Wie nachhaltig sind Individual- und Gruppenprophylaxe?
In den frühen 1980er-Jahren waren lediglich 1,6 Prozent der 13- und 14-jährigen Jugendlichen in Deutschland kariesfrei und die mittlere Karieslast lag in dieser Altersgruppe bei 10,8 DMF-Zähnen [Naujoks, 1985]. Eine eigentlich unvorstellbare Zahl angesichts der Annahme, dass kurz nach Abschluss der zweiten Wechselgebissphase lediglich acht Zähne für Karies im Risiko stehen – nämlich die Molaren. Seit der Einführung der Gruppen- und Individualprophylaxe 1988 kann in Kariesstudien bei Kindern ein kontinuierlicher Kariesrückgang festgestellt werden, sodass in der aktuellen DMS V bei den 12-Jährigen lediglich noch durchschnittlich 0,5 DMF-Zähne gemessen wurden. Gleichzeitig hat der Anteil kariesfreier Kinder kontinuierlich zugenommen; er beträgt jetzt 81,3 Prozent [Schiffner, 2016]. Diese zweifellose Erfolgsgeschichte der zahnmedizinischen Prävention ist seit Jahren das epidemiologische Sinnbild des sogenannten Paradigmenwechsels in der Zahnmedizin von der Versorgung zur Vorsorge.
Aber sollten die Ergebnisse kontinuierlicher Präventionsarbeit auf individueller, Gruppen- und kollektiver Ebene nicht länger anhalten als bis ans Ende der Kindheit? Aus den DMS IV-Ergebnissen durfte man daran noch zweifeln, denn die 15-jährigen Jugendlichen wiesen bereits mehr als doppelt so viele Zähne mit einer Karies- erfahrung auf als die 12-Jährigen. Unter Karieserfahrung wird die Gesamtheit der durch Karies oder Kariesfolgen (Füllungen oder andere Restaurationen, Zahnverluste) betroffenen Zähne eines Gebisses verstanden (gemessen am DMFT-Index). Auch der Anteil kariesfreier Gebisse hatte sich in wenigen Lebensjahren fast halbiert.
Bei der DMS V lohnt der Blick auf die jüngeren Erwachsenen (35- bis 44-Jährige) ganz besonders, da sie die erste erwachsene Alterskohorte in einer DMS-Studie ist, die in ihrer Kindheit zumindest teilweise schon von der damals neu eingeführten Individual- und Gruppenprophylaxe profitiert hat. Die Karieserfahrung zeigte sich in dieser Altersgruppe in Westdeutschland bis in die 1990er-Jahre ausgesprochen stabil und lag bei 16 bis 17 DMF-Zähnen [Micheelis, 1991] – erst in der DMS IV von 2005 wurde ein leichter Rückgang auf 14,5 DMF-Zähne registriert.
Kariesrückgang auch bei Erwachsenen
In der aktuellen DMS V ist der Rückgang nun doppel so stark ausgeprägt, sodass durchschnittlich nur noch 11,2 Zähne bei den jüngeren Erwachsenen eine Karies- erfahrung aufweisen. Damit verstetigt sich der Trend eines Kariesrückgangs nun auch erstmals bei Erwachsenen. Der allgemeine Kariesrückgang ist sogar so stark, dass zum ersten Mal auch ein – zwar auf niedrigem Niveau – nennenswerter Anteil in dieser Altersgruppe kariesfrei war, nämlich 2,5 Prozent. Besonders die Anzahl der Zähne mit Füllungen hat sich von 11,7 (DMS III und DMS IV) auf 8,6 (DMS V) bemerkenswert reduziert. Zwar ist der DMFT der Index zur epidemiologischen Charakterisierung von Karies, aus versorgungsepidemiologischer Sicht stößt er allerdings auf seine Grenzen, da er sich im Laufe des Lebens immer nur in eine Richtung entwickeln kann: nach oben. Ein restaurierter Zahn hat jedoch in der Regel die gleiche Funktionalität wie ein primär gesunder Zahn. So setzt sich der DMFT- Index qualitativ gesehen aus ganz verschiedenen Entitäten zusammen, die nur indirekt miteinander vergleichbar sind: ein kariöser, unbehandelter Zahn (DT) kann häufig im Rahmen einer Behandlung wieder in den Zustand der Funktionstüchtigkeit gebracht werden, was bei einem fehlenden Zahn (MT) nicht mehr möglich ist. Er kann allenfalls durch eine künstliche Zahneinheit ersetzt werden.
