Mehr als Gebissreiniger
2005 entstand in München das „Duale Konzept“. Ein Modellprojekt nach § 63 ff. SGB V – gegründet, um die zahnärztliche Versorgung für Versicherte der AOK Bayern in Pflegeeinrichtungen der Landeshauptstadt sicherzustellen und zu verbessern.
Behandeln am Bett
Konkret ging es darum, Standards zur mobilen zahnmedizinischen Behandlung und Prävention mit geriatrischem Ansatz zu entwickeln. Das heißt, man wollte herausfinden, inwieweit eine strukturierte auf- suchende Betreuung am Bett der Bewohner Einfluss auf ihren Mundgesundheitsstatus und ihren Versorgungsgrad hat. Und ob sich diese Form der zahnärztlichen Betreuung auf allgemeine Erkrankungen auswirkt und eine Verringerung stationärer Aufenthalte zur Folge hat. Wobei natürlich auch im Raum stand: Wie teuer ist das Modell im Vergleich zur üblichen Versorgungspraxis?
Nun liegt der Abschlussbericht vor und wir schauen uns das Vorhaben und die Ergebnisse an: Das Konzept bestand aus zwei Modulen – der präventiven Betreuung und der restaurativ-therapeutischen Versorgung. Erstere bildete die Basis, letztere kam nur zum Tragen, wenn eine individuelle Notwendigkeit bestand, etwa um die Hygienefähigkeit zu ermöglichen oder wiederherzustellen (Grundsanierung). In der Praxis sollten wiederkehrende Schulungsmaßnahmen der Pflegekräfte die täglichen Mundhygienemaßnahmen unterstützen und sichern sowie regelmäßige individuelle Prophylaxemaßnahmen vor Ort das Risiko von Erkrankungen in der Mundhöhle minimieren und zum Zahnerhalt beitragen.
Bei über die Prävention hinausgehenden Therapien beseitigten dezentral tätige Patenzahnärzte im mobilen Einsatz zumindest die Schmerzen und stellten die Kaufunktion wieder her. Komplexere Behandlungen, die nicht mobil erfolgen konnten (zum Beispiel Zahnsanierungen in Intubationsnarkose), wurden in einer Praxis oder in einem Kompetenzzentrum mit vereinfachtem Patientenpfad durchgeführt. Dabei galt auch hier der Grundsatz „freie Arztwahl“.
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Die Ergebnisse inklusive Studiendesign und Ausgangslage:
• Bis zu 1 750 der 7 000 Pflegebedürftigen wurden in 48 der 53 Münchner Einrichtungen quartalsweise in die zahnärztliche Versorgung eingebunden.
• Von Anfang Januar 2007 bis Ende Dezember 2013 nahmen an der begleitenden Studie 248 Pflegebedürftige der Pflegestufen I (2 Prozent), II (56 Prozent) und III (42 Prozent) teil – 189 Frauen und 59 Männer.
• Durchschnittlich waren die Pflegebedürftigen 84,1 Jahre alt, wobei der jüngste Proband 43 und der älteste 102 Jahre alt waren.
• Erfasst wurden: Vor- und Nachname des Patienten, Geschlecht, Alter, Krankheitsdiagnosen, Untersuchungsquartal, wer die Mundhygiene vornimmt, wie oft am Tag diese erfolgt, zeitliche Dauer und Qualität der PZR, Anzahl der eigenen Zähne, Beurteilung des ZE in OK und UK, DMF-T, Karies Behandlungen wegen Schmerzen im vergangenen Jahr, Zuckerimpulse pro Tag, Fluoridkontakte, Beurteilung der Mundhygiene, Taschentiefensondierung mesial und distal, Bleeding on Probing, Furkationsbefall.
• Bei 120 Bewohnern lagen Angaben zu allgemeinmedizinischen Erkrankungen vor. Neben der unspezifischen Angabe einer geistigen oder körperlichen Behinderung waren Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Diabetes Typ II die am häufigsten dokumentierten Diagnosen. Dabei wurden bei den Patienten im Mittel sieben unterschiedliche Diagnosen gestellt – im Mittel nahmen sie zehn Medikamente am Tag ein.
• Eine regelmäßige zahnärztliche Betreuung vor Ort wurde beim Projektstart nur in wenigen Münchner Einrichtungen angeboten, der Besuch eines Zahnarztes oft ausschließlich im Zusammenhang mit Schmerzen angefordert und in der Folge auch ermöglicht. Der Erstkontakt und die Auseinandersetzung mit dem Patienten machte deutlich, dass häufig die Versorgung der Mundhöhle – Bezahnung und Zahnersatz – nicht dokumentiert war und damit keinem an der pflegerischen Versorgung Beteiligten bekannt war.
