al., 2004). Morphologisch bedingt weisen Milchzähne nur einen sehr geringen Unterschnitt auf, daher sollte auf aktivierbare Klammern nicht verzichtet werden. In einzelnen Fällen bietet sich eine iatrogen verursachte Kavitation im Sinne einer vestibulären Rille am Eckzahn an, um diesen fehlenden Unterschnitt zu erzielen. Kindgerechte Applikationen wie Bilder, Glitzer, oder Farbeffekte (Abbildung 7) dienen der Tragemotivation [Krämer, 2012; Bürkle, 2012]. Während der Gebrauchsphase des Milchgebisses ab dem dritten Lebensjahr bis zum Durchbruch des ersten bleibenden Molaren findet prinzipiell kein transversales Wachstum der Kieferbasen statt [Treuner et al., 2013]. Aus diesem Grund kann auf eine Dehnschraube in der Prothesenbasis verzichtet werden. In einigen Fällen, insbesondere beim Vorliegen eines Schmalkiefers, kann sie sich allerdings als sinnvoll erweisen.
Lückenversorgung bei isoliertem Milchzahnverlust
Bei Verlust einzelner Milchseitenzähne ist die Anfertigung eines herausnehmbaren Lückenhalters (BEMA-Pos. 123) oder die Anfertigung eines festsitzenden Lückenhalters (GOZ 6240) chairside indiziert [Krämer, 2012; Treuner et al., 2013]. Als Vorteile des herausnehmbaren Lückenhalters – wohl der Klassiker unter den Platzhaltern – kann die gleichzeitige Versorgung zwei bis drei fehlender Zähne angesehen werden (Abbildungen 13 und 14). Darüber hinaus gelingt die Herstellung anhand simpler Alginatabformungen – wobei bei extrem unkooperativen Kindern auf eine Gegenkieferabformung unter Umständen verzichtet werden kann. Weiter von Vorteil sind die guten Mundhygiene- und Reinigungsmöglichkeiten und die potenzielle Erweiterungsmöglichkeit mittels Dehnschrauben, Protrusionsfedern, Aufbissen und mehr, um kleine kieferorthopädische Maßnahmen durchführen zu können [Krämer et al., 2010]. Wird eine Distalisierungsschraube eingearbeitet, um bei bereits erlangter Lückeneinengung den Platz zu vergrößern, spricht man von einem aktiven Lückenhalter, der allerdings nicht über die Position 123 abgerechnet werden kann, da er in dieser Form als KFO-Gerät gilt. In multipel zerstörten Milchgebissen bietet sich eine Kombination aus ästhetischem Ersatz für die Front und funktioneller Lückenhaltung im Seitenzahngebiet – kombiniert in einer Interimsprothese beziehungsweise Platte – an.
Dabei muss immer im Einzelfall entschieden werden, welche Kombination unter den Aspekten Wirtschaftlichkeit, Compliance und Funktionalität am günstigsten erscheint. Bild 15 zeigt die Situation eines vierjährigen Mädchens. Die Eltern suchten unsere Praxis auf mit der Bitte um prothetische Rehabilitation des Milchgebisses der Tochter. Das Mädchen war aufgrund ihrer kongenitalen Polymorbidität (komplexer Herzfehler, Analatresie und mehr) bereits unterernährt. Darüber hinaus wurden dem Mädchen vor kurzer Zeit sechs kariöse Milchmolaren entfernt, konservierende oder prothetische Maßnahmen erfolgten nicht und wurden den Eltern auch nicht angeboten. In einem derartigen Fall erweist sich die prothetische Rehabilitation zur Gewährleistung der regelrechten Nahrungsaufnahme als unumgänglich. Da im Oberkiefer zwei isolierte Molaren fehlten, nämlich 54 und 64, wurde dieser mit einem herausnehmbaren Lückenhalter versorgt (Abbildung 15). Für die fehlenden Zähne 75, 74, 84, 85 wurde ein Interims- ersatz beantragt. Es erfolgten nach Genehmigung des Heil- und Kostenplanes Abformungen der entsprechenden Kiefer anhand konfektionierter Rimlock-Löffel© (Größe XXS, perforiert, M+W Dental, GER) und später die Eingliederung der fertiggestellten Geräte.
