Die Etablierung der Schulzahnkliniken
Bis in die 1870er-Jahre hinein gab es weder seitens der Behörden noch seitens der Zahnärzte Aktivitäten zum Aufbau einer organisierten Schulzahnpflege. Die zahnärztlichen Verbände waren damals vor allem damit beschäftigt, die in großer Zahl aufkommenden nichtapprobierten Zahnbehandler abzuwehren. Erste öffentlichkeitswirksame Initiativen gingen 1879 vom preußischen Hofzahnarzt Carl Zimmer aus. Er führte in jenem Jahr erstmals Reihenuntersuchungen an Kindern durch. Seit 1885 behandelte der Straßburger Zahnarzt Ernst Jessen zudem unentgeltlich bedürftige Volksschulkinder, 1887 gründete Karl Kulius in Hannover privat eine Poliklinik zur Behandlung von Armen [Groß, 1994]. In der Folgezeit nahm das Thema Schulzahnpflege Fahrt auf: 1889 erschien das erste Werk zur Schulzahnhygiene: Eulenberg und Bach betonten in ihrer Arbeit „Schulgesundheitslehre“ erstmals die Bedeutung gesunder Zähne für die körperliche Entwicklung. 1895 erschien ein „Handbuch der Schulhygiene“ von Burgerstein und Netolitzky mit der Forderung nach einer Institutionalisierung der Schulzahnpflege [Groß, 1994].
1894 wurde auf dem „Internationalen Kongreß aller für die Volkshygiene arbeitenden Ärzte und Zahnärzte“ in Kopenhagen eine richtungsweisende Resolution verabschiedet: „Der Kongreß empfiehlt, in allen Ländern Kommissionen zu bilden, welche es sich zur Aufgabe machen, die Zahnverhältnisse der betreffenden Länder statistisch festzuhalten [...] Als geeignete Maßregel zu diesem Zwecke empfiehlt der Kongreß in erster Linie die Aufklärung des Volkes über rationelle Zahnpflege und Zugänglichmachung unentgeltlicher zahnärztlicher Hilfe für die Kinder der unbemittelten Klassen“ [Klein, 1910]. Im gleichen Jahr hielt Paul Ritter in Berlin beim „Verein für innere Medizin“ einen Vortrag über die Bedeutung der Schulzahnhygiene. 1895 wurde in Hamburg eine Stiftung gegründet, die die Behandlung mittelloser Volksschüler sicherstellen sollte. In der Folgezeit erschienen auch im Deutschen Reich aussagekräftige statistische Untersuchungen zur Verbreitung von Karies bei Schulkindern. Insbesondere die Zahnärzte Fenchel, Körner und Röse traten mit derartigen Arbeiten an die Öffentlichkeit [Groß, 1994].
Das preußische Kultusministerium reagierte auf diese Hinweise 1898 mit einem Erlass an die Schulen: „Wir ersuchen [...] die Schulbehörden, dafür Sorge zu tragen, dass bei dem naturkundlichen Unterricht regelmäßig auf die Bedeutung der rationellen Zahn- und Mundpflege, natürlich auch schon in prophylaktischer Beziehung, nachdrücklich hingewiesen und den Schülern die hierfür erforderliche Anleitung gegeben wird“ [Zahn- und Mundhygiene, 1903]. Aus zahnärztlicher Sicht war die Verfügung nicht mehr als ein erster Schritt – die Einführung zahnärztlicher Behandlungsmaßnahmen wurde hier noch nicht angesprochen [Groß, 1994].
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In den Händen sorgfältig geschulter Männer
Die erste Schulzahnklinik wurde im Oktober 1902 in Straßburg eröffnet. Ihr Leiter, der Zahnarzt Ernst Jessen, forderte den Staat auf, dafür zu sorgen, „daß die Kenntnis von der Bedeutung einer geregelten Zahnpflege für die Gesundheit des ganzen Körpers eindringe in das Volk durch die Schule und Sorge trage, daß die Ausübung der Zahnheilkunde in den Händen gut vorbereiteter und sorgfältig geschulter Männer liege, damit nicht so viele Menschen durch Unberufene Schaden erleiden“[Klemm, 1952].
