Die Behandlung einer Gingivavergrößerung
Anamnese
Soziale Anamnese:
Die 1969 geborene Patientin ist Hausfrau, verheiratet und hat keine Kinder.
Familienanamnese:
Familiäre Häufungen von Parodontalerkrankungen und/oder sonstige Gebissanomalien sind nicht bekannt.
Allgemeinmedizinische Anamnese:
Während ihrer Schwangerschaft zu Beginn des Jahres 1992 erlitt die Patientin ein akutes Nierenversagen, das eine Abruptio zur Folge hatte. Infolge der daraufhin bestehenden terminalen Niereninsuffizienz wurde die Patientin zunächst dialysiert. Danach folgten in den Jahren 1992 und 1993 zwei Nierentransplantationen. An Allgemeinerkrankungen bestehen zum Zeitpunkt der Anamnese außer der eingeschränkten Nierenfunktion eine renale Hypertonie sowie eine Anämie (bedingt durch Erythropoetinmangel).
Die Medikation enthält die folgenden Präparate:
• SandimmunR(Cyclosporin A)
• UrbasonR(Methylprednisolon)
• Dilzem retardR(Diltiazem)
• Bayotensin miteR(Nitrendipin)
• LasixR(Furosemid)
Die Patientin leidet unter einer Penicillinallergie. Ansonsten ergaben sich aus der allgemeinen Anamnese keine weiteren Auffälligkeiten.
Spezielle zahnärztliche Anamnese:
Die Patientin wurde 1993 vom Hauszahnarzt an die Uni-ZMK-Klinik überwiesen wegen Schwellungen im Bereich der Mundschleimhaut mit der Verdachtsdiagnose „Gingivahyperplasie“. Die Patientin war teilweise prothetisch versorgt. Bisher war keine systematische Parodontalbehandlung durchgeführt worden. Zahnärztliche Untersuchungen wurden von der Patientin bislang regelmäßig (einmal jährlich) wahrgenommen.
Spezielle Schmerzanamnese:
Die Patientin klagte über Schmerzen und Zahnfleischbluten bei der Nahrungsaufnahme. Ferner gab sie an, seit geraumer Zeit an verstärktem Mundgeruch zu leiden.
Präventionsanamnese:
Die Patientin reinigte ihre Zähne nach eigenen Angaben in der Vergangenheit ein- bis zweimal täglich mit einer Handzahnbürste und fluoridhaltiger Zahncreme. Eine spezielle Zahnzwischenraumreinigung erfolgte nicht.
Mit der sich nach den beiden Nierentransplantationen spontan entwickelnden Gingivavergrößerung hatte die Patientin ihre Mundhygienebemühungen aufgrund der zum Teil massiven Blutungen und der ausgeprägten Schmerzsensation bei taktiler Reizung der Gingiva nach und nach vollständig eingestellt. Die Patientin war Nichtraucherin und hatte bisher nie geraucht.
Ergebnisse des ärztlichen Gesprächs und Wünsche der Patientin an die Behandlung:
Im ärztlichen Gespräch kristallisierten sich die folgenden primären Anliegen der Patientin heraus:
1. Beseitigung der Schmerzen
2. Beseitigung der Blutungen
3. Beseitigung des Foetor ex ore
4. Verbesserung des ästhetischen Erscheinungsbildes (Die Zähne waren aufgrund der massiven Gingivavergrößerung zum Teil nicht mehr sichtbar.)
Ausgangsbefunde
Extraorale Befunde:
Die 24-jährige Patientin war etwa 165 cm groß und von schlanker Statur. Allgemein-und Ernährungszustand waren als gut zu bezeichnen.
Bei der klinischen Untersuchung imponierten ein blasses Hautkolorit, eine Konjunktivitis und eine cortisoninduzierte Hypertrichose.
Es fanden sich keine Asymmetrien des Gesichts oder Hautveränderungen. Die sensiblen und motorischen Gesichtsnerven ließen keine Veränderungen erkennen. Es konnten entzündlich vergrößerte Lymphknoten submandibulär palpiert werden (Durchmesser etwa 2 cm). Die parajugulären Lymphknoten wiesen keine Besonderheiten auf. Die Palpation der Kiefergelenke ergab keine Hinweise auf pathologische Veränderungen.
