Brauchen wir für alles und jedes Leitlinien?
Die Antwort ist simpel: Die Wissenschaft hat sich bisher um dieses Thema – zumindest in den USA – kaum gekümmert. Die aus meiner Sicht einzig richtige Schlagzeile kann daher nur lauten: „Medizinisches Denken nutzlos!“. Die Absurdität ist nicht zu übertreffen. Muss heutzutage wirklich alles erst durch eine ein Experiment darstellende Studie bewiesen werden? Fast alle chronisch-entzündlichen Erkrankungen sind multikausal bzw. multifaktoriell und systemisch bedingt. Das ist in einer Studie, die immer nur linear, d.h. unikausal angelegt sein kann, gar nicht darstellbar.
Das Problem aber ist viel größer und findet sich in der uns heute prägenden Leitlinienmedizin, die aber gemäß eines Urteils des Bundesgerichtshofes juristisch nicht bindend ist. Wörtlich heißt es sogar: „Die Anwendung nicht allgemein anerkannter Therapieformen und sogar ausgesprochen paraärztlicher Behandlungsformen ist grundsätzlich erlaubt.“
Es kann dahingestellt bleiben, ob dies schon deswegen der Fall sein muss, weil sich eine Beschränkung der Methodenfreiheit aus Rechtsgründen als Hemmnis medizinischen Fortschritts bzw. als Stillstand der Medizin darstellen würde. Jedenfalls aber folgt dies aus dem Selbstbestimmungsrecht eines um die Tragweite seiner Entscheidung wissenden Patienten. Denn da dieser das Recht hat, jede nicht gegen die guten Sitten verstoßende Behandlungsmethode zu wählen, kann aus dem Umstand, dass der Heilbehandler den Bereich der Schulmedizin verlassen hat, nicht von vornherein auf einen Behandlungsfehler geschlossen werden. (BGH NJW. 1991, 1536, BGH St 37, 385, 387). In der täglichen Rechtspraxis der allermeisten Gutachter und Richter müssen heute etwaig existierende Leitlinien aber leider als maßgebendes Faktum für ihre Urteilsfindung angesehen werden.
Therapiefreiheit wird ins Abseits gedrängt
Woher kommt diese Entwicklung? Auf der Suche nach hundertprozentiger Sicherheit für den Patienten – aber auch für den verunsicherten Mediziner – ist man auf die „quasi verbindlichen“ Leitlinien gekommen. Sähe man diese Leitlinien nicht als mehr oder weniger verbindlich an, bräuchte man sie nicht zu entwickeln, denn ein Blick in die Lehrbücher plus eigenständiges medizinisches Denken müsste eigentlich genügen. Das wäre dann übrigens auch die durch die Leitlinienmedizin immer mehr ins Abseits gedrängte Therapiefreiheit für Arzt und Patient. Stünde es den deutschen Lehrstuhlinhabern nicht sehr viel besser an, sich um wirkliche Weiter- oder Fortentwicklung unserer Zahnmedizin wie z.B. eine wirkliche Reintegration in die Medizin zu kümmern? Das wäre zum Beispiel der Fall, wenn man sich um die physiologischen, pathophysiologischen, toxikologischen und immunologischen Auswirkungen bzw. Folgen unserer Arbeit in der Mundhöhle für die allgemeine organische Gesundheit unserer Patienten bemühen würde. Stattdessen werden immer irgendwelche neuen Arbeitskreise gegründet, deren „Arbeit“ dann durch das Herausbringen von irgendwelchen Leitlinien dokumentiert werden soll. So entstehen dann z.B. brandneue Erkenntnisse bezüglich der operativen Entfernung von Weisheitszähnen oder bezüglich von Wurzelspitzenresektionen. Das Gleiche gilt u. a. für festsitzenden Zahnersatz und die so revolutionären Fissurenversiegelungen. Natürlich freuen sich auch die Herstellerfirmen von Behandlungseinheiten und von Zusatzgeräten über die Leitlinie für die hygienischen Anforderungen an das Wasser in zahnärztlichen Behandlungseinheiten von 2015. Was haben wir nur ohne diese Leitlinie bis dahin in unseren Praxen gemacht?
