Implizite Rationierung und Priorisierung
Schon beim Blick auf die Finanzierung des Gesundheitssystems offenbaren sich erhebliche Unterschiede in den Überzeugungen und – damit verbunden – in den Vorgehensweisen [Groß, 2012]. Grundsätzlich lassen sich mehrere Finanzierungssysteme beziehungsweise Begriffe differenzieren: So beschreibt der Terminus „Sozialversicherungsmodell“ die Finanzierung über eine gesetzliche Pflichtversicherung; als Beispiel hierfür kann das deutsche GKV-Versicherungssystem gelten, in dem rund 70 Millionen und damit die große Mehrheit der Deutschen versichert sind; auch viele andere Staaten wie etwa die europäischen Nachbarn Belgien oder Frankreich haben sich im Grundsatz für dieses Modell entschieden. Beim „Privatversicherungsmodell“ erfolgt die Finanzierung über eine freiwillige Krankenversicherung; das bekannteste Beispiel für ein solches System waren – jedenfalls bis zur Etablierung des derzeit noch mit erheblichen Umsetzungsschwierigkeiten behafteten „Patient Protection and Affordable Care Act“ („Obamacare“) [PPACA, 2014] – die USA. Eine Sonderrolle kommt dem „Holländischen Modell“ zu, das aus den Elementen Gesundheitsprämie und einkommensentsprechender Beitrag besteht. Demgegenüber speist sich beim „Nationalen Gesundheitsdienst“ die Finanzierung aus Steuermitteln; auch hierfür finden sich in Europa viele Beispiele, so etwa Großbritannien, Italien oder Dänemark.
Das Gesundheitswesen und seine Akteure
Wenngleich das deutsche Krankenversicherungsmodell weltweit große Wertschätzung genießt, finden sich auch hierzulande anhaltende, teils hitzig geführte Debatten über die wechselseitigen Verantwortlichkeiten der beteiligten Interessengruppen und Akteure: Unterschieden werden im Wesentlichen „Leistungserbringer“ (Ärzte, Zahnärzte, Therapeuten, Pflegepersonal, Apotheker), „Leistungsempfänger“ (Patienten/Versicherte), „Leistungsfinanzierer“ (gesetzlich versicherte Arbeitnehmer, freiwillig Versicherte, privat Versicherte, Selbstzahler, Arbeitgeber) und „Leistungszahler“ (Krankenversicherungen, Pflege- und Rentenversicherung, gesetzliche Unfallversicherung, kassenärztliche und -zahnärztliche Vereinigungen, staatliche Beihilfestellen, Direktzahler). Dabei fällt gerade dem „Leistungserbringer“ Arzt beziehungsweise Zahnarzt eine schwierige Aufgabe zu: Auf der einen Seite erhofft sich der einzelne Kranke eine patientengerechte (zahn-)ärztliche Versorgung, die seinen individuellen Bedürfnissen Rechnung trägt, und auf der anderen Seite erwartet die Gesellschaft von der (Zahn-) Ärzteschaft einen sozial und ethisch verantwortlichen Umgang mit den vorhandenen finanziellen Ressourcen. Die Rollenerwartung an den (Zahn-)Arzt in seiner Eigenschaft als „Kassenbehandler“ besteht darin, dass er die nur begrenzt verfügbaren Gesundheitsgüter effektiv und bedarfsgerecht einsetzt und eine (Zahn-)Medizin betreibt, die (solidarisch) finanzierbar bleibt und jedem gemäß SGB V das „medizinisch Notwendige“ gewährt [Becker/Kingreen, 2010].
