Masse ist nicht immer Klasse
Angesichts der Fülle an Gesetzesplänen, die derzeit in der Pipeline sind, fällt der Überblick schwer. Hat sich das Ganze bereits verselbstständigt? Das fragt Maike Visarius, gesundheitspolitische Fachjournalistin, L et V Verlag. Noch ist die erste Halbzeit der 18. Legislaturperiode des Deutschen Bundestages nicht erreicht, dennoch ist die Zahl der Gesetze aus dem Bereich Gesundheit, die von der Koalition schon beschlossen wurde, erstaunlich: die 14. SGB-V-Novelle (Arzneimittel und Hausärzte), das Haushaltsbegleitgesetz (Neujustierung Bundeszuschuss Gesundheitsfonds), das GKV-Finanzstruktur- und Qualitätsweiterentwicklungsgesetz und das 1. Pflegestärkungsgesetz.
Noch eindrucksvoller ist die Zahl der Gesetze, die sich noch im parlamentarischen Verfahren befinden: das GKV-Versorgungsstärkungsgesetz, das Präventionsgesetz, das E-Health-Gesetz, das Hospiz- und Palliativgesetz, das Krankenhaus-Strukturgesetz, ein Anti-Korruptionsgesetz und das Tarifeinheitsgesetz. Zu erwarten sind weiterhin Entwürfe für das 2. Pflegestärkungsgesetz, für ein Psychotherapeutengesetz, für ein weiteres Arzneimittelgesetz und Gruppenanträge für ein Sterbehilfegesetz. Als weitere Maßnahmen sind ein Masterplan Medizinstudium 2010, zwei weitere Pharmadialogsitzungen und die Abschlussveranstaltung geplant. Wenn die Finanzprognosen stimmen, müsste gegen Ende der Legislatur noch ein GKV-Finanzstärkungsgesetz verabschiedet werden. Allerdings könnte eine gute konjunkturelle Entwicklung die Koalition über die nächsten Wahlen hinüberretten, ohne dass die GKV-Finanzen durch Sparmaßnahmen abgefedert werden müssten, vielleicht schafft auch das scheinbar geplante Arzneimittelgesetz Luft. Es ist kaum damit zu rechnen, dass vor Wahlen der allgemeine Beitragssatz schlicht angehoben wird, eher wird man ein Aus-weichen in Zusatzbeiträge in Kauf nehmen – zu diesem Zeitpunkt jedoch ebenfalls ein heißes Eisen. Die konkreten Vorhaben sollen spätestens Mitte 2016 abgearbeitet sein – eine Mammutaufgabe. Noch nie hat eine Koalition in einem solchen Tempo ein derart umfangreiches Programm abgearbeitet. Selbst wer sich tagtäglich ausschließlich mit Gesundheitspolitik befasst, kann angesichts dieser Fülle den Überblick über die Einzelregelungen verlieren. Für Versicherte, Patienten und im Gesundheitswesen Tätige ist dies ein Gesetzesdschungel, dessen Regelungen nicht mehr rezipiert und verstanden werden können. Es scheint, als habe sich Gesetzgebung von denen, die sie betrifft, abgehoben und verselbstständigt.
Bürgernähe wird dieser Marathon kaum erzeugen – die Kehrseite dieses Bienenfleißes. Doch nur selten hat man die Chance, über derartig komfortable Mehrheiten zu verfügen. Eine bürgernahe Politik ist aber gerade in Zeiten von Politikverdrossenheit und Unverständnis über das Handeln der Politiker von zentraler Bedeutung. Bekanntermaßen ist Masse nicht immer Klasse. Schon heute werden Stimmen laut, dass das Krankenhaus-Strukturgesetz keine wirkliche Reform beinhaltet, auch das GKV-Versorgungsstärkungsgesetz erfährt vielfältige Kritik, wie auch andere Gesetze und Gesetzentwürfe. Darüber mag man nun im Einzelnen streiten, letztlich wird man die konkreten Auswirkungen erst mit einigem zeitlichen Abstand beurteilen können. Noch bleibt also auch die Frage offen, womit sich die Große Koalition ab Mitte 2016 bis zum Oktober 2017 beschäftigen will. Wird dann Stillstand der Gesetzgebung herrschen oder ein GKV-Finanzstärkungsgesetz in Angriff genommen? Wird man einige schöne Projekte verfolgen, oder wird es die Zeit der Lobbyisten werden, um vielleicht sogar wahlwirksame Projekte, die von den BürgerInnen mit Wohlwollen begleitet werden, zu beschließen? Zeit dafür wäre noch genug, aber es müssten Projekte sein, die nicht viel kosten und in der Öffentlichkeit höchst positiv besetzt sind. Man muss sich nicht sorgen, dass hier ein Mangel an Ideen auftreten könnte. Den Lobbyisten, zu denen auch die Organisationen der Zahn ärzteschaft gehören, wird sicherlich Passendes einfallen, was im harten politischen Alltag sonst einen KW-Vermerk erhält.
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