Intraorale Befunde:
Allgemeine intraorale Befunde:
Die Lippen waren unauffällig. Die Schleimhäute von Rachenring, Mundboden, Zunge, Gaumen und Wangen zeigten keine pathologischen Befunde.
Zahnstatus:
Mit Ausnahme der Zähne 14, 23 und 48 lag ein vollständiges Gebiss vor.
Situation der Zahnhartsubstanzen:
Das Gebiss zeigte keine kariösen Veränderungen. An einzelnen Zähnen fanden sich diskrete Zeichen von Erosionen, Abrasionen und Attritionen. Das Gebiss war frei von traumatisch bedingten Schäden, Form- und Strukturanomalien.
Konservierend-restaurative und prothetisch-restaurative Situation:
Das Gebiss wies zahlreiche zahnärztliche Restaurationen auf, die im Zahnstatus detailliert beschrieben werden. An den Zähnen 36 und 46 lagen infolge von Sekundärkaries und insuffizientem Randschluss erneuerungsbedürftige Amalgamrestaurationen vor.
Endodontische Situation:
Alle Zähne reagierten auf Kältetest (CO2-Schnee) positiv. Es fanden sich keine Farbveränderungen, Lockerungen oder Perkussionsempfindlichkeiten, die auf eine endodontische Erkrankung hätten hindeuten können. Auch die Weichteile waren frei von Rötungen, Schwellungen oder Fistelbildungen.
Parodontale Situation:
Die marginale Gingiva war massiv entzündlich verändert (Rötung und Ödem). Eine Stippelung war nicht mehr zu erkennen. Die Interdentalpapillen waren lappig und wiesen eine fibröse Verdickung auf. Zum Teil waren von den Zähnen nur noch Inzisalkanten beziehungsweise Okklusalflächen sichtbar. Bei der Sondierung, die erst nach antibiotischer Abschirmung erfolgen durfte (RulidRRoxithromycin zweimal 300 mg), kam es generalisiert zu massiven Blutungen. Es fanden sich massiv weiche und insbesondere im Unterkiefer-Frontzahnbereich harte Beläge. Die Sondierungstiefenlagen vorwiegend im Bereich zwischen 4 mm und 9 mm, vereinzelt wurden auch bis zu 11 mm gemessen. An den Zähnen 27 mesiopalatinal und 26 distopalatinal lag eine Furkationsbeteiligung I. Grades vor, an den Zähnen 16 und 17 jeweils distopalatinal eine Furkationsbeteiligung II. Grades. Pathologische Zahnbeweglichkeiten konnten nicht festgestellt werden.
Funktionsbefunde:
Die klinische Funktionsuntersuchung blieb ohne pathologische Befunde.
KFO-Befunde:
Die Verzahnung der Patientin war neutral. Die Lücke in Regio 23 hatte eine Breite von 5 mm. Die gesamten Ober- und Unterkieferfronten wiesen lückige Zahnstellungen auf.
Befunde zum Aussehen:
Sowohl subjektiv (seitens der Patientin) als auch objektiv (seitens des Zahnarztes) lag infolge der massiven Gingivavergrößerung eine erhebliche Beeinträchtigung des Aussehens vor.
Röntgenbefunde:
Der Röntgenbefund ergab sich aus der Auswertung des bei Aufnahme der Patientin angefertigten Orthopantomogramms. Die Kiefergelenke stellen sich symmetrisch und regelgerecht dar. Die Kieferhöhlen erscheinen gut pneumatisiert. Es zeigten sich metallische Verschattungen im Sinne von Amalgamrestaurationen an den Zähnen 17, 46, 47, 36, 37. Die Zähne 16 und 26 weisen metallische Verschattungen mit einer röntgenopaken Begrenzung im Sinne von metallkeramischen Kronen auf. Vertikaler Knochenabbau findet sich an den Zähnen 17 distal und mesial, 16 distal und mesial, 15 distal, 25 distal, 26 mesial und distal, 27 mesial und distal, 36 distal, 37 mesial und distal, 47 mesial, 46 distal. Die Zähne 16, 27, 37, 38 und 47 weisen sub-gingivale Konkremente auf.