So fasst der DMFT ganz unterschiedliche Erkrankungsstadien mit völlig unterschiedlichen therapeutischen Konsequenzen zusammen. Um diesem Umstand Rechnung zu tragen, wurde – quasi komplementär – der sogenannte FST-Index entwickelt [Sheiham, 1987]. Er gibt die Anzahl primär gesunder (sound teeth, ST) und restaurierter Zähne (filled teeth, FT) wieder. Bei den jüngeren Erwachsenen in der DMS V wurden durchschnittlich 25,4 FST-Zähne (bezogen auf 28 Zähne), also primär gesunde oder restaurierte und damit funktionstüchtige Zähne, festgestellt. Das ist insofern ein bemerkenswertes Ergebnis, als sich diese Anzahl funktionstüchtiger Zähne am entsprechenden DMFT-Wert von 11,2 kaum erkennen lässt. Der mittlere FST-Wert zeigte übrigens bei den jüngeren Erwachsenen weder hinsichtlich des Geschlechts noch hinsichtlich des Regionalraums (West und Ost) signifikante Unterschiede. Beim DMFT allerdings zeigt der Vergleich durchaus statistisch signifikante Unterschiede auf.
Zunahme des Mundgesundheitsbewusstseins
Welche Hinweise gibt es also darauf, dass der Rückgang der Karieserfahrung bei den jüngeren Erwachsenen auch ein Ergebnis von früh einsetzenden Präventionsmaß- nahmen, beispielsweise durch Individual- und Gruppenprophylaxe in der Kindheit und im Jugendalter, ist? Beispielhaft lässt sich ein gesellschaftlich gestiegenes Bewusstsein für die eigene Mundgesundheit (dental awareness) an der Entwicklung eingesetzter Mundhygienehilfsmittel erkennen. In der DMS III gaben nur 15,0 Prozent der jüngeren Erwachsenen an, eine elektrische Zahnbürste zu benutzen; aktuell sind es 47,1 Prozent. Auch der Gebrauch von Zahnseide (von 25,1 Prozent auf 48,3 Prozent) und der von Mundspüllösungen (von 24,2 Prozent auf 36,1 Prozent) sind erkennbar angestiegen. Werden diese effektiv genutzt, sollte sich eine verbesserte regelmäßige Plaquekontrolle sowohl in einer geringeren Karieslast und auch einer geringeren Parodontitislast, mindestens aber in einer geringeren Gingivitisausprägung zeigen.
In der DMS V lassen sich solche Zusammenhänge tatsächlich erkennen: Studienteilnehmer mit einer vergleichsweise geringen Karieserfahrung (DMFT 13) hatten weniger Zahnfleischbluten (BOP 23,0 Prozent) und weniger Attachmentverluste (mittleres Attachmentlevel: 2,5 mm) als Personen mit hoher Karieserfahrung (DMFT 20). Hier lag der BOP durchschnittlich bei 50,9 Prozent und das mittlere Attachmentlevel betrug 3,5 mm.
Info
Ätiologie der Karies
Die heute noch vielfach zitierte Theorie der chemisch-parasitären Kariesentstehung geht auf Miller (1890) zurück, der zeigte, dass orale Mikroorganismen niedermolekulare Kohlenhydrate metabolisieren und die dabei entstehenden organischen Säuren eine entscheidende Rolle bei der Kariesentstehung spielen.
