Nur als Ergänzung geeignet
Detlef Lülsdorf, unabhängiger Versicherungsberater in Köln, zum Sinn und Zweck einer Unfallpolice befragt, urteilt so: „Sie ist die Cashcow unter den Versicherungen.“ Circa 27 Millionen Verträge bringen Beiträge in Höhe von 6,5 Milliarden Euro. Die Schadensquote liegt bei nur 60 Prozent, der Gewinn für die Unternehmen ist entsprechend hoch.
Sascha Straub, Versicherungsexperte bei der Verbraucherzentrale Bayern in München, weiß, warum das Geschäft so gut läuft: „Beim Verkauf appellieren die Vertreter an die Emotionen ihrer Kunden. Jeder hat Angst vor den Folgen eines Unfalls und möchte sich rundum absichern. Doch im Schadensfall halten sich die Versicherer viele Hintertürchen offen, um nicht zahlen zu müssen.“ Ob sich eine Unfallversicherung lohnt, hängt von der persönlichen Situation ab. Lülsdorf rät: „Man sollte sich immer die Frage stellen: Wie hoch ist der wirtschaftliche Schaden? Erscheint er nicht tragbar, lohnt es sich, ihn abzusichern.“
Tatsache ist, dass sich pro Jahr mehr als acht Millionen Menschen bei einem Unfall verletzen. Mit 2,7 Millionen geschehen die meisten Unfälle im Haushalt und beinahe ebenso viele während der Freizeit. Bleibende Schäden tragen nur wenige Betroffene davon. Gerade mal zwei Prozent der 7,1 Millionen schwerbehinderten Menschen leiden an den Folgen eines Unfalls. Am häufigsten ist eine Krankheit der Grund für eine Behinderung. Eine Unfallversicherung hilft in diesen Fällen nicht.
Was ein Unfall wirklich ist
Um zu wissen, wann sie zum Zuge kommt, dafür hat die Branche den Begriff Unfall genau definiert. In den Musterbedingungen des Gesamtverbandes der Versicherungswirtschaft GDV heißt es: „Ein Unfall liegt vor, wenn die versicherte Person durch ein plötzlich von außen auf ihren Körper einwirkendes Ereignis unfreiwillig eine Gesundheitsschädigung erleidet.“
Der Versicherte geht in der Regel leer aus, wenn diese Definition nicht Wort für Wort erfüllt ist. So handelt es sich nicht um einen Unfall, wenn der Versicherte beim Gehen einfach umknickt und sich einen Bänderriss zuzieht. Stolpert er aber über ein nicht vorhersehbares Hindernis, akzeptiert die Versicherung dies als Einwirkung von außen. Vor allem aber schränken viele Hürden die Leistung der Versicherung ein. Ein beliebtes Streitthema ist eine Bewusstseinsstörung. Dazu gehören Trunkenheit durch Alkohol und der Einfluss durch Medikamente, Ohnmacht, Herzinfarkt, Schlaganfall oder Sekundenschlaf. Wer zum Beispiel nach einer feucht-fröhlichen Feier mit dem Fahrrad nach Hause fährt, stürzt und sich das Bein bricht, darf nicht unbedingt auf die Unterstützung seiner Unfallversicherung hoffen. Gute Tarife decken Unfälle, die auf einen Schlaganfall oder Herzinfarkt zurückzuführen sind mit ab, allerdings nur die Unfallfolgen nicht die Erkrankung. Ausgeschlossen sind auch die psychischen Dauerfolgen eines Unfalls. Gute Tarife schließen hingegen die Auswirkungen eines Schädel-Hirn-Traumas mit ein.
Um Ansprüche an die Versicherung geltend machen zu können, müssen die Folgen eines Unfalls innerhalb eines Jahres eintreten und innerhalb von 15 Monaten der Versicherung gemeldet werden. Beim Abschluss des Vertrags ist der Versicherte verpflichtet, Vorerkrankungen anzugeben, die gegebenenfalls die Leistungen senken.
Wann sich eine Versicherung lohnt
Klar wird, dass eine Unfallversicherung nur in wenigen Fällen wirklich von Nutzen ist. Sinnvoll ist sie für Menschen, die sich zu Hause und in der Freizeit gegen die finanziellen Folgen eines Unfalls absichern wollen.