Allgemeinmedizinische Befunde:
Die eingeschränkte allgemeinmedizinisch-internistische Situation der Patientin war aus der Anamnese und Arztbriefen hinlänglich bekannt. Es gab keine Veranlassung für eine weitergehende allgemeinmedizinische Untersuchung. Die zahnmedizinische Befunderhebung verlief ohne jegliche Komplikationen. Es ergaben sich keine Hinweise, die auf eine eingeschränkte Behandelbarkeit hätten schließen lassen (wie Würgereiz, reduzierte Mundöffnung und mehr).
Foto- und Modelldokumentation:
Der Ausgangsbefund wurde fotografisch dokumentiert. Außerdem wurden Situationsmodelle angefertigt.
Diagnosestellung und vorläufige Prognose
Diagnosen
• medikamentös bedingte fibröse Gingivavergrößerung
• generalisierte aggressive Parodontitis
• insuffiziente Restaurationen an den Zähnen 36 und 46 mit Sekundärkaries
Risikoabschätzungen / vorläufige prognostische Beurteilungen:
Neben der ästhetisch stark beeinträchtigenden Situation lag das Risiko im Fall einer unterbleibenden Therapie für die Patienten vor allem in der Zunahme der parodontal-gingivalen Infektion mit einer möglicherweise progredienten irreversiblen Zerstörung des Zahnhalteapparats und in rezidivierenden Bakteriämien ausgelöst zum Beispiel durch Nahrungsaufnahme [Wilson et al., 2007] mit den damit verbundenen Risiken von Allgemeininfektionen.
Behandlung
Behandlungsziele:
• Beseitiung der Gingivavergrößerung
• Beseitigung der gingival-parodontalen Infektion
• Wiederherstellung der Hygienefähigkeit des Gebisses
• Behandlung der generalisierten aggressiven Parodontitis
• Beseitigung von Sekundärkaries an den Zähnen 36, 46
Behandlungsplanung:
• Systematische PAR-Therapie:
1. antiinfektiöse Therapie
2. Reevaluation
3. chirurgische Therapie (interne und externe Gingivektomie)
4. unterstützende Parodontitistherapie (UPT/Recall)
5. restaurative Neuversorgung an den Zähnen 36, 46
• Behandlungsalternativen (mit Nutzen- Risiko-Abwägung): keine
Aufklärung, Beratung, weiterführendes ärztliches Gespräch über die geplanten Maßnahmen:
Der Patientin wurden die Vor- und Nachteile der geplanten Behandlungsschritte ausführlich erläutert. Ebenso wurde mit der Patientin die Prognose im Fall des Ausbleibens einer adäquaten Therapie erörtert. Die Patientin wünschte nach eingehender Beratung und Aufklärung die Durchführung der geplanten Maßnahmen.
Durchgeführte Behandlungsmaßnahmen, Systematische Parodontalbehandlung
Antiinfektiöse Therapie:
Die antiinfektiöse Behandlung wurde in der Zeit vom 31.1.1994 bis zum 17.3.1994 durchgeführt. Für jede Sitzung war eine prophylaktische antibiotische Abschirmung erforderlich. Der Patientin wurden dabei die Bedeutung bakterieller Plaque in Ätiologie und Pathogenese einer entzündlichen Parodontalerkrankung sowie insbesondere die Ätiologie der medikamentös bedingten Gingivavergrößerung erläutert. Zur Eliminierung bakterieller Beläge erlernte sie die modifizierte Bass-Technik, wozu ihr die Verwendung einer multi-tufted Kurzkopfzahnbürste empfohlen wurde. Zur Reinigung der Approximalräume wurden Zahnzwischenraumbürstchen vorgeschlagen. In jeder Sitzung wurden Mundhygieneindizes (GBI [Ainamo Bay, 1975], PCR [O‘Leary et al., 1972]) zur Motivation und Verlaufskontrolle erhoben. Im Zuge professioneller Zahnreinigungen wurden harte und weiche supra- sowie erreichbare subgingivale Zahnbeläge entfernt. Zum Abschluss eines jeden Termins fand eine lokale Fluoridierung statt. Es folgt die tabellarische Auflistung der Mundhygieneindizes während der antiinfektiösen Therapie:
