Der Affenbehandler
Im vergangenen Jahr habe ich meine Zahnarztpraxis veräußert und wurde von vielen langjährigen Patienten nach meinen Plänen für die Zukunft gefragt – unter anderen vom Hamburger Unternehmer Sebastian Louis. Er bat mich, ihn nach Chimfunshi zu begleiten. Louis ist Vorstandsvorsitzender des „Chimfunshi Wildlife Orphanage Trust“ in Sambia und von „Chimfunshi e. V.“ in Deutschland, die das mit 4.200 Hektar weltweit größte Schimpansenwaisenhaus mit rund 130 Schimpansen unterhalten. Ich äußerte den Wunsch, während meines Aufenthalts nicht nur unsere nächsten Verwandten – die Schimpansen –, sondern vor allem die dortige Dorfbevölkerung, bestehend aus ungefähr 70 Familien mit annähernd 150 Kindern, zahnmedizinisch zu versorgen.
Nur fünf Prozent der Kinder hatten eine Zahnbürste
Im Oktober 2015 ging ich gemeinsam mit Louis und diversen zahnmedizinischen Geräten im Gepäck auf die Reise nach Chimfunshi, dem sogenannten Copperbelt, einem großen Gebiet am Kafue River im Norden Sambias an der Grenze zum Kongo. Den ersten Tag begannen wir mit einem kleinen Workshop in der dortigen Schule. Die Lehrer übersetzten vom Englischen ins Bemba, der dort vorherrschenden Sprache. Auf die Frage, wer eine Zahnbürste besitzt, meldeten sich sechs von 130 Kindern. Dann wurde über den richtigen Umgang mit Zahnbürste und Zahnpasta gesprochen. Die anschließende Befundaufnahme fand unter freiem Himmel auf dem Schulhof statt. Nach drei Tagen hatten wir alle Kindermünder begutachtet und zum Großteil auch deren Zähne gesäubert. Zum Dank gaben wir leuchtende Zahnbürsten aus.
Das Chimfunshi-Projekt
Infrastruktur
Auf dem Gelände von Chimfunshi befindet sich eine Auffangstation mit fünf großen Freigehegen für die Schimpansen sowie fünf Dörfer, in denen die Chimfunshi-Mitarbeiter mit ihren Familien leben – darüber hinaus eine Schule, eine Krankenstation und das Education Center, Treffpunkt für Forscher, Studenten, Schulklassen und Touristen.
Im Gegensatz zu den meisten anderen Auffangstationen kommen Schimpansen in Chimfunshi nur für Fütterungen und ärztliche Untersuchungen in die Käfige und leben ansonsten wie wild lebende Artgenossen in freier Natur, wo sie in Nestern in Bäumen schlafen.
So bietet die Auffangstation die einzigartige Möglichkeit, das komplexe Sozialverhalten von Schimpansen in ihrem nahezu natürlichen Lebensraum und in intakten Familiengruppen zu beobachten und gilt deshalb als international anerkanntes Bildungs- und Forschungszentrum, primär für Primatenforscher aus aller Welt.
Mit großer Freude stellten wir fest, dass durch den fehlenden Zuckerkonsum und die gesunde Ernährung kaum Zahnschäden vorhanden waren. Nachdem die Behandlung der Kinder abgeschlossen war, standen schon die Erwachsenen vor der Tür. Auch sie wollten in den Besitz von Zahnbürste und Zahnpasta gelangen, hatten aber auch Schmerzen und massiven Behandlungsbedarf, so dass ich in fünf Tagen circa 50 Zähne extrahieren musste.
Betäubung per Dartpfeil
Kurz vor der Abreise sollte ein Schimpanse namens George behandelt werden. Der Befund: eine Fistel regio 21. Eine Extraktion war unumgänglich. Wir begannen die Behandlung, indem die Wärter den Schimpansen mit einem Dartpfeil betäubten. Darin steckte die Anästhesiespritze. Nach eingehender Prüfung – Affen können in so einer Situation sehr aggressiv sein – wurde unter Lokalanästhesie die Extraktion vorgenommen. Da Schimpansen zu 98 Prozent identische Gene mit uns Menschen haben und auch denselben Zahnstatus aufweisen, war die eigentliche Behandlung das geringste Problem. Der maßgebliche Unterschied zeigt sich an den Eckzähnen, die mit bis zu 50 Millimeter deutlich größer und länger sind.