Sie schützt nicht bei Krankheiten und kann auf keinen Fall eine Berufsunfähigkeitsversicherung (BU) ersetzen. So sollte auch ein praktizierender Zahnarzt erst einmal prüfen, ob er für den Fall, dass er nicht mehr am Stuhl stehen kann, ausreichend abgesichert ist. Zwar schließt die Leistung des Versorgungswerks eine BU mit ein, doch empfehlen Experten für Praxismanagement wie Patric Feldmann, Geschäftsführer von Feldmann Consulting, eine zusätzliche private Berufsunfähigkeitsversicherung: „Die Leistung des Versorgungswerks entspricht eher der einer Rente bei Erwerbsunfähigkeit. Das ist zu wenig.“
Eine Unfallversicherung macht Sinn, wenn es um die Zahlung eines einmaligen höheren Betrags geht, der zum Beispiel für den krankheitsbedingten Umbau der Wohnung benötigt wird. Ein Zahnarzt, der sich beispielsweise beim Skifahren die Hand oder auch nur einen Zeigefinger bricht und anschließend mit Einschränkungen zu kämpfen hat, kann seinen Beruf nicht mehr in gewohnter Form ausüben mit der Folge, dass auch sein Einkommen sinkt. Seine Unfallversicherung sollte auf jeden Fall eine erhöhte sogenannte Gliedertaxe einschließen. Sie bestimmt, welchen Grad der Invalidität ein Unfallversicherer zum Beispiel beim Verlust eines Fingers anerkennt. Davon hängt die Höhe der Leistung ab.
Verletzungen der Hand und der Finger
Üblich ist etwa beim Verlust des Zeigefingers oder dessen völliger Funktionsunfähigkeit ein Invaliditätsgrad von nur zehn Prozent. Beträgt die vereinbarte Invaliditätssumme 100 000 Euro, gibt es für den maladen Zeigefinger nur 10 000 Euro – für einen Zahnarzt, der mit seinen Händen und Fingern seine Arbeit verrichtet, wohl zu wenig. Er sollte deswegen unbedingt auf einer erhöhten Gliedertaxe bestehen und für den Verlust eines Daumens oder Zeige-fingers die 100-prozentige Auszahlung der Versicherungssumme verlangen.
Einige Versicherungen wie die Allianz, die Deutsche Ärzteversicherung oder die Interrisk bieten dies an. Wer will, kann zusätzlich eine Progression vereinbaren. Dann zahlt die Versicherung im Ernstfall ab einem erhöhtem Invaliditätsgrad von etwa 25 Prozent und mehr, zum Beispiel das Vier- oder Fünffache. Wie hoch die Progression sein sollte, hängt vom Alter und vom Einkommen des Betroffenen ab.
Selbstständige Ärzte können auch freiwillig in die gesetzliche Unfallversicherung ein-treten. Sie kommt ausschließlich für die Folgen eines Arbeitsunfalls auf, zahlt aber meist früher als die private Versicherung, weil sie vor allem an einer möglichst schnellen Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit des Versicherten interessiert ist. Das heißt, sie unterstützt alle Maßnahmen, die die Wiedereingliederung des Unfallopfers ins Arbeitsleben vorantreiben. Die private Unfallversicherung dient vor allem dazu, den Kapitalbedarf nach einem Unfall für zusätzliche Hilfsmittel, den Umbau von Auto oder Wohnung abzudecken.
Bedeutet für den Zahnarzt der Abschluss einer Unfallversicherung eine zusätzliche Absicherung, kann sie für Menschen, denen die Assekuranzbranche eine BU verweigert, ein durchaus notwendiger Schutz gegen die Folgen eines Unfalls sein. So verfügen vor allem ältere Frauen, die sich für ein Leben als Mutter und Hausfrau entschieden und nie im Beruf gearbeitet haben, weder über eine Berufsunfähigkeitsversicherung noch über eine gesetzliche Unfallversicherung.
Die Bedeutung des Alters
Erleiden sie einen Unfall mit bleibenden Behinderungen als Folge, sind sie auf die Zahlung der Versicherung angewiesen. Häufig jedoch zahlen die Gesellschaften nur eine Rente. Gute Tarife erlauben die Wahl zwischen der Zahlung einer einmaligen Summe und der Rente.
Im Alter wirkt sich bei Unfällen häufig die Gebrechlichkeit verschlimmernd auf die Folgen aus. Die Versicherung wird dies nutzen, um ihre Leistungen einzuschränken. Der Bund der Versicherten sagt dazu: „Es besteht ein uneingeschränkter Leistungsanspruch bei altersbedingtem typischem, normalem Verschleißzustand.“ Wer eine Unfallpolice abschließt, sollte unbedingt darauf achten, dass der Vertrag nicht ab einem bestimmten Alter endet.
Älteren Menschen verkaufen die Assekuranzunternehmen gern eine Unfallpolice mit sogenannten Assistance-Leistungen. Dabei handelt es sich um eine Kombination aus privater Unfallversicherung und Dienstleistungen für die häusliche Betreuung. Dazu gehören zum Beispiel ein Menüservice, die Erledigung von Einkäufen oder ein Hausnotruf. Diese Angebote sind mit Vorsicht zu genießen. Denn häufig übernimmt die Versicherung nur die Vermittlung der Dienste, zahlen soll der Kunde selbst. Übernimmt die Versicherung die Kosten, tut sie das meistens nur für die ersten sechs Monate nach dem Unfall.
