Solitäres Neurofibrom des Oberkiefers
Ein fünfzehnjähriges Mädchen wurde mit einer langsam wachsenden Schwellung der rechten Wange in einer Klinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie in Mumbai, Indien, vorstellig. Die Patientin gab bei der initialen Untersuchung an, vor circa acht Monaten erste Beschwerden im Sinne einer progredienten Größenzunahme bemerkt zu haben. Inzwischen seien intermittierende, stumpfe Schmerzen und das Gefühl einer Lockerung der oberen rechten Molaren hinzugekommen. Die allgemeine und spezielle Anamnese zeigte keine Auffälligkeiten. In der extraoralen Untersuchung fiel eine etwa 5 cm x 4 cm große Schwellung im rechten Wangenbereich auf (Abbildung 1). Bei der enoralen Inspektion dominierte eine Schwellung der rechten Gaumenseite, die sich beinahe bis zur Mittellinie erstreckte. Die vestibuläre Umschlagfalte war verstrichen, Zahn 16 stark kariös zerstört und reagierte negativ auf Perkussion. Zahn 17 wies einen Lockerungsgrad von 1 auf (Abbildung 2).
Alle weiteren klinischen Untersuchungen waren unauffällig, die Laborwerte lagen im Normbereich. Die radiologische Diagnostik via Computertomografie (CT) wies eine homogene Masse nach, die die gesamte rechte Kieferhöhle ausfüllte. Der rechte Orbitaboden erschien zwar deutlich nach kranial verschoben, war jedoch nicht infiltriert. Nach medial war eine Destruktion der knöchernen Begrenzung zur Nase mit daraus resultierendem engem Kontakt zwischen der Läsion und der knöchernen Nasescheidewand erkennbar. Nach lateral trieb der Tumor die rechte faziale Kieferhöhlenwand auf und perforierte diese (Abbildungen 3a und 3b). In der anschließenden Magnet- resonanztomografie (MRT) zeigte sich eine umschriebene Masse, die ein hyperintenses Signal in der T2-Gewichtung aufwies (Ab-bildung 4). Die Inzisionsbiopsie aus dem festen, weiß-gräulich scheinenden Tumorgewebe ergab in der histopathologischen Analyse ein relativ zellarmes, dichtes kollagenes Gewebe mit gerade ausgerichteten Fasern. Die Zellen hatten einheitliche, spindelförmige Kerne mit feinen, länglichen zytoplasmatischen Fortsätzen in einem Hintergrund von wellenförmigen Kollagenfasern und myxoidem Stroma.
Das Gewebe war positiv auf S-100. Insgesamt bestanden keine Hinweise auf Malignität. Basierend auf der Bildgebung sowie der Histologie wurde die Diagnose Neurofibrom des Oberkiefers gestellt. Angesicht dieses Befunds wurde eine genauere Untersuchung der Patientin vorgenommen, jedoch konnten keine weiteren Neurofibrome diagnostiziert werden; die Familienanamnese war blande. Es folgte eine Hemimaxillektomie unter Schonung und Neurolyse des Nervus infraorbitalis, wobei der Tumor in toto entfernt werden konnte. Bei Bezug zu den Zähnen 16 und 17 wurden diese ebenfalls mit dem Hauptpräparat reseziert (Abbildung 5). Der entstehende Defekt wurde anschließend primär mit einem mikrovaskulär anastomosierten Beckenkammtransplantat knöchern und weichgeweblich rekonstruiert (Operation Kämmerer/Kumar). Die histologische Aufbereitung des Gesamtpräparats bestätigte den Verdacht auf Vorliegen eines Neurofibroms (Abbildungen 6a und 6b). Bei einer Nachbeobachtungszeit von nunmehr 1,5 Jahren wurde kein Rezidiv beobachtet, nach einem halben Jahr stellte sich die sensible Funktion des rechten N. infraorbitalis als normal dar.
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Diskussion
Neurofibrome sind gutartige, heterogene, meist klar abgegrenzte Nervenscheidentumore und stellen eine der am häufigsten vorkommenden neurogenen Tumorentitäten dar. Gewöhnlicherweise ist die Haut betroffen, wobei multiple Neurofibrome vor allem mit der Neurofibromatose assoziiert sind. Ein enorales Auftreten von Neurofibromen ist selten, wobei hier vor allem die Zunge, aber auch der Gaumen oder der Mundboden betroffen sein können [Depprich et al., 2009]. Ein sino-nasales Vorkommen wie in diesem Fall ist eine extreme Rarität. Weniger als ein Dutzend Fälle wurden weltweit bisher geschildert [Boedeker et al., 2005]. Derartige Tumore entstehen aus den ophthalmischen oder maxillären Endästen des Nervus trigeminus und breiten sich von dort vor allem in die Kiefer- und Siebbeinhöhlen sowie ins Cavum nasi aus [Bruner, 1987; Barnes et al., 2005]. Es besteht keine Altersprädilektion, wobei die Tumore bei Patienten mit Neurofibromatose früher aufzutreten scheinen [Barnes et al., 2005]. Männer und Frauen sind gleichermaßen betroffen.
