Bohrst du noch oder kratzt du schon? Zahnmedizin 2.0
Der Begriff wurde von dem Wissenschaftsphilosophen Kuhn geprägt und stammt noch aus den Tiefen der „analogen“ Zeit. Die digitale Welt denkt gern in Software-Versionsnummern, zunehmend auch in Versionsnummern von Gedanken, Konzepten und Strukturen: Science 2.0, Web 3.0. Eine schöne Analogie, die viel mehr Unterscheidungsmerkmale bietet als der dichotome Paradigmenwechsel. Die Hauptversionsnummer – links vom Punkt – erhöht sich nur mit besonders signifikanten Veränderungen, die Nebenversionsnummer bezeichnet Erweiterungen im Funktionsumfang.
Auch wenn Nebenversionsnummern selten für wissenschaftliche Disziplinen genutzt werden, so ließen sich doch Beispiele in der Zahnmedizin finden. Keramische Versorgungen oder die minimalinvasiven Konzepte würden sich in der Nebenversionsnummer ausdrücken müssen, denn das Grundprogramm der „Reparatur“ bleibt.
Was also könnte in der Zahnmedizin eine Hauptversionsnummer „2“ rechtfertigen? Fragen wir die Kassenzahnärztliche Bundesvereinigung. In ihrer „Agenda Mundgesundheit“ aus dem Jahr 2012 wird beschrieben, dass die Zahnmedizin auf dem Weg ist, sich „weg von der rein kurativen hin zur überwiegend präventiven Betreuung“ ihrer Patienten zu bewegen. Wenige werden diesen Satz gelesen haben, und für die, die ihn gelesen haben, mag er kaum mehr als vage Zukunftsmusik gewesen sein.
Vage ist da gar nichts mehr, denn die Zahlen sprechen eine immer deutlichere Sprache: Deutschland ist dabei, sich an die Weltspitze bei den präventiven Erfolgen in der Zahnmedizin zu setzen. Jetzt werden viele sagen, ist doch schön für unsere Patienten, wenn Deutschland Weltmeister in der Prävention ist.
"Prävention ist aber kein Add-on!"
Dieses Grundmissverständnis begleitet die präventive Zahnmedizin seit ihren wissenschaftlichen Anfängen: Prävention ist schön für die Patienten, aber sie hat nichts mit der „richtigen“ Zahnmedizin, der Reparatur zu tun. Prävention ist aber kein Add-on. Wenn sie gut gemacht wird – und sie wird in Deutschland inzwischen wirklich gut gemacht –, dann verdrängt sie die „richtige“ Zahnmedizin. Alles Unsinn? Die GKV-Abrechnungszahlen sprechen eine klare Sprache: Seit 1991 machen wir 41 Prozent weniger Füllungen und entfernen 25 Prozent weniger Zähne – und das trotz unserer dramatischen Demografie. Denn im Keine-Kinder-Bekommen sind wir leider auch Weltmeister.
Die USA beschreiben eine ähnliche Situation – 40 Prozent der amerikanischen Kollegen sind nicht mehr ausgelastet –, aber die USA haben auch einen besonderen Fehler gemacht. Bereits mit der Gründung der ersten DH-Schule im Jahr 1913 hat man dort aus Desinteresse heraus zugelassen, dass sich die Dentalhygiene in einer Parallelwelt entwickelt.
Wir haben diesen Fehler nicht gemacht, wenngleich eher aus Zufall als aus höherer Einsicht, aber inzwischen wird immer offenkundiger, dass wir die Prävention zwar gerne in unseren Praxen haben, jedoch wenig tun, um diesen Anspruch nach außen zu begründen. Je klarer die Erfolge werden, um so mehr wird man uns fragen, wo eigentlich unser Beitrag ist. Zahnmedizin 2.0 heißt „Prävention und Paro sind die neue Karies“, und diesem Schwenk müssen wir uns mit aller Kraft stellen. Minderwertigkeitsgefühle sind nicht angebracht, denn es gibt keine Evidenz dafür, dass „Bohren“ akademischer wäre als „Kratzen“.
Vielleicht noch ein Impuls aus Frankreich: Dort dürfen im Mund nur Zahnärzte arbeiten. Ein Parodontologe aus Nantes erklärte mir kürzlich, dass Kollegen, die die Begriffe „Parodontologie“ oder „Prävention“ nach außen tragen, auf Monate ausgebucht seien. Deutschland braucht einen Mittelweg zwischen den USA und Frankreich, dann aber bitte mit mehr Elan. Eine Analogie zur Software trifft auf die Zahnmedizin nämlich leider nicht zu: Man kann eine neue „Version“ nicht einfach auslassen.
Mit freundlichen Grüßen
Prof. Dr. Christoph BenzVizepräsident der Bundeszahnärztekammer