Konzeptionen von Gerechtigkeit
Damit wird deutlich, dass die Frage nach einem funktionierenden Gesundheitswesen zugleich eng korreliert ist mit Fragen der Gerechtigkeit. Was aber bedeutet der Begriff „Gerechtigkeit“ (lat. Iustitia)? Er beschreibt einen Zustand des sozialen Miteinanders, bei dem ein Ausgleich der Interessen und der Verteilung von Gütern und Chancen zwischen den beteiligten Personen(gruppen) gewährleistet ist. Allerdings gibt es höchst unterschiedliche Auffassungen bezüglich der Frage, was „gerecht“ ist und was nicht. Im Wesentlichen können drei Gerechtigkeitskonzeptionen unterschieden werden [Veith, 2004; Mazouz, 2006]: die „Iustitia legalis“, die „Iustitia commutativa“ und die „Iustitia distributiva“.
Die „Iustitia legalis“ (auch „Gesetzliche Gerechtigkeit“ – im Sinne von „den Gesetzen oder Regeln gemäß“, lat. legalis = gesetzlich) regelt das Verhältnis zwischen dem Einzelnen und der Gemeinschaft in Form von Gesetzen und Regeln und fordert das ein, „was der Einzelne der Gesamtheit schuldet bzw. was von ihm für die Gesamtheit zu leisten ist“ [Veith, 2004]. Gemäß dieser Gerechtigkeitskonzeption ist dasjenige gerecht, was dem Gesetz oder den Regeln entspricht. Diese Maxime hat allerdings zur Voraussetzung, dass die zugrunde liegenden Gesetze gut und sorgfältig konzipiert sind – in einem „Unrechtstaat“ wäre keine gesetzliche Gerechtigkeit zu erwarten.
Tauschgerechtigkeit
Der Begriff „Iustitia commutativa“ (auch „Ausgleichende Gerechtigkeit“ oder „Tauschgerechtigkeit“, lat. commutare = verändern, austauschen) bezieht sich auf den Austausch von Gütern oder Dienstleistungen zwischen Menschen. Maßstab ist hierbei die Verhältnismäßigkeit zwischen dem Wert einer Leistung und dem der Gegenleistung. Im Mittelpunkt dieser Gerechtigkeitsauffassung stehen demzufolge Regeln des fairen Tausches und – im Falle von Schädigungen – einer Behebung oder fairen Entgeltung beziehungsweise Bestrafung. Konkret gesprochen steht der Begriff „Ausgleichende Gerechtigkeit“ insbesondere für die Vorstellung, dass bestehende Benachteiligungen von Personen (etwa erhöhte individuelle Gesundheitsrisiken, geringere ökonomische Leistungsfähigkeit) auf der Grundlage von Altruismus (Uneigennützigkeit) und Solidarität (gegenseitige Hilfe und Eintreten füreinander) nach Möglichkeit ausgeglichen werden sollten, so dass etwa besonders bedürftige Patienten besonders viele oder weitreichende Gesundheitsleistungen erhalten sollten. Hintergrund dieses Verständnisses von Gerechtigkeit ist die Tatsache, dass soziale Ungleichheiten (Lebensverhältnisse, Bildung und beruflicher Status, Vermögensverhältnisse) auf den Gesundheitszustand und die Lebenserwartung der Menschen zurückwirken und von daher einer Kompensation bedürfen: Bei dieser Auffassung steht im Idealfall am Ende eine Gleichverteilung der infrage stehenden Güter: Vor diesem Hintergrund spricht man auch von einer egalitaristischen Strategie, das heißt einer Strategie, die am Ziel der Egalität (Gleichheit) orientiert ist (frz. égalité = Gleichheit).