Neurofibrome wachsen langsam, können aber sehr groß werden und verursachen konsekutiv Kompressionen von lokalen Strukturen, einschließlich Auftreibung und Erosion des angrenzenden Knochens [Perzin et al., 1982]. Analog hierzu wuchs im vorgestellten Fall der Tumor expansiv und verursachte Verdrängungen und Erosionen der knöchernen, die Kieferhöhle begrenzenden Strukturen. Die klinischen Symptome sind häufig Ausdruck dieses verdrängenden Wachstums und bestehen bei den sino-nasalen Neurofibromen vor allem aus Nasenbluten, Rhinorrhoe, sicht- und fühlbaren Schwellungen, Obstruktionen angrenzender Strukturen sowie Schmerzen [Barnes et al., 2005; Perzin et al., 1982]. Bildgebende Verfahren wie die Computertomografie (CT) und die Magnetresonanztomografie (MRT) zeigen die Ausdehnung des Tumors auf, was für die Planung der chirurgischen Therapie entscheidend ist.
Beschrieben wird, dass die MRT der CT überlegen ist, da durch sie eine bessere Differenzierung des Tumors von angrenzenden Weichteilen sowie eine bessere Bewertung möglicher Ausläuferläsionen ermöglicht wird [Lee et al., 2000; De Potter et al.,1992]. Obwohl gegenwärtig die Ursprungszellen der Neurofibrome bekannt sind, nämlich eine gemischte Zellpopulation aus Schwann-Zellen und Fibrozyten des Perineuriums, bestand für einige Zeit Verwirrung bezüglich der Anerkennung der Neurofibrome und der Schwannome als zwei verschiedene pathologische Entitäten. Das Neurofibrom ist normalerweise eine nicht verkapselte Ansammlung spindelförmiger Zellen in einem myxoiden oder kollagenen Stoma. Im Gegensatz dazu sind Schwannome verkapselte Tumoren, die aus zellulären Antoni-A- und hypozellulären Antoni-B- Abschnitten bestehen [Arpornchayanon et al., 1984]. Die histopathologische Analyse des in diesem Fall beschriebenen Tumors ergab eine S-100-positive Läsion bei fehlender Verkapselung und vielen länglich-spindelförmigen Zellen mit ovalen oder abgeflachten Kernen. Zusammen mit dem MRT, das ein hyperintenses Signal in der T2-Gewichtung aufwies, und dem Nervus infraorbitalis als wahrscheinlichem Ausgangspunkt ergab sich im hier diskutierten Fall die Diagnose Neurofibrom.
Die Behandlung von Neurofibromen hängt von den Krankheitszeichen und Symptomen ab. In der Literatur wurden singuläre Neurofibrome des Oberkiefers mittels Enukleation, Enukleation und Kürettage sowie durch Maxillektomie behandelt [Depprich et al., 2009; Boedeker et al., 2005; Brady et al., 1982; Skouteris und Sotereanos, 1988; Biswas und Mal, 2010], wobei der ursprüngliche Nerv geschont werden sollte [Depprich et al., 2009]. Es wird von einer geringen Rezidiv-rate [Robitaille et al., 1975] und in einigen wenigen Fällen von malignen Transformationen [Agarwal et al., 1979] berichtet. Differenzialdiagnostisch ist das Vorliegen einer Neurofibromatose zu bedenken, wobei von dieser autosomaldominanten Multiorganerkrankung solitäre oder auch multiple Neurofibrome alle Organe befallen können. Hier exisitieren zwei Arten:
Typ 1 (Morbus Recklinghausen oder periphere Neurofibromatose), der weiter verbreitet ist und sich unter anderem zusätzlich durch milchkaffeefarbene kutane Hyperpigmentierungen (Café-au-lait-Flecken) auszeichnet, und
Typ 2, der aufgrund des Befalls des zentralen Nervensystems einen schwereren Verlauf aufweist [Toth et al., 1975].
OA Dr. Dr. Peer W. KämmererOberarzt der Klinik für Mund-, Kiefer- und GesichtschirurgieUniversitätsmedizin RostockSchillingallee 3518057 Rostockpeer.kaemmerer@uni-rostock.de
Dr. Philipp KämmererWissenschaftlicher Mitarbeiter der Poliklinik für ZahnerhaltungskundeUniversitätsmedizin MainzAugustusplatz 255131 Mainz
Dr. Vinay V. KumarGastarzt der Klinik für Mund-, Kiefer- und GesichtschirurgieUniversitätsmedizin MainzAugustusplatz 255131 Mainz