Parodontalchirurgische Behandlung:
Die Korrekturphase der systematischen Parodontalbehandlung fand ebenfalls unter prophylaktischer antibiotischer Abschirmung zwischen dem 10.08.1994 und dem 20.02.1995 statt:
10.08.94: externe Gingivektomie an den Zähnen 12, 11, 21, 22, 13
11.08.94:interne Gingivektomie/Lappenoperation an den Zähnen 15, 16, 17, 18
22.11.94: interne Gingivektomie/Lappenoperation an den Zähnen 44, 45, 46, 47
06.12.94: externe Gingivektomie an 24, 25; interne Gingivektomie/Lappenoperation an 26, 27, 28
14.02.95: externe Gingivektomie an den Zähnen 43, 42, 41, 31, 32, 33, 34
20.02.95: interne Gingivektomie/Lappenoperation an 35, 36, 37, 38
Die Patientin wurde angewiesen, jeweils eine Woche postoperativ morgens und abends etwa zwei Minuten lang mit 10 ml einer 0,1-prozentigen Chlorhexidindiglukonatlösung zu spülen. Die Quadranten, die noch nicht chirurgisch behandelt worden waren beziehungsweise bei denen die Operation mehr als eine Woche zurücklag, sollte sie in der erlernten Weise pflegen.
Restaurative Behandlung:
Die restaurative Behandlung der Zähne 36 und 46 erfolgte mithilfe von Overlays nach Abschluss der parodontalchirurgischen Behandlung (Zahn 46: 10.06.96 bis 18.06.96; Zahn 36: 23.09.96 bis 27.09.96).
Nachsorge und Recall
Nach der chirurgischen Therapie folgte die Erhaltungsphase, die bei dieser Patientin fast 20 Jahre umfasste. Im Rahmen regelmäßiger Recalltermine wurden Mundhygieneindizes erhoben und eine erneute Motivation und Instruktion zur Aufrechterhaltung einer effektiven individuellen oralen Hygiene durchgeführt. Eine sorgfältige Reinigung sämtlicher Zahnflächen erfolgte mit Handinstrumenten und durch anschließende Politur. In halbjährlichen Abständen wurden die oralen Befunde, der Zahn- und der Parodontalstatus erhoben. Die persistierenden Infektionen an parodontalen Taschen von palatinal und distal an 17 und 18, 27 und 28 palatinal, lingual von 46 sowie mesial und lingual von 47 mit Blutungsneigung bei Sondierung erforderten ein regelmäßiges subgingivales Scaling. Jede Recallsitzung endete mit lokalen Fluoridierungsmaßnahmen. Die GBI-Werte lagen im Durchschnitt bei etwa fünf Prozent, die PCR-Werte bei rund zwölf Prozent ebenso wie das BOP bei rund zwölf Prozent. Die Patientin zeigte durchgehend eine gute Mundhygiene.
Nachsorgebefunde:
Am 27.07.2007 wurde ein Kontroll-Röntgenstatus in Rechtwinkel-Parallel-Technik bestehend aus zehn Einzelzahnfilmen erstellt. Folgende Unterschiede zum Anfangsstatus lassen sich feststellen: Es zeigte sich eine generalisierte Restitution der Lamina dura des Limbus alveolaris, insbesondere in den Regionen 16 und 17 mesial und distal, 26 mesial, 27 distal, 36 distal, 37 mesial, 46 distal, 47 mesial. Die Parodontalspalten der Zähne 17, 26, 27 erscheinen nicht mehr erweitert. Bei den Zähnen 16 mesial, 17 und 27 distal, 37 distal, 46 distal und 47 mesial zeigt sich eine partielle knöcherne Auffüllung der vertikalen Defekte. Die in Abbildung 9 (OPG von 2011) dargestellte Knochenlinie zeigt im Vergleich zu den Vorbefunden kaum Veränderungen.
Erhaltungstherapie:
In den kommenden fast 20 Jahren erfolgten genau 22 Kontrolltermine, sie waren für alle drei bis sechs Monate terminiert, zu denen die Patientin immer auch pünktlich erschien.
