„Das Projekt kommt vergleichsweise spät“
Herr Prof. Groß, wie sieht die inhaltliche Agenda für das Forschungsprojekt aus?
Ziel des Projekts ist die Analyse der Wissenschafts-, Verbandsund Berufspolitik der deutschen Zahnärzteschaft und ihrer Fachvertreter im „Dritten Reich“, aber auch in den Zeiträumen unmittelbar vor und nach der nationalsozialistischen Epoche. Daneben widmen wir uns gezielt den Zahnärzten, die aus politischen und rassischen Gründen verfolgt, vertrieben und/oder getötet geworden sind. Schließlich interessieren uns auch nachweisliche Formen zahnärztlicher Opposition im Nationalsozialismus.Wo steht denn die Zahnärzteschaft mit der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit im Vergleich zu anderen medizinischen Fachgruppen?
Um ehrlich zu sein: Das Projekt kommt vergleichsweise spät. Viele fachärztliche Organisationen haben in den vergangenen 25 Jahren die NS-Vergangenheit ihrer Berufsvertreter untersuchen lassen – zu den ersten Vertretern gehörten übrigens die Kinderärzte. Andere haben erst in den letzten Jahren ihre Ergebnisse präsentiert – so etwa die Psychiater und die Arbeitsmediziner – oder befinden sich noch mitten im Aufarbeitungsprozess, wie zum Beispiel die Kinderund Jugendpsychiater.
Wie auch immer: Das Forschungsprojekt „Zahnärzte im Nationalsozialismus“ hatte zwar einen langen Vorlauf, aber es ist nun da – und das ist, was zählt. Zudem finde ich es sehr begrüßenswert, dass es sich hierbei um eine „konzertierte Aktion“ von DGZMK, BZÄK und KZBV handelt – sicherlich eine vielversprechende Konstellation, auch in Sachen Außenwirkung.Wie umfangreich ist die Literatur zur Zahnärzteschaft im Nationalsozialismus?
Die Literatur ist sehr umfangreich und in weiten Teilen noch unbearbeitet. Das betrifft nicht nur die zeitgenössische Fachpresse und die wissenschaftliche Fachliteratur der Zeit, sondern auch (Auto)Biografien von zahnärztlichen Funktionseliten und zahnärztlichen Emigranten. Ich denke aber auch an Gutachten einzelner Arbeitsgemeinschaften der DGZMK, an wissenschaftliche Preisausschreibungen der Fachverbände oder an zahnmedizinische Promotionen – ein Quellenbestand, der bis heute nahezu unerforscht ist.Von besonderem Interesse sind amtliche Dokumente und vor allem Archivalien jedweder Art. Beispiele sind hier die Akten der Reichskanzlei Regierung Hitler, die Akten der Partei-Kanzlei der NSDAP und Unterlagen des Reichsministeriums des Innern, Akten des Bundesarchivs – Berlin Document Center, darunter die zentrale Mitgliederkartei der NSDAP und sonstige personale Akten, aber auch Entnazifizierungsakten und weitere personale Akten in Staats-/Landes-/Stadtund Universitätsarchiven, Akten der Erbgesundheitsgerichte, Ausschlusslisten der Krankenversicherungen, Akten zu Wiedergutmachungsverfahren et cetera.Wo sehen Sie die schwarzen Löcher, die noch nicht aufgearbeitet wurden?
Viele Themen wurden bisher allenfalls auf lokaler oder auf regionaler Ebene behandelt, nicht aber systematisch oder übergreifend. Das betrifft zum Beispiel die Rolle von Zahnmedizinern in den Konzentrationslagern, den Grad der zahnärztlichen Beteiligung am Erbgesundheitsgesetz beziehungsweise dessen Umsetzung und die Militärzahn¬medizin. Auch zur zahnärztlichen Lehre und Forschung im „Dritten Reich“ fehlen bisher systematische Untersuchungen. Dazu gehört auch die Frage nach rassenhygienischen beziehungsweise rassistischen/antisemitischen Aspekten in zahnärztlichen Lehrbüchern und nach politisch beziehungsweise rassenhygienisch motivierten Lehrplanänderungen. Gänzlich unbehandelt sind zudem die Vorund Nachgeschichte der zahnärztlichen Profession als auch die sich verändernde Ethik in der Zahnheilkunde infolge der politischen Zäsur von 1933.
Welche Folgen hat die Aufarbeitung für den Berufsstand?
Ich weiß, dass es insbesondere bei manchen Berufsvertretern die Sorge gibt, dass das Forschungsvorhaben diverse Verstrickungen von Zahnärzten in nationalsozialistische Verbrechen offenlegen und dadurch dem Image und Ansehen des zahnärztlichen Berufsstands schaden könnte.
Ich persönlich bin fest davon überzeugt, dass das Gegenteil eintreten wird: Ein solches Aufarbeitungsprojekt ist ein explizites Zeichen, dass die zahnärztliche Berufsgruppe über ihre fachlichen Aufgaben hinaus auch eine gesellschaftliche Verantwortung wahrnimmt – und dies sogar für die Vergangenheit. Die Beispiele anderer ärztlicher Fachdisziplinen – wie der Kinderärzte oder der Psychiater – haben gezeigt, dass eine solche Aufarbeitungsinitiative auf großen gesellschaftlichen Respekt stößt. So ist zum Beispiel Frank Schneider, der vor einigen Jahren als Präsident der „Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde“ (DGPPN) das Aufarbeitungsprojekt zu seinem Fachgebiet angestoßen hat, 2015 mit dem renommierten Preis „Gegen Vergessen – für Demokratie“ geehrt worden. Er steht damit in einer Reihe mit Johannes Rau oder Rafik Schami. Das mediale Echo auf die DGPPN-Initiative (wie auf viele andere Projekte anderer Fachärztegruppen) war fast ausnahmslos positiv. Mit anderen Worten: Nicht die Tatsache, dass es unbequeme beziehungsweise moralisch verwerfliche historische Wahrheiten gibt, bestimmt das Ansehen einer Berufsgruppe, sondern die Art und Weise, wie sie damit in der Öffentlichkeit umgeht. Von daher bin ich sicher, dass BZÄK, KZBV und DGZMK genau den richtigen Schritt getan haben.
DGZMK, BZÄK und KZBV haben einen mit 90.000 Euro geförderten Forschungsauftrag an ein interdisziplinäres Forscherkollektiv vergeben. Prof. Dominik Groß (RWTH Aachen) wird in zwei Jahren mit seinen Kollegen Dr. Matthis Krischel (Universität Düsseldorf) und Enno Schwanke (RWTH Aachen) eine systematische Analyse der Wissenschafts-, Verbands- und Berufspolitik und ihrer Protagonisten im Dritten Reich erstellen. Eine Reihe in den zm folgt.