Das Ende der mechanischen Ära
Die Okklusion ist ein wichtiges Fundament für alle Restaurationen. Wenn zahnärztliche Versorgungen okklusal nicht ausreichend funktionell sowie individuell angepasst werden, können iatrogen verursachte Fehl- belastungen des stomatognathen Systems Dysfunktionen auslösen, die die Lebensdauer von Zahnersatz einschränken und mittelfristig Kiefergelenkbeschwerden verursachen. Bei CAD/CAM-Lösungen in der Zahnmedizin und Zahntechnik ist, insbesondere wenn größere, mehrere Zähne umfassende restaurative Arbeiten erfolgen sollen, eine Darstellung der dynamischen und statischen Okklusion im Computer unerlässlich. Trotzdem basiert heute die konventionelle wie auch die computergestützte Fertigung von Zahnersatz überwiegend auf Mittelwerten. Der Transfer der Modelle in den gegebenenfalls virtuellen Artikulator erfolgt mittels Gesichtsbogen schädelbasisbezogen, aber nicht in Relation zur individuellen kinema- tischen Achse. Der Artikulator wird mit Mittelwerten programmiert. Die Bissrelation zwischen OK und UK wird meist statisch anstatt dynamisch bestimmt. Die Kondylenpositionen finden hierbei keine adäquate Berücksichtigung. Die Nutzung von Mittelwerten anstelle von patientenindividuellen Parametern führt zur aufwendigen Nach-bearbeitung der Restaurationen.
Bislang war CAD/CAM okklusal primär auf Einzelzahnrestaurationen fokussiert. Durch geschicktes Einschleifen unmittelbar nach Eingliederung können gröbere Interferenzen entfernt werden – vorausgesetzt, die anatomische Struktur der einzugliedernden Kauflächen korrespondiert einigermaßen mit der Gegenbezahnung. Wenn jedoch größere, mehrere Zähne umfassende restaurative Arbeiten im CAD/CAM-Verfahren gefertigt werden, ist eine Darstellung der dynamischen und der statischen Okklusion im Computer unbedingt erforderlich. Aktuelle Entwicklungen sind eng verbunden mit der sogenannten „digitalen Okklusion“ oder mit dem „virtuellen Artikulator“ [Gärtner et al., 2003; Kordaß, 2012].
Ganz gleich, welche Art der Fertigungs-technik für eine prothetisch-restaurative Arbeit gewählt wird, ist die Funktions- tüchtigkeit des Kausystems im Vorfeld der definitiven Maßnahmen zu screenen und bei Vorliegen von Funktionsstörungen eine funktionelle Vorbehandlung einzuleiten. Beispielsweise lässt sich aus den Daten einer digitalen, instrumentellen Funktionsanalyse eine therapeutische Zentrik generieren, die als therapeutische Kieferrelation für eine CAD/CAM-gefertigte Aufbissschiene oder für Provisorien dienen kann.
Digitale Bestimmung der „Zentrik“
Relative okklusale Aufbisskräfte können mittels einer drucksensitiven Folie detektiert werden. Diese vermag, kraftabhängige Abweichungen einer im Idealfall mittenzentrierten „Schwerpunktlage“ der getesteten Okklusion zu berechnen. Verschiedene Systeme arbeiten mit einem elektronifizierten Stützstift, der eine Stützstiftschreibung der Unterkieferbewegung unter Kraftkontrolle für die Bestimmung einer therapeutischen Kieferrelation möglich macht. Damit ist ein neuer Trend angesprochen, der mittels CAD/CAM-Technik zu einer neuen, funktionellen Qualität von Zahnersatz führen kann: die praxistaugliche Erfassung und therapeutische Nutzung von Messungen der Muskelaktivität. Neben der Analyse der Muskelaktivität wird damit indirekt eine Kraftkontrolle bei der Findung therapeutischer Bissbeziehungen möglich. Unter direkter Visualisierung der aktuellen Kondylenposition lässt sich die Kieferrelation über die computerbasierte Kondylenpositionsanalyse bestimmen.
Das Maß aller Verfahren zur Darstellung der funktionellen Okklusion ist die klinische Situation. Die Analyse in einem mechanischen Artikulator kann die klinische Situation nur annähernd wiedergeben. Starre Gipsmodelle beispielsweise können die Eigenbeweglichkeit der Zähne im Zahnbogen und die Verbiegungen der Unterkieferspange unter Beiß- beziehungsweise Kaukraftbeanspruchung nicht nachvollziehen, ebenso nicht die Resilienz der Kiefergelenke. So ist es nicht verwunderlich, dass Untersuchungen zur Reproduzierbarkeit okklusaler Kontakte bei zahngeführten Unterkieferbewegungen in einem Artikulator trotz individueller Einstellung mittels Funktionsdaten nur einen Teil der klinisch tatsächlich auftretenden Kontakte an der richtigen Stelle wiedergaben [Ruge et al., 2013; 2009].