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Unsaniert und unversorgt
Generell stellte sich die Zahngesundheit der untersuchten Pflegebedürftigen im Vergleich zu anderen Bevölkerungsgruppen deutlich schlechter dar: 49 Prozent waren zahnlos, 51 Prozent verfügten noch über eigene echte Zähne. Bei ihnen waren im Mittel noch 11 Restzähne vorhanden. Nur gut 8 Prozent benötigten wegen der eigenen Restbezahnung keinen herausnehmbaren Zahnersatz. Fast 70 Prozent hatten dagegen im Oberkiefer, 56 Prozent im Unterkiefer Teil- beziehungsweise Vollprothesen. Über ein Drittel war gar nicht versorgt oder der vorhandene ZE wurde nicht – mehr – getragen. Über den Studienzeitraum wurden keine signifikanten Veränderungen nachgewiesen.
Ein vereinfachter DMF-T-Index zeigte bei fast 80 Prozent der untersuchten Pflegebedürftigen den Maximalwert. Analog zu anderen Studien waren auch hier besonders zu Beginn große Defizite in der Qualität der Mundhygiene zu verzeichnen. Genauer: Bei den untersuchten Senioren waren die Mundgesundheit und insbesondere die Zahnpflege der verbliebenen eigenen Zähne völlig unzureichend. Geht man davon aus, dass man in den wenigsten Fällen von einer Initialkaries und deren Ausheilung ausgehen konnte, lagen bei den hochbetagten Patienten ein hoher Kariesbefall und ein nur sehr geringer Sanierungsgrad vor. Hier fand sich ein erheblicher Unterschied zu den Daten der DMS IV von 2007, wo der Sanierungsgrad der Alterskohorte der 65- bis 74-Jährigen 94,8 Prozent betrug.
Das bedeutet: Ist die zahnmedizinische Versorgung häufig mangelhaft, muss im Rahmen von Versorgungskonzepten auf die subjektive Einschätzung des Pflegebedürftigen Rücksicht genommen werden. „Nicht immer das, was aus zahnärztlicher Sicht möglich ist, muss sich für den Pflegebedürftigen als sinnvoll herausstellen“, heißt es im Bericht. „Auch der Einschätzung, eine Prothese ist gerade für den Pflegebedürftigen – und sein Umfeld – die sicherste und sinnvollste Versorgung, muss entschieden widersprochen werden.“
Über 90 Prozent der Gruppe mit Restbezahnung hatten darüber hinaus eine Parodontitis, wie die Erhebung von Indizes und Parametern zur Beurteilung des Zahnhalteapparats (Bleeding on Probing, Sondierungstiefe, Furkation) offenbarte.
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Die Mundhöhle ist oft tabu
Demgegenüber schätzte allerdings nur ein Viertel der befragten Heimleitungen die Mundhygiene ihrer Bewohner als unzureichend ein – tatsächlich aber waren über 40 Prozent der untersuchten Bewohner von mangelhafter Mundhygiene betroffen. Also sowohl beim Pflegepersonal als auch bei den Heimbewohnern selbst fehlten das Bewusstsein sowie ausreichende Kenntnisse bezüglich des Stellenwerts der Mundgesundheit. Ein Großteil des Pflegepersonals gab im Übrigen an, die Mundpflege grundsätzlich als unangenehm zu empfinden.
Häufig wurde die Mundhöhle sogar als Tabuzone beschrieben. Nicht nur Defizite in der Ausbildung beeinflussten dabei die Durchführung der Mundhygienemaßnahmen, auch die persönliche Einstellung des Personals spielte eine wichtige Rolle. Die Forscher verweisen in ihrem Bericht auf US-Studien, die belegen,dass die Verschlechterung der Mundgesundheit bei sich selbst und bei den Pflegebedürftigen fälschlicherweise als normaler Alterungsprozess und nicht als Folge unzureichender Mundpflege wahrgenommen wird. Zusätzlich waren die meisten Pflegemaßnahmen durch einen Mangel an Personal häufig ausschließlich auf die Grundpflege beschränkt.
Welchen Einfluss die regelmäßige zahnärztliche Präventiv-Intervention auf die orale Gesundheit hat, bewerteten die Wissenschaftler mithilfe des eigens entwickelten Teamwerk-Index. Dieser Index ermittelt aus den Kategorien DMF-T, Karies, Zustand Zahnhalteapparat, Schmerzen, Zahnpflege und Ernährung einen Punktwert, der das Erkrankungsrisiko anzeigt.