Epikrise und Prognose
Bei der vorliegenden Patientin lag sowohl eine Gingivavergrößerung als auch eine generalisierte aggressive Parodontitis vor. In Anbetracht der allgemeinmedizinischen Anamnese und der aktuellen Medikation der Patientin ließen sich die entzündlichen Veränderungen im Bereich der Gingiva eindeutig als medikamentös induzierte Gingivavergrößerung diagnostizieren.
Für die Diagnose „aggressive Parodontitis“ spricht vor allem die Tatsache, dass es sich um eine relativ junge Patientin handelt, denn bei der Erstvorstellung war die Patientin 24 Jahre alt. Wenn man davon ausgeht, dass die Parodontitis um die Pubertät ausgebrochen ist, muss sich der Knochenabbau bei den Molaren, der 50 Prozent der Wurzellänge ausmacht, innerhalb von etwa zehn Jahren ereignet haben, was einer raschen Progression entspricht. Zum angenommenen Zeitpunkt des Ausbruchs der Erkrankung war sie auch noch klinisch gesund. Zum akuten Nierenversagen war es erst ein Jahr vor Erstvorstellung und Befunderhebung gekommen. Und eine familiäre Häufung von Parodontitis in der Familie ist nicht bekannt. Die Diagnose „generalisierte aggressive Parodontitis“ ergab sich daraus, dass außer an den Schneidezähnen und an den ersten Molaren mindestens an vier weiteren Zähnen parodontale Defekte gefunden werden konnten [Armitage, 1999; DGP, 2002].
Die wichtige ätiopathogenetische Bedeutung der supra- und der subgingivalen Plaque für die entzündlichen Parodontalerkrankungen ist in der Literatur vielfach beschrieben. Beginnend seit Miller wird diskutiert, ob die Gesamtmenge der Plaque (unspezifische Plaquehypothese), bestimmte periopathogene Keime (spezifische Plaquehypothese) oder das komplizierte Zusammenspiel bestimmter Mikroorganismen mit speziellen prädisponierenden Wirtsfaktoren (Hypothese der opportunistischen Infektion) für die Entstehung einer Parodontitis verantwortlich sind. Zurzeit scheint die Hypothese der opportunistischen Infektion das beste Erklärungsmodell für die chronische Parodontitis zu liefern. Mit dieser Hypothese lässt sich insbesondere das gleichzeitige Vorhandensein lokalisierter tiefer parodontaler Destruktionen und nahezu intakter Parodontopathien in einer Dentition, also die Stellen-Spezifität parodontaler Läsionen, erklären. Zur Erklärung der für die aggressive Parodontitis relevanten Pathomechanismen wird neben den mikrobiologischen Faktoren zunehmend auch die sogenannte Host-Response herangezogen. Hierbei geht man davon aus, dass für das Zustandekommen einer aggressiven Parodontalerkrankung nicht nur ein entsprechender aggressiver parodontalpathogener Keim notwendig ist, sondern auch möglicher-weise patientenspezifische immunologische Defekte, die die lokale Abwehr im Bereich des Parodontiums einschränken.
Für die medikamentös bedingte Gingivavergrößerung ist die Potenz einzelner Pharmaka (vor allem Diphenylhydantoin, Cyclosporin A, Nifedipin) verantwortlich, in bestimmten Fibroblastenuntergruppen eine Überproduktion kollagener Fasern (gingival overgrowth) zu induzieren. Dieser Effekt, der nur bei bestimmten Patienten – sogenannten „respondern“ – auftritt, wird durch eine plaquebedingte Entzündung verstärkt. Die Verwendung der weit verbreiteten Bezeichnung „Gingivahyperplasie“ für das beschriebene Krankheitsbild ist nach Auffassung von Schroeder [1991] nicht korrekt und entspricht seit 2002 auch nicht mehr der gültigen Nomenklatur [DGP, 2002], da im histologischen Bild keine echte Hyperplasie im Sinne einer vermehrten Zelldichte gefunden werden konnte. Im vorliegenden Fall wurden von der Patientin sogar drei Medikamente eingenommen, von denen jedes für sich bereits als potenzieller Auslöser einer Gingivavergrößerung gesehen werden kann (Cyclosporin A zur Immunsuppression nach Transplantation, Bayotensin und Diltiazem als Calciumantagonisten zur Behandlung der renalen Hypertonie). Warum wurde vor Beginn der antiinfektiösen Therapie keine mikrobiologische Diagnostik durchgeführt, obwohl die Diagnose „aggressive Parodontitis“ gestellt worden war? Nach den gemeinsamen Stellungnahmen der DGZMK und der DGP [Flemmig et al., 1998; Beikler et al., 2005] stellt das Vorliegen einer agressiven Parodontitis eine Indikation zur Durchführung einer mikrobiologischen Diagnostik dar, die Informationen über das Vorliegen spezieller parodontalpathogener Keime liefern soll, die gegebenenfalls eine unterstützende Antibiotikatherapie notwendig machen [Eickholz et al., 2004]. Zum Zeitpunkt der Therapie dieser Patientin waren diese Stellungnahmen noch nicht publiziert und es gab noch keine klaren Empfehlungen zum Einsatz mikrobiologischer Tests in der parodontalen Therapie. Außerdem muss berücksichtigt werden, dass die Patientin regelmäßig für Maßnahmen, die mit Bakteriämien einhergingen, antibiotisch abgeschirmt wurde und dass das Ergebnis eines mikrobiologischen Tests dadurch hätte verfälscht werden können.