Der Bau der Straßburger Klinik legte den Grundstein für die Integration zahnärztlicher Sozialfürsorge ins deutsche Gesundheitswesen. Sechs Wochen später wurde in Darmstadt bereits eine zweite Schulzahnklinik gegründet. Sie entstand aufgrund einer Initiative des Vereins Hessischer Zahnärzte und ging später in die Hände der Stadt über. Schließlich setzte der wissenschaftlich ausgerichtete Central-Verein deutscher Zahnärzte (CVdZ) – die Vorgängerinstitution der DGZMK – ebenfalls noch 1902 eine elfköpfige Kommission zur Förderung der Schulzahnpflege ein.
Für jede Stadt eine Schulzahnklinik!
Auf der Jahresversammlung des CVdZ forderten die Mitglieder die Anstellung von Schulzahnärzten, aber auch eine umfassende Zahnfürsorge in Armee und Marine. 1904 wurde schließlich auch der berufspolitisch orientierte Vereinsbund deutscher Zahnärzte (VbDZ) aktiv: „Die Anwesenheit des Ministe- rialvertreters dieser Hauptversammlung 1904 und seine Erklärungen hinsichtlich eines besten Fortgangs der in Arbeit befindlichen Petitionen waren verheißungsvoller denn sonst.
Die von der Zahnärzteschaft inzwischen eingeführten Fortbildungskurse fanden Anerkennung und Dank, und es lag nahe, auf bereits in Straßburg und Darmstadt bestehende Schulzahnkliniken hinzuweisen, um damit den Wunsch laut werden zu lassen, solcher gestalt getroffene wohllöbliche Maßnahmen von hygienischer Bedeutung auch auf andere Orte auszudehnen“ [Seefeldt, 1937].
Die Forderungen der Zahnärzteschaft nach einer lückenlosen zahnärztlichen Betreuung an deutschen Schulen wurden nun drängender. Jessen sprach sich dafür aus, dass „jede Stadt eine Schulzahnklinik“ erhalten müsse, „und auch auf dem Lande die Zahnpflege“ einzuführen sei [Deutsche zahnärztliche Wochenschrift, 1907]. Bis 1908 wurden in 20 Städten Schulzahnkliniken eingerichtet [Groß, 1994].
Bereits 1907 war auf Initiative des „Berliner Zahnärztlichen Standesvereins“ eine „Kommission zur Einführung zahnärztlicher Hilfe an Krankenhäusern und Schulen“ gegründet worden. Den Vorsitz übernahm der Zahnarzt Erich Schmidt. Auch der Obermedizinalrat Kirchner trat dem Vorstand bei. Er schlug vor, einen „Verein zur Förderung der Schulzahnpflege“ zu gründen. Nach eingehender Beratung beschloss man am 19. Dezember 1908 die Konstituierung des „Deutschen Zentralkomitees für Zahnpflege in den Schulen“. Dem Komitee gehörten „Vertreter des Kultus- und Kriegsministeriums, des Reichsamtes des Innern, des Kaiserlichen Gesundheitsamtes, der städtischen Behörden von Berlin und der Vororte sowie angesehene Ärzte, Zahnärzte, Schulmänner, Verwaltungsbeamte und Finanzleute aus allen Teilen Deutschlands“ [Cohn, 1909] an.
###more### ###title### Zahnpflege mit staatlicher Unterstützung ###title### ###more###
Zahnpflege mit staatlicher Unterstützung
In Bezug auf die Schulzahnpflege wurde der deutschen Zahnärzteschaft damit vonseiten der Behörden die Protektion zuteil, die sie in ihren Auseinandersetzungen mit den Dentisten, den zahnärztlich tätigen Ärzten und den Krankenkassen vergeblich gefordert beziehungsweise erhofft hatte. So gehörte es zu den Aufgaben des Gremiums, die „Hebung der Zahnpflege in allen Kreisen des deutschen Volkes“ sicherzustellen (§ 2) durch
• „1. Oeffentliche Vorträge über Zahnpflege
• 2. Herausgabe allgemein verständlicher Schriften über Zahnpflege
• 3. Einführung von Belehrung über Zahnpflege in den Unterricht aller Schulgattungen
• 4. Förderung der Bestrebungen zur Einführung einer geordneten Zahnpflege in der Bevölkerung
• 5. Zusammenfassung schon bestehender und Begründung neuer Einrichtungen für Zahnpflege in den Schulen
• 6. Einwirkung auf die staatlichen und kommunalen Körperschaften zur Förderung der satzungsmässigen Zwecke“ [Satzungen des Deutschen Zentralkomitees, 1910].
