Menschen mit Behinderung: So geht das Zähneputzen!
Menschen mit geistiger Behinderung zeigen eine höhere Karieserfahrung, einen niedrigeren Sanierungsgrad und deutlich mehr fehlende Zähne als Menschen ohne Behinderung [Nitschke et al., 2012]. Daher sind alle Möglichkeiten eines modernen Präventionsmanagements zu nutzen, insbesondere vor dem Hintergrund, dass Menschen mit geistiger Behinderung inzwischen eine nahezu gleich hohe Lebenserwartung besitzen wie die Allgemeinbevölkerung.
Zähneputzen: am besten im Sitzen
Zum Zähneputzen benötigen die meisten erwachsenen Menschen mit geistiger Behinderung Unterstützung. Daher sind neben der Instruktion der Patienten auch die Unterweisung und die Motivation der betreuenden Mitarbeiter auf den Wohngruppen und der Angehörigen zu Hause wichtig [Kaschke, 2008]. Bei Erwachsenen hat es sich bewährt, dass dieser vor dem Waschtisch auf einem Hocker sitzt.
Die sitzende Position hat den Vorteil, dass der Klient nicht wegläuft und auch kleine Betreuende gut an den Mund herankommen. Der Putzer steht hinter dem Klienten und umfasst dessen Kopf mit dem linken Arm. Der Kopf wird so durch Arm und Oberkörper des Putzers gestützt und mit der linken Hand können Lippe und Wange abgehalten werden [Elsäßer, 2005]. Mit der rechten Hand wird die Zahnpflege durchgeführt. Die Putzbewegungen sind bei dieser Haltetechnik identisch mit denen, die man bei sich selbst durchführt.
Es muss also nicht „umgedacht“ werden. In behindertenbeziehungsweise altengerechten Bädern kann der Badspiegel geneigt werden, so dass die Zahnpflege im Spiegel beobachtet werden kann. Geputzt wird immer nach dem gleichen Schema. Am einfachsten ist es, wenn mit der Reinigung der Vestibulärflächen begonnen wird, da diese auch bei geschlossenen Zahnreihen geputzt werden können. Es werden nur kleine Bewegungen, kreisend oder rüttelnd, auf der Stelle mit anschließendem Auswischen, durchgeführt oder es wird eine elektrische Zahnbürste benutzt.
Als erstes werden die Zahnaußenflächen der oberen linken Kieferhälfte, danach die der unteren linken Kieferhälfte, die Außenflächen der unteren Frontzähne und dann die Zahnaußenflächen der rechten unteren Kieferhälfte gereinigt. Am Schluss werden die Außenflächen der oberen rechten Kieferhälfte und der Oberkieferfrontzähne geputzt. Nun folgen die Innenflächen. Diese sind am schwierigsten zu reinigen. Auch hier sollte die oben beschriebene Reihenfolge links oben – links unten – Front unten – rechts unten – rechts oben – Front oben eingehalten werden. Zuletzt werden die Kauflächen mit dieser Systematik gereinigt. Keinesfalls sollte von vorn, sich gegenüberstehend, in der Mundhöhle stochernd geputzt werden.
###more### ###title### Der richtige Umgang mit Bürste, Pasta und Co. ###title### ###more###
Der richtige Umgang mit Bürste, Pasta und Co.
Bis auf wenige Ausnahmen können die meisten geistig und mehrfach behinderten Erwachsenen nicht die feinmotorischen Bewegungen ausführen, die für eine effiziente Zahnpflege notwendig sind. Auch für Putzende ist es schwierig, in einer fremden, sich bewegenden Mundhöhle, eine korrekte Putztechnik durchzuführen. Für Handzahnbürsten werden zwar verschiedene Modifikationen am Griff beschrieben, trotzdem bleiben die notwendigen Kleinstbewegungen eine Herausforderung für die Beteiligten.
Elektrische Zahnbürsten sind daher in den meisten Fällen das Mittel der Wahl und haben sich bei Menschen mit Behinderung, sofern von ihnen die Geräusche und die Vibrationen toleriert werden, bewährt. Elektrische Zahnbürsten besitzen einen breiten Griff, führen die notwendigen Feinbewegungen durch und müssen „nur“ an den richtigen Stellen platziert werden. Inzwischen sind ja auch elektrische Zahnbürsten mit Kontrolle der Putzzeit und des Anpressdrucks sowie mit Spaßfaktoren (Smiley auf Display, Melodien) auf dem Markt. Ein hilfreicher Nebeneffekt ist, dass selbst behinderte Patienten mit Abwehrhaltung problemlos professionelle Prophylaxemaßnahmen zulassen, wenn sie elektrische Zahnbürsten gewohnt sind.