Auch ohne die zusätzliche parodontaltherapeutische Gabe von Antibiotika führte die antiinfektiöse Therapie zu einer Reduktion der marginalen Entzündung und der fibrösen Gingivavergrößerung, die Parodontalchirurgie zur weitgehenden Elimination der parodontalen Taschen.
Die parodontale Behandlung beseitigt nicht die Ursache der Gingivavergrößerung und kann daher auch ein Rezidiv nicht sicher verhindern. Durch eine Beseitigung der entzündlichen Symptome können die für die Patientin belastenden Beschwerden (Schmerzen bei der Nahrungsaufnahme, Blutung, Foetor ex ore) aber weitgehend beseitigt werden. Unabhängig davon gelang es, durch die parodontale Behandlung die aggressive Parodontitis im Seitenzahnbereich erfolgreich zu therapieren.
Ein zügiger Ablauf der parodontalchirurgischen Behandlung war nicht im üblichen Ausmaß möglich, da bei der Patientin keine ausreichend lang wirkende Anästhesie erzielbar war (Wirkungsdauer einer Ampulle UDS-forte: etwa fünf bis zehn Minuten). Infolge der starken Blutungen bei bestehender Anämie musste die Terminierung der verschiedenen chirurgischen Sitzungen in Absprache mit dem Internisten erfolgen.
Die Patientin war zunächst über einen Zeitraum von fast zehn Jahren in engmaschiger Kontrolle, ohne dass bis zu diesem Zeitpunkt eine weitere chirurgische Intervention notwendig gewesen wäre. Von 2004 bis 2007 nahm die Patientin nicht mehr am parodontologischen Recall teil, da sich ihr allgemeingesundheitlicher Zustand zunehmend ungünstig entwickelte. Im Herbst 2007 suchte die Patientin dann erneut die Sektion Parodontologie auf, da in der Zwischenzeit einige leichte lokale Rezidive mit erneuter Gingivavergrößerung vorlagen und die Patientin kurz vor einer dritten Nierentransplantation stand. Die letzte unterstützende Nachsorge fand im August 2012 statt.
Abschließend kann man konstatieren, dass durch eine parodontale Behandlung und durch eine Mundhygieneoptimierung das Entstehen von Gingivavergrößerungen zwar nicht verhindert, aber dennoch entscheidend verlangsamt werden kann. So wurde eine Rezidivbehandlung an einzelnen Stellen erst nach einem Zeitraum von etwa 14 Jahren erforderlich.
Prof. Dr. Dr. Ti-Sun KimSektion ParodontologiePoliklinik für ZahnerhaltungskundeKlinik für Mund-, Zahn- und KieferkrankheitenUniversitätsklinikum HeidelbergIm Neuenheimer Feld 40069120 HeidelbergTi-Sun.Kim@med.uni-heidelberg.de
Prof. Dr. Peter EickholzPoliklinik für ParodontologieZentrum der Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde (Carolinum)Wolfgang-Goethe-UniversitätTheodor-Stern-Kai 760590 Frankfurt