###more### ###title### Zahnhygiene kommt auf den Lehrplan ###title### ###more###
Zahnhygiene kommt auf den Lehrplan
Das preußische Kultusministerium veranlasste die königlichen Provinzialschulkollegien und Regierungen mittels mehrerer Runderlasse zur Unterstützung der Arbeit des Komitees. Während die Kommunal behörden mit der Errichtung, Verwaltung und Finanzierung der Schulzahnpflegestätten betraut wurden, kam dem Zentralkomitee eine beratende Tätigkeit zu. Wie aus den Satzungen deutlich wird, stellte die Aufklärung der Bevölkerung einen wesentlichen Bestandteil der Arbeiten des Komitees dar.
Die Lehrerschaft wurde aufgefordert, das Thema „Zahnhygiene“ in den Lehrplan einzubeziehen. Hierzu stellte das Zentralkomitee den Schulen kindgerechtes Lehrmaterial über Zahnerkrankungen und zahnärztliche Prophylaxe zur Verfügung. Ein Aufruf wurde veröffentlicht, der sich an alle „staatlichen und kommunalen Behörden, Vereine und an alle Menschenfreunde überhaupt“ [Deutsche zahnärztliche Wochenschrift, 1909] wandte mit der Bitte, die Arbeit des Komitees durch ihren Beitritt und finanzielle Zuwendungen zu unterstützen.
Zur Förderung der Zahnhygiene gründete man lokale Ausschüsse – die ersten entstanden in Großberlin (1909) und Frankfurt (1910). 1909 wies Kirchner in einem Zwölf-Punkte-Programm eindringlich auf die Notwendigkeit regelmäßiger Behandlung aller Schulkinder hin. Zudem wurde eine Pressekommission eingesetzt, die sich um flankierende Veröffentlichungen kümmerte. Darüber hinaus gab man eigens das Organ „Schulzahnpflege“ heraus, das von 1910 bis 1914 in Berlin erschien, im Ersten Weltkrieg dann zeitweilig eingestellt wurde.
Dass die Zahnärzteschaft die Versorgung der Schulkinder nicht allein aus sozialer Verantwortung, sondern auch aus berufspolitischem Interesse verfocht, ergibt sich nicht zuletzt aus der Tatsache, dass man sich bemühte, nicht approbierte Zahnbehandler – die sich nunmehr mehrheitlich Dentisten nannten – von der Teilnahme an der Schulzahnpflege auszuschließen. Da diese jedoch in der Reichsversicherungsordnung (1911) bereits als Kassenbehandler bestätigt – und damit als Zahnbehandler gewissermaßen geadelt – worden waren, blieben derartige Anstrengungen erfolglos.
###more### ###title### „Die überstarke Betonung der Bedeutung der Zähne“ ###title### ###more###
„Die überstarke Betonung der Bedeutung der Zähne“
Gegenwind erfuhren die Zahnärzte aus ärztlichen Kreisen. Hier meldeten sich Vertreter zu Wort, die Zahnpflegemaßnahmen in den Schulen für übertrieben hielten und als modebedingt abtaten. Andere stellten sich auf den Standpunkt, Zahnbefunde seien mit dem gleichen Erfolg durch Schulärzte zu erheben, Schulzahnärzte daher entbehrlich. Vor allem Schulärzte warnten vor einer Überbewertung zahnärztlicher Maßnahmen: „Allein Widerspruch muss erhoben werden gegen die überstarke Betonung der Bedeutung der Zähne, die oft genug gewaltig übers Ziel hinaus schiesst und den Anschein erweckt, als ob alles Weh und Ach des menschlichen Körpers aus diesem einen Punkt zu kurieren wäre und ebenso gegen die gewaltsame Konstruierung von Beziehung zwischen Zähnen und Schule, die es in Wirklichkeit gar nicht gibt“ [Steinhardt, 1913].
