Die Zukunft der Versorgung
Wie solche neue Formen für Zahnärzte konkret aussehen könnten, skizzierte Dr. Wolfgang Eßer im einem Fachforum des Kongresses. „Der Gedanke ist sicherlich ein bisschen revolutionär, aber vielleicht wird es – so wie es heute Pflegedienste gibt – in Zukunft Zahnärzte geben, die die aufsuchende Versorgung hauptberuflich abbilden“, so der Vorstands-Chef der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung (KZBV). Innovatives Denken sei künftig nicht nur im Beruf des Zahnarztes, sondern auch im Berufsrecht nötig. Angesichts der Dringlichkeit des Problems gehe es nicht darum, am grünen Tisch eine generelle Lösung zu entwickeln, sondern auch Dinge auszuprobieren. „Wir sind am Anfang eines Lernprozesses“, verdeutlichte Eßer, „darum müssen wir bereit sein, Erfahrungen zu sammeln und uns dann auch die Zeit nehmen, diese zu evaluieren.“ Die wohnortnahe flächendeckende Versorgung einer älter werdenden Gesellschaft könne nicht länger allein durch das karitative Engagement einer Berufsgruppe sichergestellt werden, stellte Eßer klar.
Kostenträger informieren Betroffene unzureichend
Er sei dankbar, dass der Gesetzgeber den akuten Handlungsbedarf erkannt und mit Regelungen für Zahnärzte im Versorgungsstruktur- und im Pflegeneuausrichtungsgesetz reagiert habe. Für jene Fälle jedoch, in denen Pflegebedürftige für weitergehende Behandlungen in die Praxis kommen müssten, brauche es künftig „funktionierende „Komm-und-Bring-Strukturen. Eine von der Standespolitik unlängst geforderte eigene Krankentransport-Richtlinie für Zahnärzte sei vom Gemeinsamen Bundesausschuss abgelehnt worden, was dazu führe, dass Zahnärzte bei der rechtssicheren Verordnung von Krankentransporten weiterhin auf den Hausarzt des Patienten angewiesen seien. Ein weiteres Problem sei, so Eßer, dass es die Kostenträger weitestgehend vermieden, Pflegebedürftige und ihre Angehörigen auf ihren neu geschaffenen gesetzlichen Anspruch zur aufsuchenden zahnmedizinischen Betreuung hinzuweisen. Auch die Vertreter von Kassenärztlicher Bundesvereinigung (KBV) und der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW) waren sich einig, dass die bisherigen Gesetzesänderungen zur Verbesserung der ärztlichen Versorgung einseitig auf die Versorgung von Bewohnern stationärer Altenhilfeeinrichtungen zielten. Gezielte Versorgungsverbesserungen für ältere Pflegebedürftige im häuslichen Umfeld seien jedoch ebenso dringend erforderlich. „Die Mundgesundheit von Pflegebedürftigen ist deutlich schlechter als die des Bevölkerungsdurchschnitts“, stellte Eßer noch einmal klar.
„Diese Patienten gehören zur Hochrisikogruppe für Karies- und Parodontalerkrankungen, denn sie können häufig keine eigenverantwortliche Mundhygiene durchführen, haben Schwierigkeiten, eine Praxis aufzusuchen, oder sind bei der Behandlung nicht kooperationsfähig.“ Die Zahnärzteschaft wolle diesen Menschen helfen und setze dabei bewusst auf Lösungen in Zusammenarbeit mit der Wissenschaft, anderen Berufsgruppen, den Pflegebedürftigen selbst, ihren Angehörigen und der Politik, so Eßer. Mit einer erhöhten Lebenserwartung gehe auch eine deutliche Zunahme von Multimorbidität, Mobilitätseinschränkungen und Demenzerkrankungen einher, ergänzte KBV-Vorstand Dipl.-Med. Regina Feldmann, in der moderierten Einführung für die rund 100 Gäste der Veranstaltung. „Bei der Pflege dieser Menschen müssen die Professionen intensiver zusammenarbeiten. Der Koordination der Versorgungsangebote kommt dabei eine besondere Rolle zu.“
Auch Dr. Ulrich Orlowski, Abteilungsleiter aus dem Bundesgesundheitsministerium, betonte die Wichtigkeit der jüngsten Bemühungen. Die Versorgung von Pflegebedürftigen sei sicher ein Zukunftsthema des deutschen Gesundheitswesens, bei dem vor allem um Passgenauigkeit diskutiert werden müsse, sagte er in seinem Grußwort. „Auch wenn das deutsche Gesundheitssystem generell durch einen niedrigschwelligen Zugang und eine hohe Versorgungsdichte geprägt sei, gelte dies nur eingeschränkt für Pflegebedürftige. Dass Heimbewohner im Durchschnitt an vier bis fünf Krankheiten litten, gleichzeitig aber seltener Kontakt zu einem Facharzt hätten als andere Bevölkerungsteile, wertete Orlowski als „Indiz für die Versorgungsrealität“. Was das letztlich für demente Patienten bedeutet, sei eine Frage, die „noch nicht zufriedenstellend beantwortet werden kann“. Das System müsse sich daher künftig stärker als bisher auf solche Patienten ausrichten, denen es nur mit großem Aufwand oder gar nicht mehr möglich sei, eine Praxis zu besuchen. In puncto Mundgesundheit sah Orlowski aber auch die Pflege in der Pflicht. „Regelmäßige Besuche von Zahnärzten in Heimen und ein Rechtsanspruch von Pflegebebedürftigen können die tägliche Mundhygiene nicht ersetzen“, so seine Bestandsaufnahme. „Eine gute Versorgung ist auf- suchend, aber auch integrativ.“
Wie dringend die sektoren- und disziplinübergreifende Zusammenarbeit und Entwicklung neuer Konzepte künftig sein wird, verdeutlichte Prof. Dr. Adelheid Kuhlmey von der Charité . „Wir können davon ausgehen, dass heute in ungefähr zehn Millionen Familien in Deutschland ein naher Verwandter pflegebedürftig ist“, wobei die Hauptlast des Pflegeaufwands aktuell noch von Ange hörigen getragen werde – eine Situation, die sich dramatisch ändern werde. Aktuell würden in 12 400 Heimen bundesweit 740 000 Pflegebedürftige versorgt, was einem Zuwachs von mehr als 30 Prozent seit 1999 entspreche. Eine entscheidende Frage sei darum, wie in Zukunft sichergestellt wird, dass es ausreichend gut qualifiziertes Personal in der Pflege gibt. Vor dem Hintergrund des wachsenden Bedarfs an geriatrischem Wissen sei die Debatte um Ausbildung und Akademisierung der Pflegeberufe völlig neu zu führen, befand Kuhlmey, und scherzte, dass es auch bei der mehr als 30 Jahre alten Approbationsordnung für Zahnärzte „mindestens moderaten Überarbeitungsbedarf“ gebe. BAGFW-Präsident Prof. Rolf Rosenbrock mahnte noch mehr Veränderungsbedarf an. „Wir brauchen eine veränderte Pflege-Philosophie. Alle Pflegebegriffe sind krass unterbezahlt – und wir haben immer noch zu wenige davon“, sagte er und betonte, dass die Versorgung pflegebedürftiger Menschen ein koordiniertes und kooperatives Zusammenarbeiten von Pflege und Ärzten erfordere. „Pflegekräfte übernehmen schon heute eine wichtige Rolle in der gesundheitlichen Versorgung. Es gilt, neue Formen der Zusammenarbeit zu erproben.“