Elektrische Bürsten: das Mittel der Wahl
Weil häufig geschrubbt wird, sollten nicht-abrasive Zahnpasten angewandt werden. Dass diese fluoridiert sein sollten, versteht sich von selbst. Auch die regelmäßige häusliche Anwendung von Fluorid-Gelees sollte empfohlen werden. Zu beachten ist, dass die meisten erwachsenen Menschen mit Behinderung am Essen in der Werkstatt teilnehmen. Da bis heute in Großküchen kein fluoridiertes Speisesalz verwendet wird, müssen lokale Fluoridierungsmaßnahmen zu Hause oder in der Praxis konsequent durchgeführt werden.
Leider gibt es noch keine Möglichkeit, den karies- und parodontitisverursachenden Biofilm ohne mechanisches Eingreifen von der Zahnoberfläche zu entfernen. Betreuende sollten stets darauf hingewiesen werden, dass selbst die beste Mundspüllösung und die teuerste Munddusche den täglichen Einsatz einer Zahnbürste nicht ersetzen können. Wenn unterstützend Mundspüllösungen eingesetzt werden, muss sichergestellt sein, dass diese nicht geschluckt werden.
Auch Zahnputzfingerlinge auf Mikrofaserbasis können die Zahnpflegemaßnahmen nur ergänzen. In manchen Fällen kann eine Dreikopfzahnbürste empfohlen werden. Die Putzenden sollten bezüglich der Handhabung aber gut instruiert werden. Auch sollte zahnärztlich geprüft werden, ob die Borsten der seitlichen Borstenfelder den Zahnfleischsaum bei langen klinischen Kronen oder Attachmentverlusten überhaupt erreichen. Als sehr hilfreich haben sich Zahnputzsanduhren bewährt, um die Putzzeit zu visualisieren.
Zwang erzeugt nur Abwehr
Mundsperrer werden nur sehr selten empfohlen. Zwang erzeugt nur Abwehr. Zähneputzen ist eine pflegerische Aufgabe und eine pädagogische Herausforderung und muss auch so den Betreuenden, meist Heilerziehungspfleger, vermittelt werden. Nur bei Schwerstpflegebedürftigen finden Mundsperrer im Einzelfall Anwendung. Diese dürfen aber nicht aus Metall sein, wie sie für Behandlungen in Narkose verwendet werden. Im Pflegebedarfshandel sind Mundkeile aus Schaumstoff für den individuellen Gebrauch erhältlich. Alternativ können auch große Absaugkanülen aus der Zahnarztpraxis zwischen die Zahnreihen geschoben werden. Für Patienten mit erhöhtem Aspirationsrisiko zum Beispiel Magen-(PEG-)Sondenträger oder Patienten im Wachkoma wird eine spezielle Zahnbürste eingesetzt. Diese wird an eine kleine Absaugung, wie sie auf jeder Pflegestation zur Verfügung steht, angeschlossen. So kann schon während des Putzens der Schaum abgesaugt und Aspirationen können verhindert werden.
Bei Schwerstpflegebedürftigen muss auch auf die Mundschleimhaut geachtet werden, die stets mit angefeuchteten Wattestäbchen oder Tupfern auf Klemmen feucht gehalten werden muss. Eine trockene Schleimhaut schmerzt und bietet Eintrittspforten für Erreger. Lemonsticks sind für die Daueranwendung nicht geeignet, da sie wasserentziehend wirken. Ist überhaupt keine Zahnpflege möglich, kann ein Chlorhexidin-Gel temporär angewandt werden. Dies muss aber engmaschig zahnärztlich kontrolliert werden.
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Die besten Tipps
Zahnpflege ist eine mühsame und für die meisten Mitarbeiter in Behindertenwohneinrichtungen, aber auch für die Angehörigen eine ungeliebte Tätigkeit, die gerne vernachlässigt wird. Umso wichtiger ist es für die betreuende Zahnarztpraxis, immer wieder auf die Wichtigkeit des Zähneputzens hinzuweisen. Motivierende Formulierungen und Argumente sind zum Beispiel Gesund beginnt im Mund, Lebensqualität, Vermeidung von Mundgeruch.
Zähneputzen muss auch für Menschen mit Behinderung zur sozialen Norm werden. Daher sollte die Zahnpflege zum Ritual werden: Es wird immer, gleichgültig wer die Zahnpflege durchführt, nach dem gleichen Schema geputzt. Dies ist nicht immer einfach zu realisieren, da auf Wohngruppen mehrere Mitarbeiter tätig sind, mit unterschiedlichen Qualifikationen und den verschiedensten eigenen Erfahrungen zum Thema Zahngesundheit, die bewusst oder unbewusst in die Zahnpflege ihrer Klienten einfließen. So sollte die Position zwischen Putzer und Klient sowie die Reihenfolge, in der die Zahnoberflächen gereinigt werden, unverändert bleiben. Selbst die vorbereitenden Maßnahmen wie Tube öffnen, Deckel ablegen, Zahnpasta auf die Bürste auftragen et cetera laufen stets gleich ab.