Auch die Krankenkassen weigerten sich, die Schulzahnpflege finanziell zu unterstützen [Groß, 1994]. Dass sich die Schulzahnpflege trotzdem als Teilgebiet der kommunalen Gesundheitsfürsorge etabliert, beweist die ständig wachsende Zahl von Schulzahnpflegestätten: 1914 waren schon über 200 – zum größten Teil von Kommunen getragene – Einrichtungen zur Jugendzahnpflege registriert. Längst wurden auch Aufklärungsschriften herausgebracht: 1910 erschien etwa die „Kleine Zahnkunde für Schule und Haus“ von Jessen und Stehle und 1914 brachten Kientopf und Ulkan eine „Zahnhygienische Wandtafel“ zu Demonstrationszwecken in Schulen heraus.
###more### ###title### Schulzahnpflege im Abo ###title### ###more###
Schulzahnpflege im Abo
Doch die neue Entwicklung wurde nicht von allen deutschen Zahnärzten begrüßt. Viele sahen ihre beruflichen Interessen in dem ausgreifenden Schulzahnkliniksystem nicht ausreichend berücksichtigt oder sogar konterkariert. Der Streit der Zahnärzte entbrannte vor allem am System: Während das Zentralkomitee die Gründung von Schulzahnkliniken befürwortete, traten viele Zahnärzte unter Führung einer Mannheimer Gruppierung für die freie Zahnarztwahl ein. So bezeichneten die Vertreter der Mannheimer Zahnärzteschaft die Schulzahnkliniken als Schrittmacher der „Krankenkassenkliniken“.
Hintergrund war die Tatsache, dass die Krankenkassen sich weigerten, die Schulzahnpflege finanziell zu unterstützen. Stattdessen mussten Eltern, die Krankenkassenmitglieder waren, die zahnärztliche Versorgung ihrer Kinder in Kliniken durch Sonderbeiträge sicherstellen. Diese „Abonnements“ galten jeweils nur für ein Jahr und wurden häufig von den Eltern nicht mehr verlängert. Als Folge gingen die Patientenzahlen zurück.
Das eigentliche Ziel der Schulzahnpflege – die langfristige Sensibilisierung der heranwachsenden Bevölkerung für die Bedeutung der Zahnhygiene und eine frühzeitige Anbindung junger Menschen an die Zahnheilkunde – wurde damit nach Ansicht vieler Zahnärzte verfehlt. Eine Ver schärfung der Auseinandersetzung zeichnete sich ab, als die „Deutsche zahnärztliche Wochenschrift“ einen Artikel veröffentlichte, in dem die Nachteile des Kliniksystems zusammengestellt wurden. Dazu zählten unter anderem unverhältnismäßig hohe Kosten und die Störung des Unterrichts [Deutsche zahnärztliche Wochenschrift, 1914].
Ungeachtet dieser Kritik hielt das deutsche Zentralkomitee am System der Schulzahnkliniken fest. Es argumentierte, dass die freie Zahnarztwahl keine Kontrollmöglichkeit beziehungsweise systematische Erfassung erlaube und die Zahlung der Einzelleistungen die Städte finanziell überfordere. In der zahnärztlichen Fachpresse spielte dieser Streitpunkt auch in der Folgezeit eine bedeutende Rolle. Darstellungen und Gegendarstellungen lösten einander ab; die Fronten blieben unbeweglich.
###more### ###title### Stillen und dunkles Brot statt Schulzahnpflege ###title### ###more###
Stillen und dunkles Brot statt Schulzahnpflege
Neben dieser Auseinandersetzung zwischen Befürwortern und Gegnern der Schulzahnkliniken existierte noch eine weitere Gruppe von Zahnärzten, die die schulzahnärztliche Fürsorge per se für verfehlt hielt und die zahnärztliche Prophylaxe zu einer „Brotfrage“ erhob. Jene Zahnärzte forderten eine Rückbesinnung auf frühere Zeiten. So müssten die Mütter wieder zum Stillen der Kinder ermutigt, der Zuckerkonsum gesenkt und die „Eigenbäckerei aus dunklem Mehl“ wieder eingeführt werden.
Grundsätzlich wurde festgestellt: „Abhilfe gegen die Schädigungen, die aus der zunehmenden Stillungsunlust erwachsen, ist nur von einer Aufrüttelung des Gewissens unserer Mütter und von dem guten Beispiel der führenden, intelligenteren Gesellschaftsschichten zu erhoffen. Hier könnten vielleicht die Frauenvereine durch Aussetzung von Praemien oder dergleichen segensreich eingreifen“ [Kunert, 1909]. Einigkeit herrschte jedoch hinsichtlich der Notwendigkeit, innerhalb der heranwachsenden Bevölkerung ein neues zahnhygienisches Bewusstsein zu wecken. Sichtbares Zeichen dafür war, dass der „Wirtschaftliche Verband deutscher Zahnärzte“ 1913 eine Abteilung gründete, die sich explizit mit der Schulzahnpflege befasste.
