Verloren gegangene Esskultur
„Ich finde es immer viel sinnvoller, präventiv zu arbeiten als dann, wenn das Kind schon in den Brunnen gefallen ist“, sagte Wiener anlässlich der Verleihung im Münsteraner Erbdrostenhof. Daher fühle sie sich auch der Apollonia-Stiftung verbunden. Beide verbinde der präventive Ansatz. Erst eine Aufmerksamkeit zu generieren, wenn jemand krank ist, sei nicht richtig. Viel zu oft denke die Gesellschaft aber zu rückwärtsgewandt.Wiener, die nach eigener Aussage als Kind schlechte Zähne hatte, sagte, sie sei froh, irgendwann verstanden zu haben, wie wichtig es sei, frühzeitig etwas für die Zahngesundheit zu tun. Sprichwörter wie „Gut gekaut ist halb verdaut“ und Wendungen wie „sich an etwas die Zähne ausbeißen“ kämen nicht von ungefähr. An den Zähnen und an der Ernährung könne man im Übrigen auf den Zustand der Gesellschaft schließen, so Wiener. Dieser attestiert sie kein gutes Zeugnis. Die Deutschen ernährten sich im Allgemeinen zu schnell, zu industriell und zu fad. Die Ernährungskultur sei grundsätzlich stark gefährdet.
Die Autonomie über den Körper
Im Rahmen ihrer Stiftungsarbeit versuche sie „ein Samenkorn in Kindern zu versenken und ihnen die Autonomie und die Kontrolle über das Intimste und Wichtigste zurückzugeben, was wir je besitzen werden, nämlich den eigenen Körper, die Seele und den Geist“. Der Satz „Du bist, was Du isst“ sei so platt wie wahr, werde aber stetig ignoriert. Schuld seien die Verführungen der Lebensmittelindustrie, die an jeder Ecke lauern. Essen sei permanent und immer verfügbar, Ersatzreligion und Seelentröster. Dabei werde vergessen, dass Essen die Säule der Gesundheit sei. De facto sei die Welt der Ernährung aber sehr komplex geworden und für Verbraucher nicht mehr gut durchschaubar. Geschmäcker würden mittlerweile durch Geschmacksverstärker und Aromastoffe derart manipuliert, dass dies fundamentale Auswirkungen habe. Eine Anekdote: Wiener, die im Rahmen ihrer Stiftungsarbeit Tausende deutsche, vorwiegend urban geprägte Kinder auf Biobauernhöfe vermittelt, weiß von Fällen, wo ein industriell gefertigter Erdbeerjoghurt als authentisch angesehen wird, weil die Kinder so geprägt sind. Ein Naturjoghurt mit Erdbeerstücken werde dagegen nicht als authentisch wahrgenommen, wie Einzelfälle gezeigt hätten. Nur wenn in frühester Kindheit ein Geschmacksgedächtnis aufgebaut und erlernt wird, könne dieses im Leben auf Nahrungsmittel angewendet werden. Später müsse der Mensch sonst große Anstrengungen unternehmen, um wirklich noch schmecken zu lernen. Wiener vergleicht das mit dem Erlernen einer Fremdsprache. Seit 40 Jahren werde der mensch-liche Stoffwechsel aber mit Stoffen konfrontiert, die er nie als essbar und als verdaubar erlebt habe. Hier sieht Wiener die Ursache für Allergien, Unverträglichkeiten und endzündliche Krankheiten.
Der Mensch führt Krieg gegen den Boden
Wiener meint: „Wenn wir mit unserer falschen Ernährung gleichzeitig Krieg gegen den Boden führen, haben wir uns in eine Sackgasse manövriert. So kann es nicht weitergehen.“Mit Blick auf den raffinierten Zucker ist die Preisträgerin verwundert, warum Eltern ihren Kleinkindern bereits gesüßte Nahrung verabreichen, nur „weil sie selbst süchtig nach Industriezucker sind“ (siehe dazu auch den Artikel auf S. 30).
Prof. Hans Konrad Bisalski, Ernährungswissenschaftler an der Uni Hohenheim, bezeichnete Wiener in seiner Laudatio als eine Frau, deren „Name für eine Institution von Bewundernswertem steht“. Am Anfang habe bei Wiener der Traum gestanden, „im Wald zu leben und zu kochen“. Die Liebe zur Natur und die Liebe zum Kochen seien Eigenschaften, die fest mit Wiener verbunden würden. Hinter all ihrem Schaffen stehe schließlich eine besondere Grundeinstellung im Umgang mit Lebensmitteln: ein wenig Demut vor der Schöpfung. Daran arbeite Wiener konstant und konsequent.