Kassenkampf in Berlin
Sicher haben Sie schon mal von diesem hochkomplizierten Finanzierungsverteilsystem für die gesetzlichen Krankenkassen gehört. Die genaue Wirkungsweise und das Ineinandergreifen der vielen Stellschrauben verstehen freilich nur Kenner. Trotzdem sprechen im Streit um das Konstrukt mit dem schwierigen Namen morbiditätsorientierter Risikostrukturausgleich, kurz Morbi-RSA, viele mit. Aus gutem Grund: Es geht um rund 200 Milliarden Euro im Jahr für eine gute medizinische und pflegerische Betreuung von rund 70 Millionen Deutschen.
Um das schwierige Geflecht des Morbi-RSA zu verstehen, ist ein Blick in die Vergangenheit nötig. Vorläufer des Morbi-RSA war der Risikostrukturausgleich, 1994 eingeführt. Er war nach Ansicht aller Experten die wesentliche Voraussetzung für gleiche Startchancen im Wettbewerb und bei der freien Kassenwahl. Zur Erinnerung: Seit 1996 können sich alle Arbeiter und Angestellte ihre gesetzliche Krankenkasse selbst aussuchen.
Ein finanzieller Ausgleich zwischen den Krankenkassen wurde also eingeführt. In den gemeinsamen Topf zahlten alle Kassen für jedes Mitglied einen bestimmten Prozentsatz ein. Ausschlaggebend waren die Faktoren Alter, Geschlecht und Erwerbsunfähigkeit. Die Krankheitshäufigkeit, also die Morbidität, spielte dagegen fast keine Rolle. Das führte zu einer Risikoselektion, das heißt, die Krankenkassen warben vor allem um gesunde und junge Mitglieder.
Bereits 1999 forderte der Bundestag die Bundesregierung auf, die Wirkung des RSA untersuchen zu lassen. Ergebnis dieser Studie: Die gleichmäßige Verteilung von besonders teuren Kassenmitgliedern wurde nicht erreicht. Der RSA müsse reformiert werden, um diese Wettbewerbsverzerrung zu verhindern.
Das 2001 verabschiedete „Gesetz zur Reform des Risikostrukturausgleichs in der gesetzlichen Krankenversicherung“ sollte die Mängel beseitigen. Schwerpunkt der Reform war die Einführung sogenannter Disease-Management-Programme (DMP) ab 1. Juli 2002. Auf der Basis von Leitlinien wurden strukturierte Behandlungsprogramme für ausgewählte Krankheiten mit dem Ziel erarbeitet, die Gesundheitsversorgung chronisch Kranker qualitativ und wirtschaftlich spürbar zu verbessern und das Auftreten von Folgeschäden vermindern. Zur Überbrückung bis zur Einführung eines Morbi-RSA wurde 2003 ein Topf für Ausgleichszahlungen für besonders teure, chronisch kranke Versicherte eingeführt. Bis 2009 flossen die Beiträge der Versicherten direkt an die jeweilige Krankenkasse, so dass die Ausgleichszahlungen der Krankenkassen untereinander sichergestellt wurden. Es gab keinen Pool, sondern die Finanzen wurden nach festgelegten Kriterien wie Alter, Geschlecht und Teilnahme an einem DMP-Programm umverteilt.
Das änderte sich, als die Herzstücke der Finanzierung der GKV eingeführt wurden: der Morbi-RSA und der Gesundheitsfonds als Geldsammelstelle für die von den Krankenkassen eingezogenen Beiträge. Zugleich wurde von der Bundesregierung für alle gesetzlich Versicherten ein einheitlicher Beitragssatz festgelegt.
Für Versicherte, die zu einer festgelegten Risikogruppe gehören, erhält eine Kasse durch den Morbi-RSA mehr Geld aus dem Gesundheitsfonds. Doch wurden nicht alle Krankheiten aufgenommen. Der Gesetzgeber legte fest, dass zur direkten Berücksichtigung der Morbidität 50 bis 80 kostenintensive, chronische Krankheiten mit schwerwiegendem Verlauf ausgewählt werden. Um diese Krankheiten zu definieren, sollten die ambulanten und stationären Diagnosen sowie Arzneimittelverordnungen der Versicherten herangezogen werden.
Erstmals wurde diese Auswahl 2008 vom Bundesversicherungsamt vorgenommen. Seitdem wird die Liste jedes Jahr überarbeitet, mit der Folge, dass bestimmte Krankheiten in einem Jahr eine Zuweisung über den Morbi-RSA erhalten, das Jahr darauf nicht.
Streit, Rücktritte, Prozesse
Bereits vor seiner Einführung hagelte es Kritik am Morbi-RSA. 2007 bemängelte der Wissenschaftliche Beirat zur Weiterentwicklung des RSA, dass große Volkskrankheiten nichts im Morbi-RSA zu suchen hätten. Nichts änderte sich, der Beirat trat zurück. Der neue Beirat mahnte an, dass eine Einbeziehung von Regionalfaktoren nicht ausreichend berücksichtigt wurde: In hochpreisigen Großstädten zahlen Kassen drauf, in ländlichen Regionen erhalten sie zu wenig Geld. Die Steuerungsmöglichkeiten seitens der Krankenkassen schätzten die Wissenschaftler als „begrenzt“ ein. Passiert ist: wiederum nichts. Seit dieser Legislaturperiode sorgt der Finanzausgleich erneut für Zündstoff: Die Krankenkassen lassen nichts unversucht, die Politik zu einer Reform zu drängen. Aus gutem Grund: Die jetzige Systematik treibt die Schere zwischen den Kassen mit Über- und Unterdeckung kontinuierlich auseinander. Nur die Kassenart AOK schrieb 2015 schwarze Zahlen.