Mit Beginn des Ersten Weltkriegs endeten die Bemühungen um eine Weiterentwicklung des Schulzahnpflegesystems. Bedingt durch den Kriegseinsatz von Zahnärzten verwaisten 1914 etliche Schulzahnkliniken. In vielen Städten versuchte man mithilfe angehender Zahnärztinnen eine Notversorgung sicherzustellen. Nach dem Krieg entspannte sich die Situation, das System der Schulzahnpflege wurde weiter ausgebaut, und die Zahl der Schulzahnpflegestätten überstieg rasch die Grenze von 200.
Nach wie vor gab es jedoch Unterschiede, was die Trägerschaft betraf. Während die große Mehrzahl der Kommunalbehörden Verträge mit ortsansässigen Zahnärzten abgeschlossen hatte, wurden 70 der 229 Pflegestätten von den Kommunen getragen. Bei 15 weiteren Einrichtungen fungierte die Krankenkasse als Träger. Das Zentralkomitee berief eine „Sonderkommission der Schulzahnärzte“, die im Mai 1919 den Beschluss fasste, das Abonnementsystem abzuschaffen und stattdessen die unentgeltliche Schulzahn- pflege einzuführen.
Am 9. Juli 1922 wurde das „Reichsgesetz für Jugendwohlfahrt“ verabschiedet, in dem die Errichtung von Jugendämtern angeordnet wurde, die die Wohlfahrt schulpflichtiger Jugendlicher außer- halb des Unterrichts gewährleisten sollten. Am Beispiel der Schulzahnpflege lässt sich das Zusammenwirken verschiedener Faktoren der zahnärztlichen Professionalisierung – die zunehmende Bedeutung der sozialen Frage als Zeichen der Zeit, gezielte Strategien der Berufsgruppe und gleichgerichtete behördliche Interessen und Einflussnahmen – verdeutlichen.
So wie die soziale Frage an Bedeutung gewann, rückten Gesundheitsfürsorge, Körperbewusstsein und damit letztlich auch Fragen der Zahnhygiene in den Blickpunkt. Dabei waren es staatliche Repräsentanten, Behörden und Kommunen, die über Institutionen wie das Deutsche Zentralkomitee, die Schirmherrschaft über Schulzahnpflegestätten und die Anstellung von Schulzahnärzten den neuen Stellenwert der Zahnhygiene beschrieben. Nicht zuletzt setzten zahnärztliche Standesvertreter das behördliche Interesse an Maßnahmen der Gesundheitsfürsorge erfolgreich in ihr berufspolitisches Kalkül ein.
###more### ###title### Das Arbeitsfeld des Zahnarztes weitet sich aus ###title### ###more###
Das Arbeitsfeld des Zahnarztes weitet sich aus
Dem Ausbau des Schulzahnpflegesystems lagen verschiedene Motive zugrunde: Zum einen ging es den Zahnärzten um die Sicherstellung der Zahngesundheit in der Bevölkerung. Die Schulzahnpflege befriedigte schlichtweg ein übergeordnetes gesundheitspolitisches Bedürfnis. Zwei weitere Motive waren jedoch aus berufspolitischer Sicht bedeutsamer: So erweiterten die Zahnbehandler über die Schulzahnpflege auch den zahnärztlichen Berufsmarkt und beförderten damit zugleich eine Konsolidierung des zahnärztlichen Berufs. Zudem war die Behandlung von Schulkindern eine Gelegenheit, die begrenzten eigenen Verdienstmöglichkeiten aufzubessern.
Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund ist auch die Diskussion um die Vorteile der freien Zahnarztwahl zu sehen. Damit verbunden war zugleich das Streben nach einer Prädominanz auf dem Berufsmarkt – hier sind die (allerdings zunächst vergeblichen) Bemühungen anzuführen, die Dentisten von der Schulzahnpflege auszuschließen.
