Sie sind so frei
Immer mehr Ärzte ziehen die Sicherheit einer Festanstellung dem wirtschaftlichen Risiko einer Niederlassung vor. Hier hilft auch der Gesetzgeber nach, meint Andreas Mihm, Wirtschaftskorrespondent der FAZ, Berlin. Die Ärzteschaft hat die Freiberuflichkeit neu entdeckt. Die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) ist wieder in den Verband der Freien Berufe eingetreten, die Bundesärztekammer plant den Rücktritt vom Austritt. Auch die Freiberuflichkeit, das haben die Ärzte in den vergangenen Monaten gelernt, will geschützt werden. Der ärztliche Beruf ist „seiner Natur nach“ ein freier. Was das ist, definieren die Berufsordnungen der Zahnärzte und Ärzte so: Er wird aufgrund einer besonderen beruflichen Qualifikation persönlich, eigenverantwortlich und fachlich unabhängig in Diagnose und Therapiefreiheit ausgeübt. Diese Freiheit von Weisungen bei der Ausübung der Berufstätigkeit beschreibt den Wesenskern des Freien Berufs. Doch bleibt die Beschreibung unzulänglich, denn sie blendet ökonomische Aspekte aus, die zu einer gelebten Freiberuflichkeit gehören. Wirtschaftliche Unabhängigkeit ist nicht zwangsläufig der kleine Bruder einer unabhängigen Berufsausübung. Jedoch hilft sie, Freiberuflichkeit zu leben. Freiberufler sind nicht aus Zufall meist selbstständig. In der Ärzteschaft wächst allerdings die Zahl der Freiberufler, die nicht mehr selbstständig arbeiten. Unter den ambulant tätigen Zahnärzten hat die Zahl der angestellten Mitte vergangenen Jahres mit 8 398 einen Rekordstand erreicht. Auch in der Ärzteschaft sagen viele junge Ärzte „Ich bin so frei“ und ziehen die Gewissheiten einer Festanstellung dem wirtschaftlichen Risiko einer Praxis (-Gemeinschaft) vor: 22 304 angestellte Ärzte in der ambulanten Versorgung hatte die Bundesärztekammer Ende 2013 registriert. Dabei wird es nicht bleiben.
Schuld ist nicht nur die wachsende Unlust junger Leute und vor allem junger Ärztinnen an der Selbstständigkeit. Der Gesetzgeber hilft nach. Wenn es darauf ankommt, sind die Sonntagsreden über die Freiberuflichkeit schnell vergessen. Man muss nur in das Versorgungsstärkungsgesetz schauen, mit dem Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) die Patientenversorgung verbessern will. Er und die große Koalition tun das, indem sie die Niederlassungsfreiheit beschränken, Behandlungszentren mit angestellten Ärzten aufwerten und die Krankenhäuser stärken. Letztere können nach den Plänen im Rahmen des Entlassmanagements ambulante Leistungen verordnen, sie können ambulant behandeln, wenn die neuen Terminservicestellen in der vorgegebenen Frist keinen Facharzttermin vergeben. Zugleich werden die Möglichkeiten für den Betrieb Medizinischer Versorgungszentren (MVZ) vereinfacht: Sie müssen nicht mehr unterschiedliche Arztgruppen unter einem Dach vereinen, Kommunen können eigene MVZ gründen, MVZ bekommen leichter Zugriff auf Arztsitze. Andererseits „sollen“ Arztsitze in den Regionen, die als überversorgt gelten – und das sind bei einem Schwellenwert von 110 Prozent fast alle Bezirke – von der KV aufgekauft werden, wenn der Inhaber seinen Sitz aufgibt. Bisher ist das nur eine „Kann"-Regel.
Man kann manches an der Neuerung aussetzen: Dass die Regel zu hart ist, die Berechnungsgrundlagen für die Zahl der notwendigen Behandler zu ungenau, dass es ein Irrsinn ist, Tausende Praxissitze aufzugeben, wo doch auch Tausende Ärzte fehlen. Noch ein wesentlicher Punkt muss erwähnt werden. Der Zwangsaufkauf betrifft allein frei werdende Sitze niedergelassener Ärzte – nicht die von Versorgungszentren, denn die werden ja mit Angestellten weiterbesetzt.
Insofern kann man den Unmut der Ärzteschaft über die Regelung verstehen und die allerdings eher lauwarmen Proteste der KBV dagegen. Gut für die KBV, dass der Gesundheitsminister sich darüber empört hat und der Aktion damit ein wenig Öffentlichkeit verschafft hat. Das verlieh dem Minister etwas Schneid und brachte der KBV-Aktion mehr Schwung, als sie aus eigener Kraft bekommen hätte. Dass der allerdings für weitgehende Änderungen am Gesetzestext reichen wird, sollte niemand erwarten.
Gastkommentare entsprechen nicht immer der Ansicht der Herausgeber.