Die Wahrheit des anderen
Wie kann aus den kleinen und großen Kämpfen um das recht Haben, um den Anspruch, die einzige, allgemeingültige Wahrheit zu besitzen, ein wechselseitiges Verstehen und Verständnis werden, fragte der renommierte Forscher. Für ihn ist eine positive Skepsis, aber auch eine Offenheit gegenüber neuen Sicht-weisen notwendig, um Dogmen zu entgehen. Pörksen trug vor, dass Menschen in der Lage seien, „Wahrheits-Illusionen“ zu entwickeln, die sie „blind“ machen gegenüber anderen Wahrnehmungen (ihrer Mitmenschen). Das in der Medizin als Anton-Syndrom bekannte Phänomen bewirke, dass tatsächlich Erblindete ihr Blindsein leugnen und sich so verhalten, als könnten sie sehen. Weiter gedacht heißt das für Pörksen, dass Menschen generell sowohl im gesellschaftlichen Kontext als auch als soziale Wesen etwas als wahr erachten können, was der realen Wirklichkeit gegenüber zwar nicht standhält, vom Betroffenen aber als absolut wahr erachtet wird.
So begünstige etwa der Glaube an Autoritäten und Expertentum, der an die Stelle der eigenen Überzeugungen, der eigenen Intuition und Zweifel tritt, dieses Phänomen. „Autoritäten wirken einschüchternd und unterwerfend“, so Pörksen. Hinzu komme ein Dämonisierungsprinzip, das Skepsis und Zweifel vertreibt und verteufelt. Dies komme etwa in Sekten oder totalitären Kulturen mit streng hierarchischen Strukturen zum Ausdruck. Oft poche man dabei auf eine spezielle Wahrheit, für die man Exklusivität reklamiert.
Ignoranz versus Neugier
Als Beispiel nannte Pörksen etwa den Attentäter des Massakers vom 11. September 2001, Mohammed Atta, der eines der Flugzeuge in die New Yorker Twin Towers steuerte. Von ihm und anderen Gesinnungsgenossen der Selbstmordattentate, seien Unterlagen gefunden worden, in denen beschrieben sei, wie man sich rüstet, um eine derartige Grausamkeit zu rechtfertigen. Die Aufzeichnungen dokumentierten, so Pörksen, lauter kleine Schritte voller Dämonisierungen und dem völligen Ausblenden von Zweifeln auf dem Weg zum Attentat. „Es ist ein Dokument der geistigen Isolation und eine religiös überhöhte Selbstermächtigung zur Gewalt.“
Die Erschaffung und Erhaltung der Wahrheits-Illusion basiere auch darauf, dass Einwände unbeachtet gelassen werden. Deutlich sei dies etwa bei der Veröffentlichung der „Hitler- Tagebücher“ in der Illustrierten Stern geworden. Systematisch seien hier redaktionsintern berechtigte Zweifel an der Echtheit der Dokumente geleugnet worden. Das Ergebnis seien Erblindungs-Ursachen allgemeiner Natur. Die eigene Blindheit sei Teil unseres sozialen Wesens und dem Menschen immanent. Ihre Wirkungsweise entfalte sich, wenn man der eigenen, subjektiven Wahrheit den Anschein des Allgemeingültigen gibt. „Was wir aber brauchen, ist der Abschied vom Prinzipiellen, das Ende des Anspruchs, meine Wirklichkeit sei die Wahrheit aller“, sagte der Forscher. Es gehe im sozialen Kontext nicht um grundsätzliche und allgemeingültige Wahrheiten, befand Pörksen. Um die eigene Erblindung zu umgehen, müsse man immer die Möglichkeit des Andersseins mitdenken.
Vor der mit viel Beifall bedachten Rede Pörksens konnte der Direktor der Akademie, Prof. Dr. Winfried Walther, in einem offiziellen Akt die Schlüssel für den Neubau der Fortbildungsakademie in Empfang nehmen. Dabei zeigte sich der Präsident der Bundeszahnärztekammer, Dr. Peter Engel, in einem Grußwort überzeugt, dass die Akademie weiterhin Fortbildungsveranstaltungen auf höchstem Niveau anbieten wird.