Für Änderungen am Morbi-RSA bediente man sich zuerst juristischer Wege: So entschied das Landessozialgericht NRW im Juli 2013 in sechs Verfahren, dass das Bundesversicherungsamt die Zuweisungen für die Kassen aus dem Gesundheitsfonds für 2013 neu berechnen muss. Die Knappschaft, die AOKen und einige Betriebskrankenkassen hatten gegen das Berechnungsverfahren für den Morbi-RSA geklagt.
Dabei ging es um die aus ihrer Sicht unangemessene Berücksichtigung der Kosten für die Behandlung von Patienten, die im Laufe eines Jahres starben. Bis zu diesem Punkt wurden die Kosten auf das ganze Jahr hochgerechnet, bei der Zuweisung der Pauschalen aus dem Gesundheitsfonds aber nur die Tage berücksichtigt, an denen die Patienten noch gelebt hatten. Allein 2013 hatte das neue Berechnungsverfahren unter der Berücksichtigung Verstorbener rund 450 Millionen Euro Umverteilung zur Folge. Nutznießer war vor allem – die AOK.
2014 reagierte die Koalition und veränderte mit dem GKV-Finanzstruktur- und Qualitätsweiterentwicklungsgesetz die Berechnungen der Zuweisungen für Krankengeld und Auslandsversicherte, um die Zielgenauigkeit bei den Zuweisungen zu erhöhen. Die Kassenszene beruhigte sich vorerst – bis ein Urteil des Landessozialgerichts Essen, angestrebt von der AOK Rheinland-Hamburg, die rückwirkenden Regelungen dieses Gesetzes für rechtswidrig erklärte. Das Urteil hätte für diese AOK einen nicht unerheblichen Geldsegen bedeutet.
Nach wiederum erheblichem Protest des nicht von diesem Urteil profitierenden Teils der Kassenlandschaft reagierte die große Koalition – zunächst einträchtig – mit einigen Änderungsanträgen zum Transplantationsregistergesetz, die die betreffenden gesetzlichen Regelungen zum Morbi-RSA rechtssicher und das Urteil des LSG Essen hinfällig machen sollten. Solche Anhängsel an schon im Beratungsverfahren befindliche Gesetze sind nicht unüblich, um möglichst schnell das Bundesgesetzblatt zu erreichen. Kurz vor der Beschlussfassung im Gesundheitsausschuss des Bundestages kam es dann zur Revolte innerhalb der SPD. NRW-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft und Hamburgs Erster Bürgermeister Olaf Scholz sollen sich persönlich für die AOK Rheinland-Hamburg stark gemacht haben, genau wie auch Ex-Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt (Wahlkreis Aachen) und SPD-Vize in der Bundestagsfraktion Prof. Karl Lauterbach (Wahlkreis Köln Mülheim). Jetzt schließt sich der eingangs geschilderte Kreis: Der Wahlkampf in NRW im Mai 2017 lässt grüßen.
Wahlkampf à la Schmidt
Der Staat könne jetzt nicht rückwirkend in Besitzstände mit Regelungen eingreifen, die eine Schlechterstellung einiger bedeuteten, sagte Ulla Schmidt bei einem bemerkenswerten Auftritt auf einer Veranstaltung der Schwenninger Krankenkasse in Berlin.
Gegen den Willen der eigenen SPD-Gesundheitspolitiker in der Bundestagsfraktion, der Unionsabgeordneten und Bundesgesundheitminister Hermann Gröhe setzten die SPD-Spitzen durch, dass die Änderungsanträge in letzter Minute zurückgezogen wurden. Einen solchen Vorgang hat man im gesundheitspolitischen Berlin lange nicht mehr erlebt. Nun soll auf Betreiben von Lauterbach nach der Sommerpause eine Lösung gefunden werden, die alle Seiten zufrieden stellt – eine Quadratur des Kreises.
Doch auch damit wäre die Schlacht um den Morbi-RSA noch längst nicht beendet. Mit Ausnahme der AOK, die sich für eine systematische Evaluation stark macht, fordern alle anderen Kassenarten schnell weitere Reformschritte am Morbi-RSA, möglichst noch in dieser Legislaturperiode. Sie haben sich dazu mit externen und internen Gutachten aller Art zu den unterschiedlichsten Aspekten munitioniert: Erwerbsminderungsrentner, Prävention, Hochrisikopool, regionale Kostenstrukturen – um nur einige Stichworte zu nennen. Auch ein vom Bundesversicherungsamt beauftragtes Gutachten zum Krankengeld liegt mittlerweile auf dem Tisch.
Was heißt schon „fair“?
Die große Koalition will sich aber erklärtermaßen diesen „Tort“ in dieser Legislaturperiode noch nicht antun und den Brand begrenzt halten. Aber die Büchse der Pandora ist weit geöffnet. Der Morbi-RSA soll einen fairen Finanzausgleich bewirken, doch was heißt schon „fair“?
Angesichts knapper werdender Finanzmittel und steigender Zusatzbeitragssätze, die wiederum Versichertenbewegungen auslösen, wird dies die zentrale Baustelle der gesetzlichen Krankenversicherung in den nächsten Jahren sein – und sich auf alle Bereiche des Gesundheitswesens auswirken. Die Leistungserbringer, auch die Zahnärzteschaft, sind gut beraten, diesen Prozess genau zu beobachten, zu analysieren und rechtzeitig Konsequenzen zu ziehen.
Prof. Dr. Andreas Lehr, LetV-Verlag Berlin, Universität Köln