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Was „evidence“ mit kompromisslich zu tun hat
Wer fühlt sich berufen, Leitlinien herauszugeben? Lehrstuhlinhaber, Kammern, Behörden, medizinische Fachgesellschaften, Kommissionen und Institutionen, kurz: Bürokraten. Ganz abgesehen davon, dass es hier immer zu Kompromissen in der Entscheidungsfindung kommt, also immer eine „kompromissliche“ Medizin empfohlen werden muss, ist die Frage zu stellen, ob hier wirklich immer die Expertise einer täglichen praktischen therapeutischen Arbeit zu erwarten ist. Hinzu kommt die fachliche Besetzung solcher Gremien. Immer wieder maßgebend ist die sogenannte „Evidence-Based-Medicine“. Entscheidend für die Einordnung solcher „evidences“ ist die Cochrane Collaboration. Übrigens war Archibald Cochrane Epidemiologe – weit weg von täglich praktizierter Medizin. Hier wird aber heute darüber entschieden, was für die alltäglichen Therapien (nicht epidemiologische Theorien!) als „evidence“ zu werten ist und was nicht. Typisch für das Deutsche Cochrane Zentrum ist die Zusammensetzung des Teams. Direktor ist ein Prof. Dr. rer. nat. Gerd Antes, ein ehemaliger Mathematik- und Physiklehrer. Vertreten wird er allerdings durch den einzigen Mediziner in diesem hochkarätigen Team, PD Dr. med Jörg Meerpohl. Die weiteren Mitglieder sind Vertreter von klassischer Archäologie, Kunstgeschichte, alter Geschichte, Biologie, Pharmazie, Ernährungswissenschaft, Physiotherapie, Pflegewissenschaft, Optometrie, öffentlichem Gesundheitswesen, Adipositastraining und sogenannter medizinischer Wissenschaft. Das scheint ein für die Medizin und Zahnmedizin beneidenswert kompetentes Team zu sein. Dieses Team klassifiziert die „evidences“ von 1a bis 4. Es werden sogenannte Metaanalysen vorgenommen, in denen es per definitionem nur um quantitative und nicht um qualitative Vergleiche von Studiendaten geht. Wie soll ein solches Gremium aus Nichtmedizinern auch qualitative Vergleiche anstellen? Dann geht es für die Wertigkeit von medizinischen Studien darum, ob diese Studien „gut angelegt“ sind. Kann dieses sich medizinisch- therapeutisch auswirkende Problem eine Archäologin, die sich mit alter Geschichte auskennt, wirklich beurteilen. Weiter geht es um Expertenmeinungen. Wer aber entscheidet über die medizinische Kompetenz dieser Experten, ein Mathematiklehrer?
IQWiG, IQTiG, SQG, BQS, APS, KTR, DBEbM, AWMF...
Es wimmelt in Deutschland neben Kammern geradezu von Leitlinien-beeinflussenden Institutionen: Das IQWiG (Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen), das IQTIG (Institut für Qualitätssicherung und Transparenz im Gesundheitswesen, die SQG (Sektorenübergreifende Qualität im Gesundheitswesen), das BQS (Institut für Qualitätsmanagement in der Gesundheitsforschung), das APS (Aktionsbündnis für Patientensicherheit), die KTR (Kooperation für Transparenz und Qualität im Gesundheitswesen) unter der Leitung der Pflegewirtin Gesine Dannenmeier, das DNEbM (Deutsches Netzwerk Evidenzbasierte Medizin), die AWMF (Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften), die AKdÄ (Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft) usw.