So notwendig der Artikulator für die Herstellung von Zahnersatz und von okklusalen Restaurationen auch ist, so sehr muss man seine Grenzen kennen und die klinische Kontrolle der Okklusion sorgfältig vor- nehmen [Kordaß, 2012; 2002]. Dafür dienen üblicherweise verschiedenfarbiges Kontaktpapier, Okklusionsfolien oder spezielle Wachse zur klinischen Darstellung okklusaler Kontaktmuster.
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Kontaktverteilung als 3-D-Information
Ein System, das vor allem die Dokumentation der genauen Lokalisation okklusaler Kontakte in Stärke und Ausdehnung zum Ziel hat, ist das GEDAS-System (Greifswald Digital Analyzing System, Universität Greifswald) [Hützen et al., 2006]. Extrahartes, additionsvernetztes Silikon mit Transparenzeigenschaften wird in dünnen Schichten auf die Zahnreihen appliziert; der Patient schließt anschließend den Unterkiefer in Interkuspidation und hält den Aufbiss solange fixiert, bis der Abbindevorgang abgeschlossen ist. Eine Software steuert einen Flachbettscanner mit Durchlichteinheit an. Die Registrate werden zunächst im Durchlicht (Transparenzmodus) zur Darstellung der okklusalen Kontaktstellen, anschließend im Auflicht zur Darstellung der Zahnkonturen gescannt. Beide Bilder werden miteinander „gematcht“ (Abbildung 1a). Zukünftig kann die Auswertung auch die Kontaktstärke und Kontaktverteilung als 3-D-Information liefern (Abbildung 1b). Die Untersuchungen mit diesem System zeigen, dass Anzahl und Ausdehnung okklusaler Kontaktpunkte abhängig sind von der Kraft, mit der die Zähne aufeinander gepresst werden. Je stärker zusammengebissen wird, desto mehr Kontakte entstehen und desto größer sind die Kontaktflächen.
Funktionelle Okklusion mit CAD/CAM
Da die Anwendung von CAD/CAM nicht notwendigerweise an den Einsatz computerbasierter Messtechnik zur Erfassung der Funktionstüchtigkeit gekoppelt ist und es zudem bislang an geeigneten Schnittstellen zu speziellen Messsystemen mangelt, verfolgen CAD/CAM-Systeme spezielle Lösungswege, um eine funktionelle Okklusion zu realisieren. Wichtigstes Ziel ist die Schaffung einer okklusalen Stabilität, das heißt eine Kauflächengestaltung mit allseitigen, gleichzeitigen und gleichmäßigen Kontakten aller Seitenzähne, die zum einen die Orthofunktion des Kauorgans wie Abbeißen, Kauen, Schlucken, Sprechen et cetera unterstützt, zum anderen aber auch protektiv im Sinne der Vermeidung von Zahnwanderungen und Zahnfehlbelastungen wirken kann. Als erster Schritt vermögen CAD/CAM-Systeme eine additive, mit Modellierwachs aufgebaute Kronen- oder Brückensituation mit den gescannten Modellen der Zahnpräparation zu überlagern und so – als Differenzbild zwischen den Oberflächen der Modellation und des prä- parierten Zahnes – die Form der herzustellenden Krone zu generieren. In ähnlicher Weise wird praktisch vorgegangen, wenn vor dem Präparieren eines Zahnes die Zahnform aufgenommen wird und diese als Grundlage für die spätere CAD/CAM-Form der Kaufläche dient.
Sehr häufig ist aber die ursprüngliche Kaufläche zerstört oder durch eine Vielzahl vorangegangener Restaurationen und Restaurationsversuche mit diversen Füllungen nicht mehr verfügbar und muss grundlegend erneuert werden. Als praxisorientierte Lösung wird eine Krone mit Kaufläche aus einer Datenbank eingeblendet und dem präparierten Zahnstumpf sowie dem vorhandenen Platz zwischen den benachbarten Zähnen virtuell angepasst [Hartung et al., 2006]. Auch das Kauflächenrelief des Zahnes aus der Zahndatenbank lässt sich im Vergleich mit den Nachbarzähnen und den Gegenzähnen betreffend Höckerhöhe, Höckerlage, Steilheit der Höcker und Tiefe der Fissur grob parametrisieren [Späth et al., 2006; Mehl, 2013].