Nach zwölf Tagen Aufenthalt wurde mir klar, dass eine zweite Projektphase folgen müsste. Bei einigen Patienten war der Bedarf für aufwendigere Behandlungen gegeben. Daher brach ich im April 2016 mit meiner Frau und meiner Tochter erneut nach Chimfunshi auf.
Das Chimfunshi-Projekt
Konzept
Chimfunshi Wildlife Orphanage Trust und Chimfunshi e.V. haben es sich zum Ziel gesetzt, das für die Umwelt wichtige Areal im Rahmen eines ganzheitlichen Konzepts zu erhalten und auszubauen. Dies umfasst den Artenschutz – denn Schimpansen sind vom Aussterben bedroht und bekommen auf Chimfunshi ein Zuhause – sowie den Naturschutz mit dem Ziel der Erhaltung der einheimischen Flora und Fauna. Schließlich sind die Erhaltung und die Förderung der Dorfgemeinschaft sowie Bildungs- und Weiterbildungsmaßnahmen für die Einheimischen essenzieller Teil des Konzepts. Interessierte Zahnärzte können den Verein bezüglich eines Einsatzes kontaktieren.
Spendenkonto:CHIMFUNSHI – Verein zum Schutz bedrohter Umwelt e. V.Hamburger SparkasseBIC: HASPDEHHXXXIBAN: DE04200505501213121245
www.chimfunshi.de
Im Gepäck hatten wir neben von GABA gesponsorten Bürsten und Pasten, eine mobile Dentaleinheit von der Flüchtlingsunterkunft am Olympiastadion und Materialien für annähernd alle zahnärztlichen Behandlungen. Die Behandlung fand diesmal nicht unter freiem Himmel statt, sondern im Education Center. Als Patientensitzgelegenheit diente ein Campingstuhl, der Strom für die Dentaleinheit wurde über Solarpanels erzeugt, so dass bei Sonnenschein annähernd professionell gearbeitet werden konnte. Rasch bildeten sich Schlangen von behandlungswilligen Kindern, was wohl eher an den Präsenten als an meiner Behandlung lag. Nach fünf Tagen waren alle Kinder und das Gros der Erwachsenen zahnmedizinisch befundet und behandelt.
Behandlung mit Countdown
Wurzelkanalbehandlungen bei den beiden Schimpansen Choco und Günther krönten meinen Besuch. Nachdem die Tiere durch ein Dartgewehr betäubt waren, hatten wir genau 20 Minuten, um zu behandeln. Ein Helfer zählte die Uhr runter. Die endodontologischen Behandlungen wurden an abgebrochenen Eckzähnen exakt so wie in der Praxis durchgeführt, mit der Ausnahme, dass kein Kofferdam gelegt wurde. Mit einer Füllung aus Ketac Fil wurde die Behandlung pünktlich abgeschlossen.
„Thank you doctor“
Der Aufenthalt in Chimfunshi hat uns alle sehr erfüllt. Für einen kurzen Zeitraum durften wir Teil einer sehr herzlichen und gut funktionierenden Dorfgemeinschaft sein. Die Bewohner sind trotz der einfachen Umstände mit dem Leben in den Hütten und Häusern ohne Strom und fließendes Wasser sehr zufrieden. Diesen dankbaren Menschen und aufregenden Tieren im vielfältigen Sambia helfen zu können, bereitet Freude. Mir bleibt besonders der Dank eines Landarbeiters in Erinnerung, der mit starken Zahnschmerzen acht Kilometer zu Fuß zur Behandlung kam. Nach der Extraktion lief er die acht Kilometer wieder nach Hause und am nächsten Tag erneut die acht Kilometer zu uns, nur um sich zu bedanken: „Thank you doctor, good doctor, I can sleep now.“
Dr. Mathias Gnauert