Bei unserer immer belasteteren Umwelt ist es dann allerdings mehr als verwunderlich, dass es in dieser Leitlinien durchtränkten Schul- oder Main-Stream-Medizin immer noch keine Leitlinien für multiple toxische Belastungen gibt. Unsere ach so durchorganisierte Leitlinienmedizin zählt die Belastungen auch heute noch lediglich einzeln auf, ohne ihre Interaktionen zu berücksichtigen. Ist z.B. ein Patient von einem Toxikum nur zu 80 Prozent des Grenzwertes belastet, so hat er gefälligst gesund zu sein. Ob er jung oder alt, gesund oder gebrechlich, Mann oder Frau ist oder ob er aufgrund seiner genetischen Verfassung in Bezug auf seine Detoxifikationskapazität einen von der Norm abweichenden Polymorphismus aufweist, ist unerheblich. Ist er aber von 20 Toxika zu jeweils 80 Prozent der entsprechenden Grenzwerte belastet, so hat er gefälligst auch gesund zu sein. Andernfalls muss sein Leiden psychosomatischer Natur sein – unter dem Motto: Wo das Wissen der Ärzte aufhört, muss wohl der Patient ein Fall für die Psychiatrie sein. Solche Fälle lassen sich für unsere Main-Stream-Medizin massenhaft aufführen. Handelt dann ein Arzt nach bestem Wissen und Gewissen außerhalb der Leitlinien, steht er forensisch auf unsicheren Füßen.
Hygieneleitlinie – da hilft nur noch Ironie
Glücklicherweise gibt es bisher in der Zahnmedizin weniger Qualitäts- und Leitlinien-orientierte Einrichtungen, aber das ZZQ (Zentrum Zahnärztliche Qualität) und die DGZMK (Deutsche Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde) mit 40 (in Worten vierzig) Fachgruppierungen reichen auch, um die Zahnärzte an die Leine zu nehmen. So gibt es Leitlinien für Periimplantitiden, für dentale Traumen, für die Instrumentelle Funktionsanalyse, für hygienische Anforderungen an das Wasser in unseren Behandlungseinheiten (was haben wir nur an schwersten Infektionen produziert als es diese Leitlinie noch nicht gab (Ironie aus)), für vollkeramische Kronen und Brücken, für die DVT, für die Implantologie im zahnlosen Oberkiefer (was machen die armen Implantologen nur ohne Leitlinien für den teilbezahnten Oberkiefer?), für Fluoridierungen (trotz gegenteiliger Meinung einiger wegen der Fluorosegefahr besorgter Pädiater), für Fissuren und Grübchenversiegelungen, für chirurgische Weisheitszahnentfernungen, für festsitzenden Zahnersatz, für Wurzelspitzenresektionen usw. Und schlussendlich gibt es Gott sei Dank auch bei uns in der Zahnmedizin eine Leitlinie für den „Umgang mit Patienten mit nicht-spezifischen funktionellen und somatoformen Körperbeschwerden“ (siehe oben Toxikologie). Eine generelle Leitlinie für die Füllungstherapie bei kariösen Läsionen war übrigens nicht zu finden, und so können wir unsere Patienten weiterhin mit Amalgamfüllungen traktieren. Es gibt laut akademischer deutscher Zahnmedizin ja keine gegenteiligen Erkenntnisse, obwohl bei Google auf die Eingabe „Kritik an Amalgam“ in 0,30 Sek. 66200 Ergebnisse gefunden werden.
Zahnseide? Einfach mal den Zahnarzt fragen...
Generell sollten wir uns die Frage stellen, ob wir die Abhängigkeiten von dieser Leitlinienmedizin tatsächlich wollen, und ob die sich daraus ergebenden therapeutischen Restriktionen wirklich im Sinne der Patienten sind. Sollen sich die Ärzte- und Zahnärzteschaft sowie ihre Patienten die Therapien von Mathematiklehrern, von Biologen, Archäologen, Ernährungswissenschaftlern, Physiotherapeuten, Pflegewissenschaftlern, Optometristen und Adipositastrainern diktieren lassen? Um mit Schillers Maria Stuart zu sprechen: Sind das unsere Peers? Ist die Gewissenhaftigkeit des (Zahn-)Arztes und das Vertrauen der Patienten nicht viel wichtiger? Ist die so oft gelobte Therapiefreiheit heute überhaupt noch präsent? Überlassen wir doch bitte die Diskussion um den Einsatz von Zahnseide und alles Weitere in unserer Zahnmedizin der Kompetenz der approbierten Kollegen und dem vertrauensvollen Gespräch zwischen Zahnarzt und Patient.
Dr. medic-stom/RU Martin F.H.K. KlehmetStomatologie, Ganzheitliche UmweltZahnMedizin (compatible dentistry)Emslandstr. 9, 28259 Bremen-Grolland