Mehr als nur Schweigen
Die (zahn-)ärztliche Schweigepflicht oder Verschwiegenheitspflicht gehört zu den ältesten Prinzipien der Heilkunde [Groß, 2012]. Während andere normative Prinzipien wie die Beachtung der Patientenautonomie oder die ausdrückliche Gewährung von Patientenrechten erst in den vergangenen Jahrzehnten zu allgemeiner Anerkennung gelangt sind [Beauchamp/Childress, 2009], findet sich die ärztliche Schweigepflicht bereits im Hippokratischen Eid und reicht somit bis in die vorchristliche Zeit zurück. Im Hippokratischen Eid heißt es an ent- sprechender Stelle in moderner deutscher Übersetzung [Hippokratischer Eid, 1994]: „Was ich bei der Behandlung oder auch außerhalb meiner Praxis im Umgang mit Menschen sehe und höre, das man nicht weiterreden darf, werde ich verschweigen und als Geheimnis bewahren. Wenn ich diesen Eid erfülle und nicht breche, so sei mir beschieden, in meinem Leben und in meiner Kunst voranzukommen, indem ich Ansehen bei allen Menschen für alle Zeit gewinne; wenn ich ihn aber übertrete und breche, so geschehe mir das Gegenteil.“
Tatsächlich zählt die Schweigepflicht früher wie heute zu den Grundpfeilern der Arzt- Patient-Beziehung. Sie ist definiert als die rechtliche Verpflichtung von (angehenden) (Zahn-)Ärzten, ihnen anvertraute Patientengeheimnisse nicht an Dritte weiterzugeben. Dabei gilt der zur Verschwiegenheit Verpflichtete als sogenannter „Geheimnisträger“, der zu Schützende als sogenannter „Geheimnisherr“. Der Patient öffnet sich seinem Behandler in der Erwartung, dass dieser sein Vertrauen rechtfertigt und seine Geheimnisse bewahrt.
Auch Daten müssen geschützt werden
Die Schweigepflicht ist eng mit dem Datenschutz verknüpft, da sie sich nicht nur auf anvertraute Geheimnisse erstreckt, sondern auch auf andere personenbezogene Daten wie zum Beispiel schriftliche Mitteilungen des Patienten, Patientenbefunde und sonstige patientenbezogene Aufzeichnungen [Parzeller et al., 2007; Ziegler/Gaidzik, 2007]. Der Begriff „Datenschutz“ steht seinerseits für den Schutz vor missbräuchlicher Verarbeitung personenbezogener Daten und damit für die Überzeugung, dass jedem Mensch grundsätzlich selbst die Entscheidung zusteht, wem in welchem Kontext und Umfang welche seiner persönlichen Daten zugänglich sein sollen. Insofern dient die Schweigepflicht nicht allein dem Schutz der Privatsphäre eines Patienten, sondern garantiert zugleich dessen Recht auf „Informationelle Selbstbestimmung“. Letzteres besagt wiederum, dass allein der Patient bestimmt, wer über seine Angelegenheiten informiert werden darf und welche Informationen weitergegeben werden. Das Prinzip der informationellen Selbstbestimmung ist Ausdruck des allgemeinen Persönlichkeitsrechts. Es wurde vom Bundesverfassungsgericht im sogenannten Volkszählungsurteil 1983 als Grundrecht anerkannt [Simitis, 1984].
Die Verschwiegenheitspflicht betrifft nicht nur den lebenden Patienten, sondern reicht über dessen Tod hinaus. Der Schweigepflicht unterliegen im Übrigen gemäß § 203 des StGB (Verletzung von Privatgeheimnissen) neben (Zahn-)Ärzten auch Angehörige anderer „heilbehandelnder“ Berufe. Ein Verstoß gegen die Schweigepflicht ist unter den Voraussetzungen des § 203 StGB Abs. 1 strafbar (Androhung von Geldstrafe oder Haft bis zu einem Jahr). Daneben drohen berufs- beziehungsweise standesrechtliche Sanktionen.