Kaufläche aus der Datenbank
Unter der Voraussetzung, dass keine okklusalen Führungsflächen aufgebaut werden müssen, kann die so erzeugte statische Okklusion dynamisch mittels FGP-Technik (Functional Generated Path) optimiert werden. Hierfür wird im Bereich der späteren Restauration eine in der Abbindephase noch weiche, aber standfeste, wachsartige Registrierpaste appliziert, in die sich – bei Gleitbewegungen der Zähne – die Form des Antagonisten „eingraviert“. Gegen dieses FGP-Registrat wird die spätere Kaufläche modelliert beziehungsweise Störkontakte der Gleitfunktion werden „virtuell“ eingeschliffen. Solche FGP-Registrate für CAD-Anwendungen setzen funktionierende, okklusale Führungs- flächen voraus und spielen bislang eher bei Einzelzahnrestaurationen oder kleineren Brückenarbeiten eine Rolle. Zukünftig ist es aber wichtig, größere Kieferabschnitte oder ganze Kiefer zu betrachten und deren Bewegungen am Bildschirm einschließlich der Kaubewegungen zu analysieren.
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Virtueller Artikulator macht Modelle überflüssig
Im Bestreben, die okkludierenden Flächen der Zähne „virtuell navigierbar“ zu machen, werden Softwarelösungen entwickelt, die sich im weitesten Sinn mit dem Namen „virtueller Artikulator“ verbinden [Kordaß, 2012; Ruge et al., 2013; 2009]. Solche virtuelle Artikulatoren haben Steuerelemente, mit denen gelenkbezügliche Werte eingegeben werden können. Die individuelle Situation der Modellmontage wird bei solchen Systemen in der Regel so gelöst, dass die Modelle zunächst mit einem Gesichtsbogen schädelgelenkbezüglich in einem mechanischen Artikulator montiert und anschließend mit Sockel und der Sockelgeometrie dreidimensional eingescannt werden.
Bei einem rein virtuell arbeitenden Artikulator benötigt man im Idealfall keinen Gesichtsbogen mehr und die Modelle müssen nicht mechanisch in Kieferrelation montiert werden. Es werden allenfalls kleine „Kopplungsteile“ benötigt, mit denen die Referenzierung der 3-D-Scans mit den Bewegungs-aufzeichnungen so rationell wie möglich gelingt. Im engeren Sinne arbeitet ein solcher VR-Artikulator nicht mehr wie ein konventioneller, sondern nutzt die primären Vorteile der Software.
Simulation der Okklusion in Echtzeit
Mit dem Greifswald-System lassen sich die „virtuellen“ Zahnreihen in Echtzeit synchron mit den Bewegungen des Patienten verfolgen, das heißt der Patient mit montierten Sensoren und der Zahnarzt können die Bewegungen einschließlich der entstehenden okklusalen Kontakte direkt auf dem Com-puterbildschirm verfolgen und einer Okklusionsanalyse zuführen (Abbildungen 2 und 3). Damit ist es erstmals möglich, okklusale Kontakte wiederzugeben und zu bestimmen – wo, wann, welcher Kontakt an welchem Zahn mit welcher Stärke in welcher Verzahnung auftritt (Abbildung 4). Zudem lassen sich die Bewegungen des Unterkiefers einschließlich der Kauflächen als eine Art Hüllkurve „einfrieren“. Diese Hülloberfläche (Abbildung 5) bildet für jeden Bewegungszyklus die koordinative „Raumnutzung“ des Unterkiefers im Vergleich zu den Kauflächen des Oberkiefers ab. Zusammengesetzt beschreiben die Hüllkurven den räumlich und neuromuskulär angesteuerten funktionellen „Grenzraum“ des okklusalen Spaltes. Gegen eine solche Hüllkurve lassen sich CAD-erzeugte Restaurationen funktionell modellieren [Ruge et al., 2013; Mehl, 2013].
Virtuelle Verfahren sind die Zukunft
Das Zeitalter der rein mechanistischen, an den Möglichkeiten des mechanischen Artikulators orientierten Okklusion geht zu Ende. Neurobiologische und neuronale Aspekte der Steuerung der Kaubewegungen und Kaukräften werden bei zukünftiger Betrachtung einer funktionellen Okklusion zunehmend wichtiger. Deshalb sollte eine optimale Okklusion kaufunktionell effektiv und interferenzfrei sein, jedoch auch Freiheitsgrade haben, die der neuromuskulären Steuerung Variabilität ermöglichen. Um die Kaufunktion zu erfassen, adäquat darzu-stellen und umzusetzen, sind computer- gestützte Techniken und „virtuelle“ Ver- fahren künftig unverzichtbar. Die optimale, virtuelle Okklusion ist eine der wichtigsten Aufgaben, denen sich die CAD/CAM-Technik heute stellen muss.
Manfred KernAG für Keramik in der Zahnheilkunde e.V.Postfach 10011776255 Ettlingeninfo@ag-keramik.de