Verteilungsgerechtigkeit
Die „Iustitia distributiva“ (auch „Verteilungsgerechtigkeit“, lat. distribuere = verteilen) stellt die gerechte Verteilung verfügbarer (Gesundheits-)Güter, -Dienstleistungen und -Chancen in den Mittelpunkt. Allerdings existieren durchaus unterschiedliche Auffassungen bezüglich der Frage, wie eine gerechte Distribuierung in der Praxis auszusehen hat. Bei einem „prozeduralen“ Verständnis von Verteilungsgerechtigkeit richtet sich das Augenmerk auf das Verfahren der Verteilung, sprich auf gerechte Verteilungsregeln. So erfolgt etwa eine Verteilungsentscheidung auf der Grundlage eines Konsensbeschlusses oder per Mehrheitsbeschluss. Bei einem „materialen“ Verständnis stehen dagegen inhaltliche Kriterien im Zentrum der Betrachtung, wobei diese sich unter Umständen deutlich unterscheiden: Ein viel zitiertes inhaltliches Kriterium wäre die „Bedarfsgerechtigkeit“ (auch „Soziale Gerechtigkeit“): Die Idee der Bedarfsgerechtigkeit folgt der Maxime „Jedem nach seinem Bedarf“. Ein völlig anders definiertes inhaltliches Kriterium ist das der „Leistungsgerechtigkeit“: Sie folgt der Maxime „Jedem das, was ihm zusteht“. Maßstab ist hier die persönliche Leistungserbringung. Gegen den Gedanken der Leistungsgerechtigkeit wird allerdings gerade in der Gesundheitsversorgung geltend gemacht, dass sie auf dem (letztlich unsozialen) Kriterium der Leistungsstärke fußt: So sind unterschiedliche Vermögens- beziehungsweise Gesundheitsverhältnisse unter den Bürgern eines Staates nicht (allein) auf die eigene Leistungsbereitschaft beziehungsweise das eigene Gesundheitsverhalten zurückzuführen, sondern stets auch von Umständen abhängig, die der Einzelne nicht oder nur bedingt beherrschen kann und demzufolge auch nicht beziehungsweise nicht uneingeschränkt zu verantworten hat.
Fragen der Verteilungsgerechtigkeit nehmen in der gesundheitspolitischen Diskussion Raum ein – insbesondere dort, wo es um die gerechte Verteilung knapper Ressourcen (etwa Spenderorgane) oder ganz allgemein um Rationierungsmaßnahmen in der Medizin geht. Verteilungsfragen können sich auf ein einzelnes staatliches Gesundheitssystem beziehen oder die weltweite Gesundheitsversorgung im Blick haben. Im letzten Fall spricht man auch von „Globaler Gesundheit“ oder „Global Health“ als Ausdruck von „Globaler Gerechtigkeit“.
Mit Blick auf die sozialen Sicherungssysteme – und auf das Gesundheitssystem im Speziellen – kommt schließlich als einer in der Zeitperspektive speziellen Form der Verteilungsgerechtigkeit der „Intergenerationellen Gerechtigkeit“, sprich der Gerechtigkeit zwischen den Generationen, eine besondere Bedeutung zu: Sie geht aus von der Frage, was die Bevölkerung der Gegenwart zukünftigen Menschen schuldet und wie der gerechte Umgang mit gesellschaftlichen Herausforderungen – etwa zunehmende Ressourcenknappheit in der Gesundheitsversorgung – aussehen sollte, um die Lebens- und Beteiligungsrechte der betroffenen Generationen nicht zu gefährden. Auch die konkrete Frage, wie eine künftige Gesundheitsreform ausgestaltet sein müsste, um „zukunftsfähig“ zu sein, wird unter dem Aspekt der intergenerationellen Gerechtigkeit diskutiert. Ähnliches gilt für die – ethisch höchst problematische – Diskussion über eine künftige Einschränkung von medizinischen Leistungen im hohen Lebensalter [Gronemeyer, 2004].