Schweigepflicht zwischen Recht und Ethik
Schon aus den oben skizzierten Merkmalen der Schweigepflicht lässt sich ableiten, dass letztere nicht nur eine rechtliche, sondern auch eine ethische Dimension hat. Sie berührt die Frage, ob ein (Zahn-)Arzt vertrauenswürdig ist, und ebendiese Vertrauenswürdigkeit gilt als Grundvoraussetzung für ein erfolgreiches therapeutische Bündnis zwischen (Zahn-)Arzt und Patient.
Tatsächlich gilt die Beachtung der Schweigepflicht heutzutage als Bringschuld eines jeden verantwortlichen (Zahn-)Arztes. Sie gehört deshalb auch zum Kernbereich des Berufsethos. In der am 10. Mai 2010 verabschiedeten Musterberufsordnung der Bundeszahnärztekammer ist dieses traditionelle Gebot beispielsweise in § 7 thematisiert. Dort heißt es unter der Überschrift „Verschwiegenheit“ [Bundeszahnärztekammer, 2010]:
„(1) Der Zahnarzt hat die Pflicht, über alles, was ihm in seiner Eigenschaft als Zahnarzt anvertraut und bekannt geworden ist, gegenüber Dritten Verschwiegenheit zu wahren.
(2) Der Zahnarzt ist zur Offenbarung befugt, soweit er von dem Betroffenen oder seinem gesetzlichen Vertreter von der Schweigepflicht entbunden wurde oder soweit die Offenbarung zum Schutze eines höheren Rechtsguts erforderlich ist. Gesetzliche Aussage- und Anzeigepflichten bleiben davon unberührt.
(3) Der Zahnarzt hat alle in der Praxis tätigen Personen über die gesetzliche Pflicht zur Verschwiegenheit zu belehren und dies zu dokumentieren.“
Schweigepflichtig im Sinne des § 203 StGB ist immer die betreffende Heilperson und nicht etwa die Institution, in der er tätig ist. Dementsprechend kann die Schweigepflicht auch nicht durch eine Weisung vorgesetzter Personen angetastet oder gar außer Kraft gesetzt werden. Das heißt, ein Assistenzzahnarzt ist auch dann an die Schweigepflicht gebunden, wenn der vorgesetzte Oberarzt oder Klinikleiter eine andere Verhaltensweise „anordnet“.
Die Schweigepflicht gilt auch gegenüber den Angehörigen des Patienten (auch bei adoleszenten Minderjährigen, wobei hier Einsichtsfähigkeit und Alter zu berücksichtigen sind), gegenüber Heilpersonen, die nicht unmittelbar an der Behandlung des Patienten beteiligt sind, sowie gegenüber anderen Dritten. Dazu gehören zum Beispiel Vertreter von Behörden, Arbeitgebern, Versicherungsgesellschaften oder Medien. Die Schweigepflicht wird flankiert vom Recht zur Zeugnisverweigerung vor Gericht (§ 383 ZPO im Zivilverfahren und § 53 StPO im Strafverfahren).
Ausnahmefälle
Nur in Ausnahmefällen ist es rechtlich möglich – und unter Umständen sogar ethisch geboten –, die Schweigepflicht zu brechen [Groß et al., 2011b; Ziegler/Gaidzik, 2007]. In diesen Fällen spricht man von einer „Offenbarungsbefugnis“ oder gar von einer „Offenbarungspflicht“: Erstere erlaubt es der betreffenden Heilperson, ein Patientengeheimnis rechtmäßig preiszugeben (§ 34 StGB). Eine Offenbarungsbefugnis stellt ein Recht, aber keine Pflicht dar. Offenbarungspflichten – das heißt die Verpflichtung, ein Patientengeheimnis offenzulegen – bestehen nur in seltenen Ausnahmen, namentlich dann, wenn Leib und Leben eines Menschen direkt und akut gefährdet sind und durch eine Offenbarung (weitere) Schäden abgewendet werden können [Parzeller et al., 2007; Ziegler/Gaidzik, 2007].