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Ergebnis
Die wiederholte präventive Betreuung vor Ort führte in der Gruppe der Nichtbezahnten wie auch in der mit Restzähnen in den ersten zwei Jahren des Beobachtungszeitraums zu einer deutlichen Verringerung des Erkrankungsrisikos. Ab dem fünften Jahr wurde ein gleichbleibender Wert gemessen. In allen drei Bezahnungsgruppen konnten die Forscher eine signifikante Reduktion der Risikofaktorsummen nachweisen: Bestand 2007 beispielsweise nur bei 22 Prozent der Nichtbezahnten eine geringe Gefahr in Bezug auf die Erkrankung oraler Strukturen (49 Bewohner), konnten von 2009 bis 2013 über 60 Prozent in diesen Bereich gehoben werden. Gaben zu Beginn bis zu 34 Prozent der Heimbewohner an, in den vergangenen zwölf Monaten Mundhöhlen- oder Zahnschmerzen gehabt zu haben, waren dies nach acht Jahren lediglich 17 Prozent. Insgesamt nahmen auch die Schmerzbehandlungen signifikant ab.
Außerdem förderte das Projekt die Durchführung der täglichen Mundhygiene durch den Patienten selbst und/oder die Pflegekräfte. Am Anfang des Erhebungszeitraums konnte man bei 87 von 248 Betreuten tägliche Zahnpflegemaßnahmen objektiv nicht nachweisen. Nach acht Jahren galt das nur noch für 45 Bewohner.
Die – wiederholte – Befragung der Probanden zur Selbsteinschätzung der gesundheitsbezogenen Lebensqualität ergab nach sechs Monaten allerdings einen geringeren Wert im Zusammenhang mit der allgemeinen Gesundheit, dagegen einen Zuwachs an Lebensqualität in Bezug auf die Mundgesundheit. Diese Ergebnisse bewerten die Autoren zurückhaltend: ein klarer Zusammenhang zu der regelmäßigen zahnärztlichen Intervention sei kaum herzustellen.
Die finanziellen Folgen durch die Vermeidung ambulanter oder stationärer zahnärztlicher Behandlungen konnten ausschließlich in der gleichen Gruppe der Betreuten anhand eines gewählten Referenzzeitraums unmittelbar vor der zahnärztlichen Intervention untersucht werden. Daten und Schätzungen zeigten, dass sich die Kosten im unmittelbaren Umfeld zahnmedizinischer Leistungen im Vergleich zum Referenzzeitraum um 22 Prozent verringerten:
Die Zahl der Behandlungen im Bereich „KCH“ ging im Untersuchungszeitraum zurück. Aus der Analyse der Abrechnungsdaten ging hervor, dass die Bema-Nummern 41 a und b sowie die Nummern 43, 44 und 45 (Zahnextraktion) in geringerem Umfang abgerechnet wurden.
Die Patientenzahlen und auch die gemittelten Kosten im Bereich Zahnersatz sanken.
Gegenüber dem Referenzzeitraum nahmen im Untersuchungszeitraum die notwendigen Krankentransporte deutlich ab.
Gegenüber dem Referenzzeitraum wurden im Untersuchungszeitraum viel weniger notwendige Intubationsnarkosen durchgeführt.
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Fazit
Die im Rahmen des Dualen Konzepts erhobenen und ausgewerteten Daten zeigen den Forschern zufolge, dass die aufsuchende zahnärztliche Betreuung nicht generell für alle Pflegestufen erforderlich ist. Stattdessen ist der Behandlung in der Praxis unter der Voraussetzung eines nur geringen organisatorischen Aufwands – wenn ein Praxisbesuch mit geringem Aufwand möglich ist – gegebenenfalls der Vorzug zu geben.
Die primäre Aufgabe der aufsuchenden Betreuung müsse sein, einen Zahnstatus schon bei Aufnahme in die stationäre Pflege zu erheben und in der Folge in enger Kooperation mit dem Pflegepersonal dieses in die Lage zu versetzen, die tägliche Zahn-, Mund- und Prothesenpflege sinnvoll durchzuführen. Voraussetzung dafür seien Schulungsmaßnahmen, eine Sensibilisierung und die praktische Anleitung.
Auch wenn der Patient – häufig auf eigenen Wunsch hin – für die Mundpflege verantwortlich sein sollte, sei oftmals eine Teilunterstützung erforderlich. Einfache Maßnahmen wie ein verdickter Bürstengriff, altersgerechte Zahnbürsten (Dreikopfbürste Super Brush), spezielle Zahnpastatuben, die leicht zu öffnen sind, höherdosierte Fluoridpräparate und ein wiederholtes Training ermöglichten den Betreuten oftmals eine suffiziente Zahnpflege in eigener Verantwortung und erleichterten die Unterstützung im engen Pflegealltag.
Ein klarer Zusammenhang zu der zahnärztlichen Intervention im Rahmen des Dualen Konzepts könne indes nur sehr vorsichtig hergestellt werden. Dennoch erscheint den Autoren der positive Einfluss der zahnmedizinischen Betreuung auf die gesundheitsbezogene Lebensqualität Pflegebedürftiger nachweisbar.