Gesundheit in Sozialstaaten
So unterschiedlich die angesprochenen Gerechtigkeitskonzeptionen sind, so unverbrüchlich ist andererseits die Feststellung, dass Gesundheit kein beliebiges, sondern ein sogenanntes „konditionales Gut“ ist: Gemeint ist hiermit ein Gut, das die Grundvoraussetzung zur Erlangung aller übrigen (materiellen wie immateriellen) Güter darstellt (lat. condicio, später auch conditio = Bedingung). Eine volkstümliche Umschreibung des hier beschriebenen Sachverhalts wäre die Redewendung „Ohne Gesundheit ist alles nichts“. Diese Sonderstellung der Gesundheit begründet eine besondere Verpflichtung der Gesellschaft, jedem Bürger Zugang zu medizinischen Leis-tungen zu sichern. Dementsprechend besteht ein weitgehender Konsens darüber, dass Gesundheit nicht als „marktgängiges Gut“ gesehen werden kann und dass für jeden Bürger zumindest eine medizinische Grundversorgung sicherzustellen ist. Aus der Tatsache, dass Gesundheit ein konditionales Gut ist, lässt sich also – jedenfalls in Sozialstaaten – ein Anspruch auf Gesundheitsfürsorge ableiten.
Dass es hierbei jedoch nicht um einen absoluten Anspruch gehen kann, zeigt bereits der Hinweis auf die begrenzten finanziellen Mittel: Tatsächlich wird auch im deutschen Gesundheitssystem insbesondere bedingt durch den demografischen Wandel die Kluft zwischen dem (zahn-)medizinisch Machbaren und dem solidarisch Finanzierbaren zusehends größer [Groß, 2009; Groß et al., 2010; Nationaler Ethikrat, 2007]. Deshalb wird in zunehmendem Maße diskutiert, mit welchen Weichenstellungen man das deutsche Gesundheitssystem zukunftsfähig machen kann. Zu den zentralen klärungsbedürftigen Aspekten der Finanzierung gehören etwa die Fragen, (1) ob es weiterhin ein Nebeneinander unterschiedlicher Versicherungssysteme (gesetzliche versus private Krankenversicherungen) geben sollte oder ob in Zukunft alle Bundesbürger in ein Krankenversicherungssystem einzugliedern wären und (2) ob der zur Einnahmensteigerung diskutierte Solidarausgleich über eine „Bürgerversicherung“, eine „Kopfpauschale“ oder eine Mischform aus beiden erfolgen sollte [Allinger, 2006; Rothgang et al., 2005]: Das Konzept der „Bürgerversicherung“ sieht vor, dass alle Bürger einen bestimmten Prozentsatz aus der Summe der eigenen Einkünfte – gegebenenfalls bis zu einer Höchstgrenze – in die Bürgerversicherung einzahlen. Beim Konzept der „Kopfprämie“ oder „Kopfpauschale“ leisten alle Bürger gehaltsunabhängig einen gleichen Betrag, wobei dieser bei Geringverdienern – und gegebenenfalls auch bei Kindern – aus Steuermitteln subventioniert werden würde. Umstritten ist bei der Kopfpauschale, ob privat versicherte Bürger direkt einzubeziehen oder lediglich am Solidarausgleich (kostenlose Mitversicherung der Kinder, Unterstützung für Einkommensschwache) über die Einkommensteuer zu beteiligen wären. Auch Mischformen dieser Grundkonzepte werden immer wieder diskutiert.
Was die Frage nach der Begrenzung der Ausgaben im Gesundheitssystem betrifft, so werden im Wesentlichen drei Strategien differenziert [Groß, 2007; Groß, 2009]: Eine „Rationalisierung“, eine „Rationierung“ und eine „Priorisierung“ beziehungsweise – ex negativo betrachtet – „Posteriorisierung“ [Groß, 2007; Groß, 2009; Groß et al., 2010; Huster, 2006; Müller/Groß, 2009]. Was aber unterscheidet nun konkret die vorgenannten Ausgabenbegrenzungsstrategien?