Bei den folgenden Fallkonstellationen ist eine (zahn-)ärztliche Offenbarungsbefugnis – und teilweise sogar eine Offenbarungspflicht – gegeben:
• Der Patient erteilt seine Einwilligung zur Weitergabe persönlicher Daten beziehungsweise Informationen. Dieses Einverständnis kann ausdrücklich oder stillschweigend erfolgen.
Beispiele: (1) Eine Zahnärztin überweist ihren Patienten gemäß Absprache an einen Kieferchirurgen zur Entfernung eines Weisheitszahns und übermittelt dem betreffenden Kieferchirurgen hierfür die verfügbaren aussagekräftigen Befunde („stillschweigende“ oder „konkludente Einwilligung“).
(2) Ein niedergelassener Zahnarzt möchte bezüglich einer prothetisch herausfordernden Behandlungssituation die Zweitmeinung einer befreundeten, in der Nachbarstadt niedergelassenen Kollegin einholen und erbittet von dem betreffenden Patienten die Erlaubnis, zu diesem Zweck bestimmte Befunde und Daten an die betreffende Kollegin weiterzuleiten („ausdrückliche Einwilligung“).
• Es ist von einer mutmaßlichen Einwilligung des Patienten auszugehen.
Beispiel: Im Anschluss an die notärztliche Erstversorgung einer bewusstlos aufgefundenen Patientin mit kieferchirurgischem Behandlungsbedarf werden die vor Ort ermittelten Informationen zur Person und die bereits erhobenen Befunde an das Personal der aufnehmenden kieferchirurgischen Klinik weitergegeben.
• Es besteht eine gesetzliche Auskunfts- beziehungsweise Meldepflicht, zum Beispiel gegenüber den Sozialleistungsträgern (Sozialversicherungsrecht) oder gemäß Infektionsschutzgesetz.
Beispiele: (1) Beschäftigte einer Krankenanstalt übermitteln der gesetzlichen Krankenkasse gemäß § 301 SGB V bestimmte patientenbezogene Daten.
(2) Eine Ärztin stellt bei einem Patienten die Verdachtsdiagnose Tollwut (eine meldepflichtige Krankheit) und meldet ihren Verdacht umgehend unter Angabe des Patientennamens gemäß § 6 Abs. 1 Infektionsschutzgesetz.
• Es besteht eine Anzeigepflicht (Offenbarungspflicht) im Zusammenhang mit der Verhütung einer schwerwiegenden Straftat gemäß § 138 StGB.
Beispiel: Ein Patient kündigt gegenüber dem Zahnarzt eine gefährliche Körperverletzung oder eine andere verbrecherische Tat an einer dritten Person an. Der Behandler hält die Aussage für glaubwürdig und informiert deshalb die Polizei unter Angabe des Patientennamens.
• Es liegt die Gefährdung eines höherwertigen Rechtsgutes, das heißt eines rechtlich geschützten Interesses oder ein rechtfertigender Notstand gemäß § 34 StGB vor.
Beispiele: (1) Ein Zahnarzt muss in einem Strafverfahren den Vorwurf eines Behandlungsfehlers (oder zivilrechtliche Schadensersatzansprüche) abwehren und legt zu seiner persönlichen Entlastung patientenbezogene Daten und Befunde vor.
(2) Ein Arzt informiert die Straßenverkehrsbehörde über das schwerwiegende Anfallsleiden eines Patienten. Dieser will nicht auf das Führen eines PKWs verzichten, obwohl der Arzt ihm wiederholt deutlich gemacht hat, dass dies eine erhebliche Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer bedeutet.
(3) Eine Zahnärztin bricht die Schweigepflicht gegenüber einem HIV-positiven Patienten, da dieser sich weigert, seine Ehefrau – gleichfalls Patientin der Zahnärztin – über seine Infektion zu informieren. (In diesem Beispiel besteht im Übrigen eine Offenbarungspflicht).