Der Grund dafür ist, dass bei bleibenden Behinderungen dann die Pflegeversicherung die Aufgaben übernimmt. Infrage kommt eine solche Unfallversicherung für Senioren, die alleine leben, sich mit dem Organisieren von Hilfe überfordert fühlen und niemanden in ihrer Nähe haben, der ihnen nach einem Unfall zur Seite steht. Bei Vertragsabschluss sollten sie darauf achten, dass die wichtigsten Hilfen eingeschlossen sind. Als Helfer fungieren nicht die Versicherungen. Sie beauftragen meistens Hilfsdienste wie Johanniter oder Malteser Hilfsdienst. Wie umfangreich die Unterstützung tatsächlich ausfällt, sollte man vor Vertragsabschluss genau erkunden: Kommt die Putzhilfe zweimal wöchentlich oder nur alle 14 Tage? Zahlt der Versicherer nur die Installation des Notrufs oder auch die monatlichen Gebühren? Wichtig ist auf jeden Fall, dass die Hilfe den Versicherten schnell erreicht. Im Idealfall ist innerhalb von zwei Stunden nach dem Anruf bei der Versicherung alles geregelt.
Absicherung für den Nachwuchs
Das Spiel mit den Emotionen funktioniert bei Unfallversicherungen bestens, wenn es um die Absicherung der Kinder geht. Selbst Kritiker Lülsdorf verschließt sich einer Kinderunfallversicherung nicht gänzlich: „Bei Kindern lassen sich Argumente für den Abschluss einer Unfallversicherung finden.“ Wenn ein Kind aufgrund einer Behinderung sein Leben lang nicht arbeiten kann, müssen die Eltern bis zu ihrem Tod für den Unterhalt aufkommen. Allerdings leiden nur 0,6 Prozent aller Kinder an einer Behinderung, die durch einen Unfall verursacht ist.
Doch zunächst sollte es um die grundsätzliche Absicherung gehen. Um ihre Kinder vor Risiken zu schützen, verfügen die Eltern etwa über eine Risikolebensversicherung und eine Berufsunfähigkeitsversicherung. In Kindergarten und Schule sind die Sprösslinge durch die gesetzliche Unfallversicherung geschützt. Deren Leistung beschränkt sich aber nur auf den Aufenthalt in der Kita und in der Schule sowie auf die Wege dorthin.
Die meisten Unfälle aber geschehen zu Hause und in der Freizeit.
Eine Kinderunfallversicherung sollte über eine möglichst hohe Invaliditätssumme abgeschlossen werden, die für eine lebens- lange Rente ausreicht. Der Bund der Versicherten hat gerechnet: Um eine monatliche Rente von 1 000 Euro ohne Kapitalverzehr zu sichern, benötigt man bei einer jährlichen Verzinsung von drei Prozent und ohne Berücksichtigung steuerlicher Aspekte 400 000 Euro. Wer also eine Versicherungssumme von 200 000 Euro bei Vollinvalidität in Kombination mit einer Progression von 225 Prozent vereinbart, erreicht sein Ziel. Wer ganz auf Nummer sicher gehen will, schließt für sein Kind eine Kinderinvaliditätsversicherung ab. Sie zahlt auch, wenn die Behinderung durch eine Krankheit entsteht. Der Nachteil liegt in den Kosten. Die Beiträge sind mit 200 bis 500 Euro pro Jahr deutlich höher als die Kosten für eine Unfallversicherung.
Zusatzleistungen sollen Attraktivität steigern
Neben den wesentlichen Elementen verkaufen die Vermittler gerne Extras, die den Vertrag angeblich aufwerten. Auf die meisten Zusätze sollte man verzichten. Dazu gehört vor allem die Prämienrückgewähr. Dabei bekommen Kunden, die die Unfallversicherung nicht in Anspruch nehmen, am Ende der Laufzeit ihre Prämien erstattet. Bei genauerem Hinsehen erkennt man, dass der Kunde damit zwei Produkte kauft: die eigentliche Unfallpolice und zusätzlich eine Kapitallebensversicherung. Diesen Risikoschutz lassen sich die Anbieter mit erhöhten Beiträgen bezahlen. Die Renditen sind eher schlecht und die Verluste bei einem vorzeitigen Ausstieg aus dem Vertrag hoch. Wer sich mal wieder den schönen Anpreisungen eines Vermittlers ausgesetzt fühlt, dem helfen vielleicht die mahnenden Worte von Kritiker Lülsdorf: „Man muss sich von dem Gedanken freimachen, dass Versicherungen Geld verschenken.“
Marlene EndruweitFachjournalistin für Finanzenm.endruweit@netcologne.de