Rituale pflegen
Rituale sind ein wichtiger Aspekt in der Sonderpädagogik. Die Putzenden sollten mit viel Phantasie an die Zahnpflege herangehen. Beim einen rauscht ein Schnellzug durch die Mundhöhle, ein anderer fährt mit seinen Zähnen durch eine Autowaschstraße. Der Dritte liebt es, die weißen Wölkchen von den Zahnoberflächen wegzuwischen. Ein Lied, gesungen oder mit dem Smartphone abgespielt, verkürzt die Putzzeit.
Angehörige und Betreuende sollten sich nicht entmutigen lassen, wenn die Zähne zusammengepresst werden und nur vestibulär, aber nicht oral geputzt werden kann. So werden immerhin ein Drittel aller mit der Zahnbürste erreichbaren Zahnoberflächen gereinigt und Fluoride gelangen in die Mundhöhle. Es sollte vermittelt werden, dass es durchaus sinnvoll ist, die Zähne am Nachmittag in ruhiger Atmosphäre ausführlich und gründlich zu putzen, wenn es abends schnell gehen muss oder Personalmangel herrscht.
Der Aufklärung bedarf es auch immer noch in Bezug auf eine zahngesunde Ernährung. Möchten Menschen mit geistiger Behinderung sich etwas Luxus leisten, greifen sie oft nach Süßigkeiten. Viele können sich selbst Süßigkeiten und gesüßte Getränke im Supermarkt kaufen. Viele Betreuende und Angehörige beschenken und belohnen noch zu oft mit Süßigkeiten. Menschen mit Behinderung imitieren häufig ihre Mitmenschen und übernehmen dann auch deren Ernährungsgewohnheiten. Auch beim Rauchen ist dies leider festzustellen und sollte immer wieder thematisiert werden.
###more### ###title### Warum die Prophylaxe für Behinderte noch nicht selbstverständlich ist ###title### ###more###
Warum die Prophylaxe für Behinderte noch nicht selbstverständlich ist
Noch zu oft werden Menschen mit Behinderung nur befundbeziehungsweise beschwerdeorientiert behandelt. Es ist zwar heute selbstverständlich, dass Schmerzbehandlungen durchgeführt werden. Es ist aber noch nicht selbstverständlich, dass erwachsene Menschen mit Behinderung in ein Prophylaxeprogramm eingebunden werden. Dies hat verschiedene Ursachen. Zum einen ist es zunehmend ein Zeitproblem für Betreuende, ihre Klienten zum Zahnarzt zu begleiten.
Zum anderen sind auch die meisten Praxen konzeptionell nicht dafür eingerichtet, Patienten mit Behinderung in den Praxisablauf zu integrieren. Und schließlich wird der zeitliche und personelle Mehraufwand im Bema nicht abgebildet.
Der Schlüssel für eine erfolgreiche Behindertenzahnheilkunde
Ein individuell angepasstes Prophylaxemanagement ist der Schlüssel und die Basis für eine erfolgreiche und nachhaltige Behindertenzahnheilkunde. Prophylaxemaßnahmen sind schmerzfrei und werden daher gut akzeptiert. Sie sind vertrauensbildend, bauen Ängste ab und fördern die Kooperation. Der Einstieg in die Behandlung wird erleichtert.
Bei vielen Menschen mit geistiger und mehrfacher Behinderung sind angepasste individual-prophylaktische Maßnahmen im Wachzustand möglich, während Behandlungen aufwendig in Narkose durchgeführt werden müssen. Prophylaxemaßnahmen sind daher auch ergebnissichernd und können die zeitlichen Intervalle zwischen Behandlungen in Narkose erheblich verlängern. Und schließlich können regelmäßige Prophylaxe- maßnahmen Übersensibilitäten in der Mundhöhle abbauen helfen.
Die individuell angepassten Prophylaxesitzungen orientieren sich an den allgemein gültigen Standards der professionellen Zahnreinigung. Das Anfärben von Belägen ist eine gute Möglichkeit, Begleitpersonen zu zeigen, wo Hygienedefizite bestehen. Ob harte Beläge mit dem Zahnsteinentfernungsgerät oder mit Handinstrumenten entfernt werden müssen, ist von der Kooperation des Patienten abhängig. Eine Politur ist meistens und die Applikation eines Fluoridlacks immer möglich.
Tipps für eine zahngesunde Ernährung und zur häuslichen Zahn- und Zahnersatzpflege sowie zur Motivation der Patienten und der Begleitperson runden die Sitzung ab. Häufig muss mit doppeltem Personaleinsatz gearbeitet werden. In den meisten Fällen ist eine Assistenz zum Abhalten und Saugen notwendig. In vielen Fällen muss auch der Kopf gestützt werden, um Verletzungen bei abrupten Bewegungen zu vermeiden.
Dr. Guido ElsäßerReferent für Behindertenzahnheilkunde der Landeszahnärztekammer Baden-WürttembergSchlossberg 35, 71394 Kerneninfo@dr-guido-elsaesser.de