(4) Eine Zahnärztin entschließt sich, ihre Schweigepflicht zu brechen, nachdem sie konkrete Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung (wiederholte Misshandlungen) in der Familie ihrer Patienten gewonnen hat (§ 34 StGB).
Schweigepflicht und Patientenrechte
Die ärztliche Schweigepflicht gehört zu den Patientenrechten. Unter Patientenrechten versteht man die Rechte von Patienten gegenüber Heilbehandlern, insbesondere gegenüber (Zahn-)Ärzten, sowie gegenüber
Sozialleistungs- und anderen Leistungsträgern im Gesundheitswesen. Sie haben sich im Laufe der vergangenen Jahrzehnte vor allem durch die ständige Rechtsprechung herauskristallisiert. In das öffentliche Bewusstsein ist das Thema vor allem durch die jüngsten Diskussionen um die Verabschiedung eines „Patientenrechtegesetzes“ [PatRG, 2013] gelangt: Besagtes Gesetz wurde 2013 kodifiziert. Es dient dem Ziel, die Position der Patienten gegenüber den Behandlern zu stärken und die Rechtslage überschaubarer zu machen. Zu den wichtigsten Rechten gehören neben der ärztlichen Verschwiegenheit das Recht des Patienten auf Selbstbestimmung, das Recht auf Information über die Diagnose, die voraussichtliche gesundheitliche Entwicklung und die Therapie, das Recht auf Information über die voraussichtlichen Kosten der Behandlung, das Recht auf Aufklärung, das Recht auf sorgfältige Heilbehandlung gemäß „Facharztstandard“, das Recht auf Dokumentation, insbesondere der Diagnose und der Therapie, das Recht auf Akteneinsicht in die Patientenakte, das Recht auf eine Zweitmeinung, das Recht auf freie Arztwahl beziehungsweise (mit Einschränkungen) auf einen Arztwechsel, das Recht auf freie Krankenhauswahl sowie das Recht auf freie Krankenkassenwahl innerhalb der Gesetzlichen Krankenversicherung.
Informations- und Aufklärungspflicht
Ein besondere Bedeutung unter den vorgenannten Patientenrechten kommt der Informationspflicht des Behandelnden zu (§ 630c BGB). Sie beinhaltet die Verpflichtung, dem Patienten alle wesentlichen Umstände der angedachten diagnostischen und/oder therapeutischen Behandlung in verständlicher Weise zu erklären. Dementsprechend spricht man auch von „therapeutischer Aufklärung“ (früher: „Sicherungsaufklärung“). Der Begriff Informationspflicht ist abzugrenzen vom Terminus „Aufklärungspflicht“ (§ 630e BGB): Letztere ist immer auf einen konkreten Eingriff bezogen und wird dementsprechend auch als „Eingriffs- und Risikoaufklärung“, gelegentlich auch als „Selbstbestimmungsaufklärung“ bezeichnet.
Daneben muss der Behandler auch über die finanziellen Folgen einer Maßnahme informieren – ein Sachverhalt, der mit dem Terminus „wirtschaftliche Informationspflicht“ beschrieben wird (§ 126b BGB).
Auch wenn die Informationspflicht des Behandlers zu den Eckpfeilern des Arzt-Patienten-Verhältnisses gezählt wird, gibt es hiervon auch (seltene) Ausnahmen: Von der Pflicht zur Information kann etwa abgesehen werden, wenn die Maßnahme unaufschiebbar ist (notfallmäßige Behandlung) oder wenn erhebliche therapeutische Gründe der Information des Patienten entgegenstehen. Auch bei entsprechenden Fachkenntnissen des Patienten oder bei einem ausdrücklichen Verzicht des Patienten auf eine derartige Unterweisung liegt keine Informationspflicht vor [Patientenrechtegesetz, 2013].
Univ.-Prof. Dr. med. Dr. med. dent. Dr. phil. Dominik GroßInstitut für Geschichte, Theorie und Ethik der MedizinMedizinische Fakultät undUniversitätsklinik der RWTH AachenWendlingweg 252074 Aachen