Diese zweifellos herausragende wissenschaftliche Erkenntnis gipfelte allerdings in der Folgezeit in einem sehr vereinfachten Verständnis der Kariesätiologie, die beinahe den Charakter einer klassischen Infektionserkrankung annahm und nur einen Übeltäter kannte: Streptococcus mutans. Noch ein Jahrhundert später stellte ein einfaches Kariesmodell vier wesentliche Faktoren eines multifaktoriellen Geschehens in den Vordergrund: Wirt, Mikroorganismus, Substrat und Zeit. Diese bekannte Darstellung findet sich auch heute noch regelmäßig in Lehrbüchern, Dissertationen und Vorträgen wieder – und ist kaum in der Lage, die Epidemiologie der Karies zu erklären, wie sie bei Kindern in Deutschland und in anderen Ländern seit Jahrzehnten beobachtet wird. Allein die pathogenetischen Mechanismen im Auge zu haben, reicht nicht aus, um die enorme Morbiditätsdynamik der Karies in den zurückliegenden Jahren zu erklären.
Neben häuslichen Präventionsmaßnahmen kommen auch die professionellen Angebote in Betracht: eine grundsätzlich kontroll- orientierte Inanspruchnahme des Zahnarztes mit dem Ziel der Früherkennung sowie die individualprophylaktische Gesundheitsversorgung in Form der Wahrnehmung regelmäßiger professioneller Zahnreinigungen. Die DMS V weist für die Gruppe der jüngeren Erwachsenen, die regelmäßig zur professionellen Zahnreinigung (PZR) geht, eine signifikant geringere Karieserfahrung (-0,6 Zähne) auf als für die Personen ohne regelmäßige PZR. Dieser Effekt nimmt im Laufe des Lebens zu und beträgt bei den jüngeren Senioren fast 3 Zähne. Auf der anderen Seite zeigen sich zu diesem Zeitpunkt noch keine signifikanten Auswirkungen eines kontrollorientierten Inanspruchnahmemusters zahnärztlicher Dienstleistungen auf die Karieserfahrung. Durchschnit-tlich 11,4 DMF-Zähne bei beschwerden- orientiertem versus 11,2 bei kontrollorientiertem Inanspruchnahmeverhalten. Wie bei vielen chronischen Erkrankungen zeigt sich auch bei der Zahnkaries ein sozialer Gradient, der weniger für Merkmale wie Einkommen oder die Stellung im Beruf auffällig ist, aber bei der Schulbildung deutlich wird: Erwachsene mit einem hohen Schulabschluss haben im Durchschnitt 2,3 Zähne weniger mit einer Karieserfahrung als bei niedrigerer Schulbildung [Geyer, 2016].
Nicht alle profitieren vom Verständniswandel
Inwiefern sich die Einführung der Individual- und Gruppenprophylaxe Ende der 1980er-Jahre noch direkt auf die verbesserte Mundgesundheit bei den Erwachsenen ausgewirkt hat, lässt sich im Rahmen dieser Querschnittsstudie nicht wirklich klären. Die Hinweise, dass ein grundsätzliches Umdenken in der Zahnmedizin – von einem eher mechanistischen Verständnis in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hin zu einem biopsychosozialen Krankheitsverständnis – sich neuerdings in breiten Bevölkerungsschichten auch epidemiologisch messbar auswirkt, sind offensichtlich. Ein breiter Rückgang von Erkrankungslasten auf Bevölkerungsebene offenbart aber schon das nächste Themenfeld: soziale Ungleichheiten. Von Gesundheitsgewinnen profitieren nicht alle gesellschaftlichen Schichten gleichermaßen. Im Falle der Karies ist dies bekannt und wird als Kariespolarisation bezeichnet. Inwiefern diese Polarisation auch bei der Parodontitis offenbar wird, davon berichtet der kommende Beitrag in der nächsten zm.
Priv.-Doz. Dr. med. dent. A. Rainer Jordan, MSc., Wissenschaftlicher Direktor
Institut der Deutschen Zahnärzte (IDZ)
Universitätsstraße 73, D-50931 Köln
Serie
DMS V im Fokus
Die mannigfaltigen Ergebnisse der aktuellen Deutschen Mundgesundheitsstudie (DMS V) aus diesem Jahr sind es wert, dass man sie einer näheren Betrachtung unterzieht.
Daher beginnt mit diesem Heft eine Artikelserie zu nachfolgenden Schwerpunktthemen der DMS V:Parodontitis, Morbiditätskompression, Pflegebedürftige, Schwerbehinderte, Molaren-Inzisiven-Hypomineralisation, die Entwicklung häuslicher Mundhygiene sowie präventionsorientierte Inanspruchnahmemuster.