Rationalisierung
„Rationalisierung“ bedeutet Effizienzsteigerung durch das Ausschöpfen von Wirtschaftlichkeitsreserven, den wirksamen Einsatz von Mitteln und das Vermeiden von Dopplungen (etwa mehrfach angefertigte Röntgenbilder). Unter Rationalisierungsmaßnahmen fallen unter anderem Verbesserungen an den Schnittstellen zwischen ambulanter, stationärer und rehabilitativer Versorgung und Optimierungen der Versorgungsqualität. Einsparungseffekte könnten auch erreicht werden, wenn eine staatliche Behörde die Arzneimittelpreise mit den Pharmakonzernen aushandeln würde. Insgesamt stehen sowohl diagnostische und therapeutische Maßnahmen als auch organisatorische und verwaltungstechnische Abläufe im Blickpunkt. Dabei gilt es, Prozesse und Maßnahmen zu identifizieren, die unwirksam oder weniger wirksam sind als kostengleiche beziehungsweise die lediglich genauso wirksam wie günstigere Alternativen sind.
Maßnahmen der Rationalisierung sind aus wirtschaftlicher, aber auch aus ethischer Sicht kaum umstritten. Die Schwierigkeit besteht darin, dass sich Wirtschaftlichkeitsreserven nicht allesamt und vor allem nicht sofort ausschöpfen lassen. Rationalisierung ist häufig methodisch aufwendig, und Organisationsstrukturen sind extrem träge. Daher führen Rationalisierungsmaßnahmen häufig zu zeitlich versetzten, einmaligen, begrenzten Einsparungen. Zudem reichen Rationalisierungsmaßnahmen allein nach Meinung der meisten Experten nicht, um das deutsche Gesundheitssystem zukunftsfähig zu halten.
Ein Teil der Sachverständigen versteht unter Rationalisierung auch Bemühungen, Kennzahlen für gesundheitsökonomische Evaluationen zu etablieren. Ein bekanntes Beispiel für derartige Bestrebungen sind die viel diskutierten „Quality Adjusted Life Years“ (QALYs) (auch „Qualitätskorrigierte Lebensjahre“). Sie dienen der Bewertung des Nutzens einer medizinischen Maßnahme im Vergleich zur Situation ohne medizinische Maßnahme – ein QALY von 1 bedeutet hierbei ein Jahr in voller Gesundheit. Ziel der Berechnung von QALYs ist es, das Gut Gesundheit in eine messbare Kennzahl zu überführen. Mithilfe von QALYs soll es möglich sein, den mutmaßlichen Nutzen ein- und derselben medizinischen Maßnahme bei verschiedenen Patienten zu quantifizieren. Kritik entzündet sich vor allem am utilitaristischen, sprich am rein am Nutzen orientierten Denkmuster des Ansatzes, aber auch an dem in den QALYs zugrunde gelegten Verständnis von Lebensqualität: Letztere kann von Person zu Person unterschiedlich wahrgenommen werden und entzieht sich – zumindest bis zu einem gewissen Grad – einer objektiven Beurteilung. Ähnliches gilt im Übrigen auch für die jeweiligen Präferenzen und Interessen von Menschen.
Rationierung
Während Rationalisierungsmaßnahmen auf Effizienzsteigerungen abzielen, beschreibt der Begriff „Rationierung“ den Umgang mit beschränkten (Gesundheits-)Gütern – in der Annahme, dass die Nachfrage das finanzierbare Angebot übersteigt. Allerdings wird unter Rationierung teilweise auch das Vorenthalten bestimmter Leistungen verstanden. Die eigentliche Zuweisung oder Verteilung von beschränkten Ressourcen wird als „Allokation“ bezeichnet, die Entscheidung hierüber als Allokationsentscheidung. Formale Allokationskriterien beziehen sich auf das Verfahren der Zuteilung, materielle Allokationskriterien auf medizinische Gesichtspunkte (Welche medizinischen Kriterien – Dringlichkeit?, Nützlichkeit?, Wirksamkeit? – sollten berücksichtigt werden?).