Darüber hinaus gelang über die Schulzahnpflege eine Neubewertung des Verhältnisses zwischen Regierungsvertretern und Zahnärzteschaft: Im „Deutschen Zentralkomitee für Zahnpflege in den Schulen“ fanden sich Vertreter beider Gruppierungen zusammen. Die Zahnärzteschaft arbeitete hier Seite an Seite mit Regierungsvertretern und rückte sogar – zumindest aus Sicht der Befürworter des Schulzahnkliniksystems – in die Rolle eines Protegés.
###more### ###title### Die unakademische Zeit der Zahnmedizin ist vorbei ###title### ###more###
Die unakademische Zeit der Zahnmedizin ist vorbei
Daneben lassen sich weitere, wenngleich nachrangige Motive ausmachen: So bot gerade die Reihenuntersuchung von Schulkindern die geeignete Plattform für umfassende epidemiologische Studien. Erst hierdurch wurden vermeintliche Kenntnisse über die Arten und die Verbreitung von Zahnkrankheiten auf eine solide wissenschaftliche Grundlage gestellt. Damit erhielt die deutsche Zahnheilkunde die Möglichkeit, ihrem von manchen Ärzten genährten Ruf als unakademisches und unwissenschaftliches – und damit der Medizin nachgeordnetes – Fach entgegenzutreten. Der wissenschaftliche Nachweis hoher Kariesfrequenzen unterstrich zudem die Berechtigung der zahnärztlichen Forderungen nach Reihenuntersuchung und -behandlung.
Eng verbunden mit dem Ausbau der Schulzahnpflege war im Übrigen die Forderung nach einer gebührenden Berücksichtigung der Zahnärzte im Heeressanitätswesen. So verwies die zahnärztliche Presse ausdrücklich auf den Zusammenhang zwischen Dentalprophylaxe und militärischem Leistungsvermögen: „In einem etwaigen Zukunftskriege kann in Bezug auf Zahnkrankheiten im Felde manches besser stehen als heute, wenn das Verständnis für die Notwendigkeit der Schulzahnpflege in die breiten Schichten des Volkes eingedrungen sein wird [...] In dem Maße, wie die Schuljugend unseres Volkes unter den Segen einer geordneten Zahnpflege kommt, werden sich in der Folge die Zahn krankheiten in Heer und Marine vermindern. Das gilt nicht nur für den Krieg, sondern auch für die Friedenszeit“ [Kehr, 1916].
Das Beispiel Schulzahnkliniken zeigt – ebenso wie die im vorigen Teil thematisierte Rolle der Zahnärztinnen in der Zahnmedizin – auf beispielhafte Weise, wie Themen in bestimmten Phasen für die Professionalisierung und das öffentliche Bild einer Berufsgruppe wichtig werden, um dann wieder an Relevanz zu verlieren – und umgekehrt: Während etwa die Zahnärztinnen in der Zahnheilkunde um 1900 noch als Marginalie angesehen und von ihren männlichen Kollegen vielfach belächelt wurden, prägen sie heute das Berufsbild der Zahnärzteschaft entscheidend. Demgegenüber mutet die für die Zeit nach 1900 nachweisliche herausragende gesundheitspolitische und berufsstrategische Bedeutung der Schulzahnkliniken heute fast anachronistisch an.
Die deutsche Zahnärzteschaft gilt längst als moderne Profession, die Zahnheilkunde ist anerkannter Bestandteil der Gesundheitsfürsorge, und an die Stelle von Schulzahnpflegestätten und -komitees sind bundes- und landesweit organisierte Einrichtungen getreten – namentlich die „Deutsche Arbeitsgemeinschaft für Jugendzahnpflege“ (DAJ) und die der DAJ angehörenden „Landesarbeitsgemeinschaften für Jugendzahnpflege“ (LAGen). Die 1949 in der Bundesrepublik (noch als „Deutscher Ausschuß für Jugendzahnpflege e. V.“) gegründete DAJ ist ein moderner Verband mit derzeit 40 Mitgliedsorganisationen, der sich die Erhaltung und Förderung der Zahn- und Mundgesundheit zum Ziel gesetzt hat und dessen Arbeit auf § 21 SGB V basiert. Unbeschadet der organisatorischen und strukturellen Unterschiede teilen diese mit den historischen Schulzahnpflegestätten und -komitees ein Ziel: die Förderung der Jugendzahnpflege.
Univ.-Prof. Dominik Groß
Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin, Medizinische Fakultät und Universitätsklinik der RWTH Aachen
dgross@ukaachen.de