Hyperplasie des Processus coronoideus
Ein 28-jähriger Patient wurde beim Vorliegen einer skelettalen Dysgnathie vom niedergelassenen Kieferorthopäden zur Erstberatung in der Dysgnathiesprechstunde vorgestellt.
Im Rahmen des Gesprächs berichtete der Patient über eine schmerzfreie, jedoch eingeschränkte Mundöffnung, die er bisher aber nicht hatte untersuchen lassen. Die spezielle Anamnese lieferte keine Hinweise für eine mögliche Ursache der eingeschränkten Mundöffnung. Während der klinischen Untersuchung konnte eine Mundöffnung von 20 mm (SKD) gemessen werden (Abbildung 1).
Die Kiefergelenke waren während der Mundöffnungsbewegung tastbar, wobei bei maximaler Mundöffnung ein Knacken beidseits auffällig war. Am stärksten war das Knacken intraoral, disto-cranial der Crista zygomatico-alveolaris zu tasten.
Bei der Befundung des Orthopantomogramms fielen hyperplastische, weit nach cranial extendierende Processus (Proc.) coronoidei beidseits auf (Abbildung 2).
In der erweiterten radiologischen Diagnostik mittels CT zeigten sich symmetrisch angelegte Kiefergelenke beidseits ohne arthrotische Veränderungen oder signifikante Deformierungen. Ein Hinweis auf Luxation ergab sich nicht. In den axialen Schichten stellten sich beide Proc. coronoidei bis hoch in die jeweilige Fossa temporalis dar. In der 3-D-Rekonstruktion imponierten die hyperplastischen Proc. coronoidei beidseits. Diese ragten weit über die Jochbögen hinaus und schränkten dadurch die Mundöffnung ein (Abbildung 3).
Therapeutisch erfolgte in Intubationsnarkose die Osteotomie beider Proc. coronoidei und deren Entfernung (Abbildung 4). Intraoperativ konnte die Mundöffnung auf 39 mm gedehnt werden (Abbildung 5). Abbildung 6 zeigt das postoperative Orthopantomogramm. Der postoperative Heilungsverlauf gestaltete sich regelrecht, so dass der Patient rasch mit regelmäßigen Mundöffnungsübungen (zunächst Spatelübungen) beginnen konnte. Von anfänglich 24 mm (SKD) am ersten postoperativen Tag erreichte der Patient im Verlauf unter Fortführung der regelmäßigen Mundöffnungsübungen und unter manueller Physiotherapie eine Mundöffnung von 34 mm (SKD) (Abbildung 7).
Da bei dem Patienten eine skelettale Dysgnathie mit mandibulärer Retro- und Laterognathie nach links vorliegt, ist zwischenzeitlich die kombinierte kieferorthopädische/kieferchirurgische Behandlung eingeleitet worden. Nach Abschluss der kieferorthopädischen Vorbehandlung mit Dekompensation der Ober- und Unterkieferzähne sowie der Harmonisierung der Zahnbögen beider Kiefer ist die Umstellungsosteotomie im Bereich des Unterkiefers mit Vorverlagerung und Einstellung in die Okklusion geplant.
Dabei gehen wir von einer weiteren Zunahme der Mundöffnung aus.
Diskussion
Die bilaterale oder seltener auch unilaterale Hyperplasie des Proc. coronoideus wird als eine abnorme Vergrößerung des Proc. coronoideus oder auch des Proc. muscularis genannt. Histologisch sind diese aus regulärer Knochenmatrix gebildet. Sie wurde erstmals 1853 von Langenbeck beschrieben [Ferro et al., 2008; Wenghoefer et al., 2006]. Die Hyperplasie tritt meistens gegen Ende der Pubertät beidseitig auf und betrifft vornehmlich männliche Patienten (82 Prozent) [Costa et al., 2012; Wenghoefer et al., 2006]. Klinisch zeigt sich meist eine schmerzfreie, progressive Einschränkung der Mundöffnung. Als „Jacob’s disease“ wird die Hyperplasie des Proc. coronoideus mit Bildung einer synovialen Gelenkformation zwischen dem Jochbein/-bogen und dem Processus bezeichnet [Ferro et al., 2008]. Die Ätiologie ist bisher noch unbekannt. Mehrere Hypothesen wurden vorgeschlagen [Costa et al., 2012; Ferro et al., 2008; Wenghoefer et al., 2006]:
• muskuläre Hyperaktivität des Musculus temporalis
• hormonal oder genetisch bedingt
• persistierende Wachstumszentren des Knorpels
• traumatisch
Die Diagnose fundiert auf einer ausführlichen und genauen Anamnese, der klinischen Untersuchung und den bildgebenden Verfahren (Orthopantomogramm und DVT oder CT).
Die Therapie der Hyperplasie des Proc. coronoideus besteht in der vollständigen Entfernung des Proc. muscularis (Coronoidektomie) oder der Durchtrennung an seiner Basis und Belassen des abgetrennten Processus in situ (Coronoidotomie) über einen intraoralen Zugang. Postoperativ wird eine physiotherapeutische Behandlung für mindestens zwölf Monate empfohlen [Wenghoefer et al., 2006].
Differenzialdiagnostisch soll ein akutes entzündliches Geschehen mit topografischer Nähe zum Kiefergelenk ausgeschlossen werden. Des Weiteren kann eine Fraktur im Bereich des Collums, des Jochbeins und/oder des Jochbogens zu einer Kieferklemme führen. Weiterhin können durch Strahlentherapie bedingte Kontrakturen ursächlich sein. In seltenen Fällen kann es nach operativer Weisheitszahnentfernung und ausgedehnter postoperativer Schwellung zur Bildung einer Narbenkontraktur kommen. Differenzialdiagnostisch sollte auch an Kiefergelenkserkrankungen wie Diskusverlagerungen (Abbildung 8), Ankylosen und Tumore gedacht werden.
Für die zahnärztliche Praxis soll dieser Fall an die Differenzialdiagnosen einer Kieferklemme erinnern und darauf aufmerksam machen, den diagnostischen Blick auch auf die Proc. coronoidei zu lenken.
Dr. Cristian T. RäderDr. Dr. Mehran MasaeiliDr. Andreas HammacherKlinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie Plastische und Ästhetische OperationenChefarzt Dr. Dr. H. SieberMalteser Krankenhaus St. Johannes-StiftJohannisstr. 2147198 Duisburg-Hombergcristian.raeder@malteser.org