Rationierungsentscheidungen sind in der deutschen (Zahn-)Medizin längst alltägliche Praxis. Aus ethischer Perspektive sind sie weitaus komplexer als Rationalisierungen, so dass es notwendig ist, Differenzierungen vorzunehmen: Zu unterscheiden sind „implizite“ (verborgene) versus „explizite“ (sprich öffentlich bekannte) „Rationierungen“, „weiche“ versus „harte Rationierungen“ sowie „direkte“ versus „indirekte Rationierungen“:
„Implizite Rationierungen“ erfolgen in Deutschland zum Beispiel in Form von Budgetierungen und Diagnosis Related Groups (DRGs), sprich Systemen, mit denen Leistungen an Patienten anhand der Haupt- und Nebendiagnosen für den einzelnen Behandlungsfall und der fallbezogen durchgeführten Behandlungen in Fallgruppen klassifiziert werden. Budgetierungen sind aus ethischer Sicht grundsätzlich sehr kritisch zu sehen: So ahnt der gesetzlich versicherte Hausarztpatient unter Umständen nicht, dass er eine bestimmte Leistung aufgrund einer Budgetierung nicht erhält. In vielen Staaten existieren implizite Rationierungspraktiken [Smith, 1998].
Auch „explizite Rationierungen“, das heißt öffentlich bekannte Leistungseinschränkungen bestimmter medizinisch sinnvoller Leistungen (etwa Keramikverblendkronen an den Zähnen 35 und 45 oder im Molaren- bereich, Reiseschutzimpfungen) sowie der Ausschluss bestimmter Personengruppen von der Bezahlung bestimmter medizinischer Leistungen (wie etwa volljährige Frauen von der Impfung gegen Gebärmutterhalskrebs), sind bereits Realität. Ein plastisches Beispiel aus der Zahnheilkunde bietet auch die Zahnsteinentfernung: Sie wird bekanntlich von den gesetzlichen Krankenkassen seit der Gesundheitsreform von 2004 nur noch einmal pro Jahr übernommen. Diese Festlegung mag aus zahnmedizinischer Sicht kritikwürdig sein – doch immerhin sind explizite Rationierungen öffentlich und transparent und von daher aus ethischer Sicht weniger problematisch als implizite, versteckte Rationierungen.
Kennzeichnend für eine „harte Rationierung“ ist der Umstand, dass nur gewisse Leistungen angeboten werden und ein Mehr an Leistungen grundsätzlich auch bei Zuzahlungsbereitschaft ausgeschlossen ist. Sie ist allerdings in den westlichen Industrienationen kaum (noch) anzutreffen. Bei der „weichen Rationierung“ finden sich ebenfalls nur gewisse (Teil-)Leistungen im Katalog der gesetzlichen Kassen. Allerdings können Patienten hier private Zuzahlungen leisten, um in den Genuss umfassenderer oder höherwertiger Leistungen zu kommen – auch dies kennen wir aus der Zahnheilkunde, etwa in Form von zuzahlungspflichtigem Zahnersatz und in Form von Teilerstattungen. Aus ethischer Sicht ist die harte Rationierung (noch) kritischer zu sehen als die weiche: Sie verstößt gegen die Autonomie des Patienten, der in eine umfassendere oder bessere Therapie investieren möchte, aber sie konterkariert auch in besonders drastischer Weise den (zahn-)ärztlichen Anspruch, seinen Patienten möglichst gute Behandlungen anzubieten.
Ähnlich unterschiedlich sind „direkte“ und „indirekte Rationierungen“ zu bewerten: Eine direkte Rationierung wäre etwa der Ausschluss einer bestimmten Person oder Personengruppe von einer Leistungszuteilung. Ein in der Vergangenheit diskutiertes, wenngleich aus mehreren Gründen nicht umgesetztes Beispiel ist der Ausschluss von Alkoholkranken von der Möglichkeit einer Lebertransplantation unter Verweis auf ein schlechtes medizinisches Outcome. Eine indirekte Maßnahme wäre dagegen etwa die Rationierung über Wartelisten oder Zuzahlungsmodi, wie etwa bei Zahnersatz oder bei Medikamenten, die je nach Situation einen Teil der Patienten von der Inanspruchnahme der Leistung abhalten. Direkte Rationierungen wirken diskriminierend, weil sie bestimmte Gruppierungen persönlich betreffen und das Prinzip der Selbstverschuldung in den Vordergrund rücken. Sie sind folglich aus ethischer Sicht besonders kritikwürdig.