Therapie mit festsitzenden Lückenhaltern
Bei einem isolierten Zahnverlust eines einzelnen Milchzahns drängt sich die Verwendung eines festsitzenden Lückenhalters zum Beispiel von der Firma Denovo© (Denovo Dental, Boldwin Park, USA) auf [Krämer et al., 2010; Bürkle, 2012]. Dieser kann bei Bedarf einzeitig mit ein wenig Geschick und Übung sehr rasch direkt nach der Extraktion hergestellt werden (Abbildung 6). Es wird dafür zunächst ein passendes konfektioniertes Molarenband für den Nachbarzahn ermittelt. Im Anschluss daran erfolgt dann die Breitenbestimmung des sogenannten „Loops“ (Schlaufe aus federhartem Stahldraht zum Offenhalten der Lücke). Mit einer eigens dafür vorgesehenen Zange (Abbildung 16) kann der Loop am Molarenbändchen fixiert werden. Schlussendlich erfolgt die Eingliederung mittels eines geeigneten Zements, zum Beispiel Ketac CEM© (3M Espe Dental, Neuss, Deutschland). Es bietet sich dabei dringlichst an, das Band während der Anprobe und des Zementierens mit einer Zahnseide zu sichern, um ein Verschlucken oder gar Aspirieren zu verhindern. Festsitzende Lückenhalter können ebenfalls mit einer kleinen Auflage am Loop versehen werden, um ein Einkippen zu verhindern [Treuner et al., 2013]. In diesen speziellen Fällen, bei denen aus diversen Gründen nicht auf einen konfektionierten Lückenhalter „aus der Schachtel“ zurückgegriffen werden kann, muss dieser unter Umständen im Labor hergestellt werden. Den Eltern und dem Kind müssen genaue Instruktionen zur häuslichen Zahnpflege speziell der Region des festsitzenden Lückenhalters erteilt werden, um der Plaqueakkumulation entgegenzuwirken [Qudeimat und Fayle, 1998].
Bei einer Freiendsituation, das bedeutet bei Extraktion des Milch-Fünfers bei fehlendem Sechsjahr-Molaren, empfiehlt sich die Eingliederung eines Platzhalters mit einem distalen Fähnchen „distal shoe“ (Abbildungen 17 und 18). Dieser verhindert einen ektopischen Durchbruch des bleibenden Molaren und gewährleistet den Platzbedarf für den bleibenden zweiten Prämolaren [Krämer et al., 2010; Treuner et al., 2013]. Eine röntgenologische Kontrolle dieses „distal shoes“ ist obligat. Es bietet sich an, diese unmittelbar nach Eingliederung vorzunehmen, da er so bei fehlerhafter Lage nachjustiert werden kann. Wird in einer späteren röntgenologischen Untersuchung – eventuell auch als Nebenbefund – diagnostiziert, dass das Fähnchen die Eruption des bleibenden Fünfers oder Sechsers behindert, muss der „distal shoe“ entfernt werden. Festsitzende Lückenhalter kommen immer dann zum Einsatz, wenn seitens des Kindes keine Compliance sowohl den Abdruck als auch die Tragemodalität betreffend zu erwarten ist. In einigen Fällen äußern auch die Eltern den Wunsch nach einer festsitzenden Lückenversorgung, weil somit das Management bezüglich des Ein- und Ausgliederns und der Tragezeiten und die Gefahr, diesen zu verlieren, eliminiert wird.
Zusammenfassung
Der vorliegende Artikel sollte den Blickpunkt auf die Notwendigkeit zur Lückenversorgung im Milchgebiss richten. Trotz des gegen-wärtigen remittierenden Kariesbefalls bei Kindern stellt doch in einigen Fällen die Milchzahnextraktion das Mittel der Wahl dar. Sowohl der versierte als auch der in der Kinderzahnheilkunde bislang unerfahrene Zahnarzt sollte sich vor der Extraktionssitzung der Planung zur Versorgung der dann entstehenden Lücke widmen. Umfangreiche kieferorthopädische Behandlungen können durch präventive Interzeption im Sinne der Eingliederung eines einfachen herausnehmbaren oder festsitzenden Platzhalters kontrazeptiert werden. Das Eingliedern eines kindgerechten Zahnersatzes gewährleistet die Rehabilitation des Kindes in den Aspekten Mastikation, Dimension der Kieferbasen, Phonetik und Ästhetik.
Dr. Anne Susan LauensteinDr. Achim Sieper MSc, MScLünener Str. 7359174 Kamenkinderzahnaerztin.all.dente@gmx.de