Priorisierung und Posteriorisierung
Der Terminus „Priorisierung“ schließlich bezeichnet die Feststellung einer Vorrangigkeit bestimmter Indikationen, Patientengruppen oder Verfahren vor anderen mit dem Ziel der Bildung einer Rangordnung [ZEKO, 2007], während der eng verwandte Begriff „Posteriorisierung“ die Nachordnung von entbehrlichen Maßnahmen beschreibt – hier geht man vom unteren Ende einer solchen Rangliste aus. Ausgangspunkt bei der Festlegung von Rangfolgen ist die Frage: Welche Gesundheitsziele sind uns am wichtigsten, welche sind weniger wichtig, welche entbehrlich? Am oberen Ende der Rangordnung steht, was nach Maßgabe gesellschaftlich geklärter Ziele, Werte, Normen und Kriterien sowie nach Datenlage und fachlichem Konsens in einem geordneten Verfahren als dringend behandlungsbedürftig oder unverzichtbar eingeschätzt wird, am Ende das, was keiner medizinischen Behandlung bedarf, kaum oder nicht wirkt beziehungsweise mehr schadet als nützt. In vielen europäischen Ländern – etwa in den Niederlanden (1991), Schweden (1992), Finnland (1994) und Dänemark (1996) – wird seit den 1990ern an Priorisierungs- konzepten gearbeitet [Preußker, 2007].
Dabei sind die „horizontale“ und die „vertikale Priorisierung“ zu unterscheiden. Bei der horizontalen Priorisierung wird zwischen verschiedenen Versorgungszielen priorisiert oder zwischen verschiedenen Fachgruppen. Hier gilt es beispielsweise zu klären, wie diabetologische Leistungen einzuordnen sind im Vergleich zu einer Leistung aus dem Bereich der kosmetischen Chirurgie. Eine vertikale Priorisierung erfolgt dagegen etwa innerhalb eines Fachgebiets. Ein Beispiel aus der Kardiologie ist die Beurteilung der Frage, welche Leistung bei einer Herz-insuffizienz unverzichtbar und dringlich, welche Leistung weniger dringlich, aber immer noch wichtig und welche Maßnahme unwichtig oder gar schädlich ist.
Im Gegensatz zur Rationierung steht im Mittelpunkt einer Priorisierung also die Erarbeitung von Ranglisten. Es handelt sich mithin um eine – aus ethischer Sicht wichtige und richtige – vorangestellte gedankliche Klärung und Feststellung von Vor- und Nachrangigkeiten in der medizinischen Versorgung. Unglücklicherweise wird der Begriff „Rationierung“ vor allem in Deutschland häufig mit „Priorisierung“ gleichgesetzt. Doch während bei Rationierungsentscheidungen bestimmte Untersuchungs- und Behandlungsmethoden vorenthalten werden, werden diese bei Priorisierungsmaßnahmen zueinander ins Verhältnis gesetzt. Priorisierung führt somit zu wert-, ziel- und kriterienbasierten Versorgungsempfehlungen, ohne (Allokations-)Entscheidungen vorwegzunehmen. Priorisierung ist somit ein sinnvolles Instrument, um das Thema einer transparenten und vernünftigen Ressourcenverteilung im deutschen Gesundheitssystem in die gesellschaftspolitische Diskussion einzubringen.
Univ.-Prof. Dr. med. Dr. med. dent. Dr. phil. Dominik GroßInstitut für Geschichte, Theorie und Ethik der MedizinMedizinische Fakultät undUniversitätsklinik der RWTH AachenWendlingweg 252074 Aachen